Love sex – Hate sexism
Gesendet: Mittwoch, 05. September 2018 um 20:30 Uhr
Von: b.@b.de
An: s.@s.de
Betreff: #metoo
Liebe Silke,
erinnerst du dich noch an die Zeit, in der ich dir regelmäßig davon
erzählte, dass mich meine Arbeit am Theater doppelt müde macht?
Doppelt ermüdet durch einerseits lange, anstrengende Arbeitszeiten
und andererseits durch die ständige Abwehr bisweilen aggressiver
Flirtversuche seitens meiner männlichen Kollegen. Du hast
damals die Philosophin Svenja Flaßpöhler zitiert. „Wer eine Welt
ohne Belästigung will, will in letzter Konsequenz eine Welt ohne
Verführung“, schreibt sie in ihrem Buch Die potente Frau.
Ich mag erste Annäherungen, aber darin muss auch ein Gespür für
die Grenzen des Gegenübers liegen. Sagte ich.
Und nun. Im Oktober 2017 machte sich #metoo auf den Weg um
die Welt, im November kam der offene Brief der Französinnen um
Catherine Deneuve. Du schicktest mir den Link zum Brief und
schriebst, du fändest seinen Inhalt richtig. Ein Kollektiv von über
100 Unterzeichnerinnen fordert darin die „Freiheit zu belästigen“
und kritisiert #metoo als Denunziationskampagne. Dieser Brief
– ein idiotischer Versuch, eine scheinbar vom Geschlechterverhältnis
unberührte, erotische Sphäre vor dem Hashtag
bewahren zu wollen. Dabei ist die Existenz dieser Sphäre
eine Illusion – „women who were attracted to men and
wanted to have relationships with them were not going
to somehow create relationships that existed outside of
all existing economic and social structures; women
who love men are going to have to come to terms with
their complicity in their own repression and subjugation,
and find ways to address it“, schreibt Emily
Gould. Und genau das beweist der Gegenstand der
Kritik: #metoo.
Ich gebe dir Recht, Unterwerfung kann lustvoll sein, Schmerz kann lustvoll sein. Die Grenze zwischen Flirt und Übergriff ist oft schwammig, u. a. auch deshalb, weil unser Begehren und unsere Lust immer verwoben sind mit Gesellschaft. Eine „reine“ Sexualität, was soll das sein? Doch #metoo geht es gar nicht darum, die Frage nach weiblicher Sexualität zu erörtern. Es geht #metoo darum, zu sagen: „Darauf hatte ich keine Lust.“ #metoo wurde im vergangenen Jahr 18 Millionen Mal getwittert – 18 Millionen Geschichten über blöde Sprüche, Pfiffe, Blicke, Bedrängen, Festhalten, Missbrauch, Vergewaltigung. Und, Silke, es geht nicht um Sex oder Lust. #metoo offenbarte vor allem eines – das Machtgefälle im Geschlechterverhältnis ist immens. Das Hashtag erzählt die Geschichten von Millionen von Frauen, die schon einmal sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren oder deren Alltag davon geprägt ist. Es ist der Versuch, global eine Sprache zu finden für etwas, was als „privat“ getarnt verschwiegen bleibt – obwohl es Strukturmerkmal dieser Gesellschaft ist: die Allgegenwart sexualisierter Gewalt.
Anfangs verfolgte ich die Debatte eher lose. Schon da nervte mich
deine Kritik daran. Wie die meisten #metoo-Kritiker_innen versuchst du, alle Widersprüche, die die Debatte mit sich bringt, als
Argument gegen sie zu verwenden. Es gibt keine einfachen Lösungen.
Wenn #metoo-Befürworter_innen finden, Sexismus und sexualisierte
Gewalt verschwänden mit der Verurteilung aller Gewalttätigen,
ungeachtet der gesellschaftlichen Verhältnisse, in die
Sexismus eingelassen ist, ist das genauso falsch wie die Annahme,
zum Flirt gehöre eine Portion Übergriffigkeit dazu oder jede Frau
müsse individuelle Wege ihrer Befreiung finden.
Du hast dich oft auf Die potente Frau bezogen. Svenja Flaßpöhler
schreibt darin, „sexuelle Übergriffigkeit“ sei kein strukturelles Problem,
ungleiche Löhne seien ein strukturelles Problem. Sie spricht
von „nachträglichem Anprangern von Überschreitungen, die man
hätte verhindern können“ und sagt: „Wer die unmittelbare Auseinandersetzung
meidet, sieht offenbar keine Chance mehr für einen
konstruktiven Dialog.“
Wenn #metoo-Befürworter_innen finden, Sexismus und sexualisierte Gewalt verschwänden mit der Verurteilung aller Gewalttätigen, ungeachtet der gesellschaftlichen Verhältnisse, in die Sexismus eingelassen ist, ist das genauso falsch wie die Annahme, zum Flirt gehöre eine Portion Übergriffigkeit dazu oder jede Frau müsse individuelle Wege ihrer Befreiung finden.
Ich weiß nicht, wie es dir damit geht. Aber wenn ich im Sommer durch New York, Leipzig, Berlin, Kinshasa oder Bukarest spaziere, vielleicht ja eine kurze Hose, ein kurzes Kleid trage, habe ich keine Lust, den ganzen Tag „konstruktive Dialoge“ zu führen.
Du denkst, diese Übergriffe seien ein rein individuelles Problem? Dann ignorierst du die Verankerung von Sexismus in der patriarchalen, bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Dann übersiehst du den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang und die Dynamiken von Benachteiligung und Ausbeutung, deren Symptom Sexismus ist.
Und auch, wenn nicht jede individuelle #metoo-Schilderung darauf
reflektiert: Das, was bei #metoo verhandelt wird, verweist letztendlich
auf den symptomatischen Charakter von Sexismus und damit
auf weitere Missstände – geschlechtliche Arbeitsteilung, Frauenarmut,
Verweigerung reproduktiver Rechte, Gender-Pay-Gap,
Frauenhass.
Dieser gesellschaftliche Nährboden von Sexismus darf
nicht unsichtbar bleiben. Auch dürfen die Analyse und Kritik von
Sexismus nicht nur auf Heterosexualität beschränkt sein. Denn im
weitesten Sinn ist Sexismus Ausdruck eines Hasses auf alles außerhalb
der Norm.
Du hast gefressen, was in den Zeitungen über die „Sexskandale“
steht und denkst, die Weinsteins oder Cosbys seien peinliche Ausnahmen.
Aber sexualisierte Gewalt ist keine Ausnahmeerscheinung.
Du kritisierst die ganze Zeit, dass Frauen so handeln, wie sie
handeln – dass sie sich zum Objekt und Opfer machen. Warum
fragst du dich eigentlich nicht, warum Männer so handeln – warum
sie Frauen zum Objekt und Opfer machen? Wer muss sich verändern,
Silke? Frauen? Oder Männer? Oder – alles?
Liebe Grüße
Barbara
Gesendet: Mittwoch, 05. September 2018 um 23:34 Uhr
Von: b.@b.de
An: s.@s.de
Betreff: Struktur und Diversität?
Ich denke gerade an Silvia Federici. Sag jetzt nicht, die sei Schnee von gestern. Ihre marxistisch-feministische Gesellschaftstheorie erklärt, warum geschieht, was #metoo uns gerade zeigt. Denn sie arbeitet historisch heraus, auf welchen materiellen Grundlagen sich die politischen, ökonomischen, sozialen Gesellschaftsstrukturen herausgebildet haben und welche Folgen das für Frauen und ihren Subjektstatus hat. Federici fragt sich – sie beginnt am anderen Ende als du –, warum Männer wie jene, die nun in Hollywood zur Verantwortung gezogen werden, so lange ihre Macht missbrauchen konnten, viele davon wussten, niemand protestierte. Federici kann diese Frage beantworten, und zwar nicht aus dem Bauch heraus. Sondern durch Wissen. Durch historische Spurensuche. Durch ein extrem geschärftes Verständnis von kapitalistischer Produktionsweise und der Ausbeutung weiblicher und kolonialisierter Körper. Sexismus ist ein Symptom der historisch gewachsenen Abwertung von Frauen.
Bereits in den 1970ern war Federici
klar, dass häusliche Gewalt
eine Funktion besitzt. Weibliche
Arbeitskraft und der weibliche
Körper sollen diszipliniert werden.
Die Frage also, warum Männer
ihre Macht ungestraft ausnutzen,
beantwortet Federici mit der Analyse, dass es sich um ein
historisch gewachsenes Geschlechterarrangement handelt. Frauen
liefern sexuelle Dienste, um finanzielle, soziale Sicherheit durch
den (Ehe-)Mann zu erhalten. Denn die Entwicklung kapitalistischer
Produktion weist Frauen den Platz in der unbezahlten
Reproduktionsarbeit
zu, sie verdienen darin nicht und sind durch
Eheschließung und Kleinfamilie isoliert. Ein Nicht-Erledigen der
häuslichen Aufgaben stellt eine Gefahr für die kapitalistische Produktion
dar und wurde und wird sanktioniert. Und zwar in
Deutschland bis 1997 legal durch den Ehemann.
Und auch andere Männer können sich an der Einhegung und Disziplinierung
weiblicher Körper und Arbeitskraft beteiligen – etwa
nachts auf der Straße, wenn Vergewaltigung kein Verbrechen, sondern
ein Denkzettel für die Frau ist, dass sie insbesondere nachts
ins Haus und Ehebett gehört. Misogynie konnte und kann sich
ungestraft Bahn brechen.
Vielleicht reagieren Männer oft deswegen in der Sexualität gewalttätig, weil dort Kontrolle über den eigenen Körper und Unabhängigkeit vom anderen Körper so leicht abhandenkommen?
Auch wenn Frauenbewegungen und neoliberaler Kapitalismus weitere
Veränderungen und rechtliche Verbesserungen für Frauen
gebracht haben, zeichnet sich die Gesellschaft nach wie vor durch
tradierte geschlechterspezifische Machtverteilung und sexistische
Deutungs- und Verhaltensmuster aus. Nach wie vor werden weibliche
Körper und Arbeitskraft doppelt ausgebeutet – unbezahlt im
Haushalt und oft schlechter bezahlt im Beschäftigungssystem. Die
Gesellschaft nutze – gleichgültig gegenüber der Doppelbelastung
– das zweifach einsetzbare Arbeitsvermögen von Frauen aus,
schreibt Regina Becker-Schmidt: „Die Einbürgerung von Frauen,
die sich in dieser Weise vollzieht, geht zu ihren Lasten.“
Die aktuelle geschlechtliche Arbeitsteilung hat ihre Ursprünge im
16./17. Jahrhundert, als durch die Diskreditierung weiblichen Wissens
und die Entwertung ihrer Arbeit einer der Grundsteine dafür
gelegt wurde, dass Frauen bis heute unterbezahlt oder gar unentgeltlich
arbeiten. Frauen wurden damals als Hexen verfolgt und
verbrannt – wie zynisch, dass genau dieser Begriff heute verwendet
wird, um Männer zu entlasten, etwa wenn #metoo-GegnerInnen
von einer „Hexenjagd“ sprechen.
Gesendet: Mittwoch, 05. September 2018 um 23:55 Uhr
Von: b.@b.de
An: s.@s.de
Betreff: harm
Liebe Silke,
du und viele andere kritisieren die Versammlung verschiedener Formen sexistischer Übergriffe unter dem Hashtag #metoo. Ich finde, sie ist eine große Stärke. Denn die Leiderfahrungen und Unterdrückungsformen sind zwar mitunter sehr unterschiedlich und ihre konkrete Benennung und Erforschung sehr wichtig, aber ihre Ursache ist die gleiche: die zugrundeliegende gesellschaftliche Struktur, in der Frauen, Women of Color, Queers und Transpersonen auf unterschiedliche Art und Weise Opfer sind. Und solltest du der Überzeugung sein, dass das in deinem Leben nicht vorkommt: Ich finde es sehr wichtig, sich nicht nur auf die ganz eigenen Erfahrungen zu beziehen, und gehe mit Audre Lorde mit, wenn sie schreibt: „I am not free while any woman is unfree, even when her shackles are very different from my own.“ Vielleicht kennst du deren Unterdrückungserfahrungen nicht, aber du kannst solidarisch sein.
Was der #metoo-Debatte leider fehlt: Sobald Women of Color ihre Anklage öffentlich machten, blieben Reaktionen weitgehend aus. Russel Simmons wird in 18 Fällen vorgeworfen, Frauen vergewaltigt und misshandelt zu haben. Doch Medienaufmerksamkeit gab es nicht für diese Fälle. Die meisten seiner Opfer waren Women of Color. Zu Recht schreibt Tarana Burke, die Gründerin von #metoo: „Those same women and girls, along with other people of color, queer people and disabled people, have not felt seen this year.“ Denn der Konflikt wird ja ungleich größer, wenn ich Woman of Color bin. Dann nämlich gilt es z. B. zusätzlich abzuwägen, ob man eine rassistische Ausschlachtung und die Verletzung der eigenen Community riskieren will, die folgt, wenn man eine Person of Color als Täter outet. Oder ob man sich nicht nur als Frau, sondern als Woman of Color angreifbar macht. Frausein ist je nach Hautfarbe, Klasse oder Herkunft nicht für alle Frauen dasselbe. Oder man hat nicht die Kraft, als Transperson zu sprechen und damit gleichzeitig die darauffolgende Diskriminierung und Diskreditierung der eigenen Identität als trans in Kauf zu nehmen. Wird es diesem komplexen Zusammenspiel von Diskriminierungsmechanismen gerecht, wenn du, wie Svenja Flaßpöhler, von „Opfererzählungen der Vergangenheit“ sprichst? Ich denke nicht. Im Gegenteil, so Audre Lorde: „The absence of these considerations – the difference of race, sexuality, class and age – weakens any feminist discussion of the personal and the political.“
Gesendet: Donnerstag, 06. September 2018 um 1:53 Uhr
Von: b.@b.de
An: s.@s.de
Betreff: schlaflos, geschichtslos
Vor einiger Zeit habe ich Alexa Henning von Langes Buch Kampfsterne gelesen. In einer Szene erzählt Cotsch ihrer Mutter Ulla, dass sie gerade in der Nähe ihrer Schule von ihrem Klarinettenlehrer vergewaltigt wurde. Ihre Mutter: „Mein armes Kind!“ und dann: „Nimm es mir nicht übel, aber so eine kurze Hose.“ Wir schreiben das Jahr 1982, Kleinstadtsiedlung, Kleinfamilien. Cotsch, einige Seiten weiter vorn:
„Hab ich schon gesagt, dass meine Mutter manchmal heulend auf der Treppe im Flur sitzt? Wenn mein Arschloch-Vater wieder einen auf Vergewaltiger gemacht hat. Ich hasse es, wenn meine Mutter heulend auf der Treppe sitzt wie ein Opfer (…), als könnte sie nichts gegen ihr Schicksal machen. (…) Ich meine, wer zwingt sie dazu? Sie könnte mal ordentlich auf den Tisch hauen! Aber Mama sagt: Ich liebe ihn doch.“
Du hieltest damals das Buch in der Hand, als sei es ein toter Frosch,
und sagtest: „1982. Das ist lange her. So vieles hat sich seitdem
verändert.“
Du hast kürzlich zu mir gesagt, du seist verwundert darüber, dass
das Hashtag #metoo „viral gehe“. Die Verwunderung über Ausmaß
und Verbreitung sexualisierter Gewalt ist generell groß, weil wahrscheinlich
viele sagen: 1982 ist lange her.
Ich bin total müde, aber ich kann nicht schlafen. Ich blättere in der
Zeitschrift PS – Politisch Schreiben. Weißt du, die, die sich wundern,
sind wahrscheinlich jene, die „innen sind und in ihrem Inneren
vielleicht ab und an etwas ahnen, aber niemals verstehen können
– weil es mit ihrem Pass für sie keine Grenzen und somit
keinen Zugang, aber auch keine Notwendigkeit des Verstehens
gibt“, schreibt Kaska Bryla in ihrem Essay in der PS. Mit ihrem
Pass. Ihrer Hautfarbe. Mit ihrem Geschlecht. Und ja. Diejenigen,
die es nicht nötig haben, scheren sich einen Dreck um die Unterdrückung
anderer, zumindest machen sie sich nicht die Mühe, zu
verstehen. Kennst du Hannah Gadsby? In ihrer Show Nanette sagt
sie an einer Stelle: „I’m not a men hater but I’m afraid of men. If
you think that’s unusual it’s because you’re not speaking to the
women in your life.“
Es ist auch nicht so einfach zu verstehen. Feministische Geschichtsschreibung
kann nur brüchig sein, weil sie nicht Teil der allgemein
anerkannten Geschichte ist. Doch ohne ein Verständnis unserer
Geschichte haben wir keine Chance, Gesellschaft zu verstehen,
schlimmer noch: „Until we own our history, she thought, I thought,
there can be no change“ (Chris Kraus). Es gibt aber keine Geschichte
der Gewalt an Frauen in der hegemonialen Geschichtsschreibung,
weil sie nicht erzählt wird. Zu privat. Oder lange her, Silke.
Der Gegenstand der feministischen Geschichtsschreibung zwinge zur ständigen Wiederholung, sagte Karina Korecky in einer Radiosendung, die ich kürzlich hörte. Und sie hat Recht, in unserer Diskussion stoßen wir ja auch immer wieder auf dieselben Punkte. Die Bezüge von Bewegungen wie den Slutwalks oder #metoo zu früheren sozialen Bewegungen sind rar, dabei war sexualisierte Gewalt auch schon in den 70ern zentraler Punkt der Zweiten Frauenbewegung. Feministinnen und feministische Anliegen müssen beständig in öffentliche Debatten hineinreklamiert werden, der Zustand, gehört zu werden, muss ständig wiederhergestellt werden. Das ist die „permanente Geste des Feminismus“ (Korecky). Und so vergessen auch die Marginalisierten selbst ihre Geschichte, ihre Vorgängerinnen, vorausgegangene Kämpfe, und alles muss immer wieder von vorn beginnen. Spezifisch weibliche Erfahrung und feministische Theoriebildung bleiben fragmentiert und andere, Männer, Nicht-Marginalisierte erzählen die Geschichte. Diese Geschichtsschreibung bagatellisiert Männergewalt.
#metoo hat es geschafft, die Alltagserfahrungen an die Oberfläche der Gesellschaft zu befördern. „Stories are our cure“, sagt Hannah Gadsby und: „That is the focus of the story we need – connection.“ Denn wenn ich nicht weiß, dass meine Nachbarin oder die Frau auf der anderen Straßenseite oder die im Bus unter den gleichen Dingen leiden wie ich, werde ich denken, es ist mein eigenes, privates Problem, das ich, um in deinen Worten zu sprechen, vielleicht sogar mitverantworte – das Kleid war zu kurz zu gelb zu eng zu schön zu hässlich – oder zumindest selbst lösen muss. Das Hashtag gehört zu den raren, großflächigen Versuchen, das Private sichtbar zu machen. Wir müssen großflächig werden, denn Audre Lorde hat Recht, alles andere verbleibt in der Situation eines Waffenstillstands: „Without community there is no liberation, only the most vulnerable and temporary armistice between an individual and her oppression.“
Das Allgemeine ist, wie das Beispiel der Geschichtsschreibung zeigt, männlich. Frauen, Lesben, Queers, Transpersonen und Women of Colour sind als die Marginalisierten der Gegensatz zum Allgemeinen. Die Marginalisierten stehen natürlich nicht außerhalb der Gesellschaft, aber – will man es bildlich umschreiben – sie sind der Rand, das Nicht-Innen, das Andere, und in diesem Sinne das Besondere. Lassen wir das Besondere zum Allgemeinen werden! Ein Zitat von Chris Kraus kann verdeutlichen, was ich hier meine: „If women have failed to make ‚universal‘ art because we’re trapped within the ‚personal‘, why not universalize the ‚personal‘ and make it the subject of our art?“ Kraus referiert auf den gesellschaftlichen Bereich der Kunst, doch ihre Feststellung ist quasi übertragbar auf alle anderen gesellschaftlichen Bereiche. Das künstlerische Schaffen von Frauen verbleibt im privaten, persönlichen Bereich, da sie in diese Sphäre verwiesen wurden und allein deswegen nicht den Gegenstand der Kunst, das (männliche) Allgemeine, bedienen können. Was können wir also tun? Wir verallgemeinern unser Privates, es ist nicht länger der Gegenpol zum Gegenstand, es ist der Gegenstand. Oder, um einen bekannten Slogan zu zitieren: Das Private ist politisch.
Gesendet: Donnerstag, 06. September 2018 um 5:00 Uhr
Von: b.@b.de
An: s.@s.de
Betreff: Nachtrag: Das Private ist politisch
Liebe Silke,
habe ich zu einfach gedacht? Im Halbschlaf ist es mir aufgefallen.
Zum einen darf es nicht darum gehen, unzählige individuelle Erfahrungs-
und Leidensberichte unbearbeitet nebeneinander stehenzulassen.
Die Aufgabe ist es, wie gesagt, eine allgemeine Gesellschaftskritik aus dem Besonderen abzuleiten. Denn wenn das
Private unhinterfragt politisch ist, dann könnte man das Politische
doch einfach mit individuellen Wertungen, Emotionen und Affekten
füllen. Dieser fatale Umkehrschluss, dass alles Persönliche,
Intime
auch als politisches Argument zählen kann, ist wenig sinnvoll
– alle Meinungen stünden dann irgendwie und gleichwertig
nebeneinander. Diese Herangehensweise würde ja am politischen
Problem nichts ändern.
Zum anderen: Die Versuche, unsere eigene Geschichte zu schreiben,
indem wir unsere Erfahrung öffentlich machen, werden schon
im Ansatz gekippt und gegen uns gewendet! „No matter how dispassionate
or large a vision of the world a woman formulates,
whenever
it includes her own experience and emotion, the telescope’s
turned back on her. Because emotion’s just so terrifying the
world refuses to believe that it can be pursued as discipline, as
form“, schreibt Chris Kraus. Trotz der 18 Millionen #metoo-Tweets
hält sich beharrlich die Unterstellung, den Empfindungen von
Frauen könne nicht getraut werden. Oft wird eine angeblich stärker
ausgeprägte Emotionalität von Frauen behauptet, oft auch
skrupelloses Kalkül. Und wenn eingeräumt wird, dass ein Übergriff
tatsächlich stattgefunden hat, so mögen Frauen ihre Probleme bitteschön
selbst lösen, anstatt zu jammern. Du, könnte es sein, dass
diese Geschichten vielmehr deswegen erzählt wurden und werden,
weil Frauen, Lesben, Women of Color, Transpersonen und Queers
es satthaben, erniedrigt, entrechtet, verletzt und unterdrückt zu
werden und sie nicht mehr um ihr Leben fürchten wollen, und
nicht aus dem Drang heraus, vermeintliche Belanglosigkeiten
emotional aufzuladen?
Vielleicht hast Du keine Ahnung davon, was andere Frauen riskieren, wenn sie sich wehren. Sie versauen sich ihre Karriere, sie gelten als prüde Zicken, sie erfahren soziale Ächtung, sie werden hart bestraft für ihre Wehrhaftigkeit. Frauen müssen es sich leisten können, sich zu wehren. Vor allem finanziell, Gerichtskosten sind kein Pappbecher – aber auch emotional. Und nicht selten bezahlen sie mit ihrem Leben. Hast du jemals vom Femizid gehört? #metoo, #cuéntalo, Ni Una Menos etwa erzählen dir auch davon.
Warum fordert alle Welt von Frauen Vorsicht und/oder Wehrhaftigkeit, anstatt von Männern zu fordern, sich nicht mehr wie Arschlöcher zu verhalten? Warum soll eine neue Wehrhaftigkeit angeschafft und nicht Gewalt und Zudringlichkeit abgeschafft werden? Geschenkte Fragen.
Gesendet: Donnerstag, 06. September 2018 um 7:30 Uhr
Von: b.@b.de
An: s.@s.de
Betreff: Männliche Subjektkonstitution und Sexualität
Liebe Silke,
ich bin schon wieder wach. Ich habe gerade über die Frage nachgedacht:
Wenn der Kapitalismus zu Ende ist, ist dann auch der Sexismus
zu Ende? Nein.
Das hieße, das Patriarchat als eine Art Nebenwiderspruch zu verkennen.
Dabei existierten das Patriarchat und darin der Sexismus
freilich schon vor dem Kapitalismus. Genauso wie etwa Rassismus
schon vor dem Kapitalismus ein Strukturmerkmal von Gesellschaft
war. Du sagst ja, das Patriarchat sei vorbei. In dieser Ansicht kommen
wir nicht zusammen. Du sprichst viel über die Potenz der
Frauen und akzentuierst eine positive Thematisierung weiblicher
Sexualität. Das ist durchaus gut und notwendig! Ich finde aber,
wir müssen auch über männliche Subjektkonstitution sprechen.
Darüber, was sich da Bahn bricht, wenn Männer Frauen belästigen,
beleidigen oder vergewaltigen. Warum Frauenhass ein so weit verbreitetes
Phänomen ist.
Ich war im April 2018 gerade in Toronto, als der 25-jährige Alek
Minassian mit einem Laster in eine Menschenmenge fuhr und 10
Menschen tötete. Er war Mitglied der sogenannten Incels („involuntary
celibates“) – eine Online-Community, bestehend aus weißen,
heterosexuellen Männern, die sich gesellschaftlich benachteiligt
fühlen und Frauen hassen. Diese Männer phantasieren Frauen
als Übermacht und sich selbst als deren Opfer. Andere Maskulinistengruppen,
wie die Pick-up-Artists, halluzinieren eine weltumspannende
„Femokratie“, in der Frauen durch ihre Sexualität über
Männer herrschen. Selbsternannte Männerrechtler und Maskulinisten
sind leider keine Seltenheit und lediglich die krasseste Ausprägung
von Männlichkeit. Rolf Pohl weist darauf hin, dass sich
das vorherrschende Männlichkeitskonzept vor allem durch das
Streben nach Autonomie, Kontrolle und das unbewusste Bedürfnis,
sich über die Abwertung von Frauen aufzuwerten, auszeichnet.
Vielleicht reagieren Männer oft deswegen in der Sexualität gewalttätig,
weil dort Kontrolle über den eigenen Körper und Unabhängigkeit
vom anderen Körper so leicht abhandenkommen?
Du sagst es ja selbst, du sprichst von der „männlichen Furcht vor der potenten Frau“. Du erzählst mir die Geschichte der Medusa, die für ihre Verführungskraft enthauptet wurde. Ich denke auch an die Sirenen in der Odyssee, deren Gesang die Schiffer in den Tod führte. Und nur durch die eigene Zurichtung, durch das Anketten an den Mast, konnten sie der weiblichen Verführung widerstehen. Auf welch zerstörerisches Begehren des männlichen Subjekts deuten diese Bilder hin! Die gleichzeitige Abwehr und Begierde des Weiblichen. Ich finde, Mann-Sein und Männlichkeit müssen unbedingt untersucht und hinterfragt werden.
Ich muss mal ins Bett.
Viele Grüße
Barbara
Gesendet: Donnerstag, 06. September 2018 um 18:30 Uhr
Von: b.@b.de
An: s.@s.de
Betreff: Dialektik der Aufklärung
Liebe Silke,
gemeinsam lernten wir, die Errungenschaften der Frauenbewegungen
zu würdigen. Sie verunsicherten die Geschlechterordnung,
brachen alte Gewissheiten auf, erzeugten Handlungsfähigkeit für
Frauen und ein politisches Kollektiv. #metoo vermag zu zeigen,
dass Emanzipationsversprechen nicht eingelöst wurden.
Die New York Times berichtet, dass in den USA rund 200 Männer
in hohen Positionen ihren Job verloren haben, nachdem ihnen sexuelle
Übergriffe nachgewiesen wurden. Knapp die Hälfte wurde
durch Frauen ersetzt. Das entspricht zwar einem reformatorischen,
gleichstellungspolitischen Ansatz, und wie heißt es bei Barbara
Kirchner? – „Wichtigste Voraussetzung für den Reformismus ist die Leugnung der Tatsache, daß ein System ein System ist.“ Aber
ich finde schon interessant, dass es durch #metoo zu einer – immerhin
punktuellen – geschlechterspezifischen Verschiebung innerhalb
der Machtzentren kommt.
Allerdings hat es historisch schon oft eine Gleichzeitigkeit von
Wandel und Persistenz der Geschlechterordnung gegeben. Emanzipatorische
Errungenschaften wurden schon in ihrer Entstehung
von herrschenden Strukturen und ihren Institutionen kassiert.
Einerseits große Zustimmung zur Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit,
andererseits die breite Rücknahme schon erreichter
Schritte dorthin. Das erleben wir auch jetzt: Unter vielen Regierungen
kommt es zu einer Retraditionalisierung der Geschlechterordnung,
etwa in Österreich, wo die schwarz-blaue Regierung Gelder
für emanzipatorische, feministische Projekte kappte.
Der US-Supreme-Court bestätigte den Republikaner Brett Kavanaugh
im Amt und mit ihm einen Mann, dem in mehreren Fällen
Vergewaltigungsvorwürfe gemacht werden. In Deutschland erhält
eine reaktionäre Partei Auftrieb, in Ungarn strich die Regierung
die Gender Studies. In Polen und Argentinien wurde trotz massiver
feministischer Kämpfe das Abtreibungsgesetz nicht gelockert und
in Deutschland geraten Ärzt_innen, die Abtreibungen durchführen,
zunehmend unter Druck. Auch die kollektive #metoo-Empörung,
die an die Einsicht zur Frauenbefreiung appelliert, kann die
institutionalisierte und symbolische Ordnung nicht durcheinanderbringen,
sondern wird integriert: hier eine Verurteilung, dort
eine Gesetzesänderung, damit sich alle wieder beruhigen. Wenn
das Machtgefüge sich ändert, bewegen sich „die herrschenden
Mächte ebenfalls dynamisch. Sie greifen (…) ein, sei es über die
Kürzung des Etats für Kindergärten oder Frauenprojekte, sei es
über die Verwerfung (…) der Frauenquote, sei es über die Sexualisierung
der Frau in den Medien“ (Möhring und Diaz in Lustmolche
und Köderfrauen). Frei nach dem Motto: Man tut ja, was man kann.
Aber traditionelle Familienstrukturen, blau und rosa, Frauen und
Männer und geschlechterspezifische Rollen will man konservieren.
Für uns bedeutet das, dass wir bereits Erreichtes immer wieder
neu erkämpfen müssen.
Liebe Grüße
Barbara
Gesendet: Montag, 10. September 2018 um 16:34 Uhr
Von: b.@b.de
An: s.@s.de
Betreff: WHY DOES EVERYBODY THINK THAT WOMEN ARE
DEBASING THEMSELVES WHEN WE EXPOSE THE CONDITIONS
OF OUR OWN DEBASEMENT? (Chris K.)
Liebe Silke,
kaum eine Kritik an #metoo war lauter als die der Opferideologie.
Krasses Wort, oder? Ein Wort, das auf jeden Fall verhindert zu
sagen:
Mir wurde Leid angetan, und nicht nur mir. Die Kampagne
mache aus Frauen Opfer. Du spricht vom Opferstatus als „Weg des
geringsten Widerstands“ in Situationen, in denen, wie du sagst,
Handlungsmöglichkeiten bestanden hätten. Da zitierst du wieder
Svenja Flaßpöhler.
Abgesehen von der Feststellung, dass Frauen objektiv Opfer in
dieser
Gesellschaft sind, ist die Frage nach dem Opferstatus weit
komplexer. Frigga Haug hat vor nunmehr fast 40 Jahren einen Text geschrieben, der dem Opferstatus von Frauen
nachgeht. Ihr zentraler
Einwand lautete
damals schon: Man müsse aufhören, Frauen
nur als Opfer zu sehen, denn dann würden
sie festgehalten in der Subalternität. Sie
sind als Opfer gleichzeitig Täterinnen: Sich
opfern ist eine Tat. Auch Simone de Beauvoir
hat erkannt, dass Männer zwar privilegiert
sind, aber nicht ohne die zumindest
passive, unbewusste, und ungewollte Zustimmung
der Frauen. Zweifellos sei es bequemer,
blinde Sklaverei zu erdulden, als an
der eigenen Befreiung zu arbeiten. Dieses
Zusammenwirken von Herrschenden und
Beherrschten muss analytisch erfasst werden
– natürlich ohne dabei
die fundamental
unterschiedlichen Ausgangsbedingungen
der Beteiligten zu verwischen.
Haug sagt sehr wohl: „Kein Zweifel. Frauen
sind also Opfer. Zumeist sind sie Opfer ihrer
Männer, auf jeden Fall aber der gesellschaftlichen
Verhältnisse.“ Dass selbst Frauen, zum
Beispiel du, diesen Fakt bisweilen massiv
in
Zweifel ziehen, wunderte mich zunächst,
hat aber mit einem Dilemma zu tun, das nicht einfach zu entschlüsseln
ist. Gesellschaft schleicht in uns hinein und mit ihr die
jeweils geltende Geschlechterordnung und Klassenzugehörigkeit.
Unter Vergesellschaftung versteht man also den Prozess, der aus
Individuen Gesellschaftsmitglieder macht. Sozialisation, Wissensformen,
politische Partizipation, Arbeit oder kulturelle Praktiken:
Das sind die Wege der Vergesellschaftung, die uns alle, auch dich,
gesellschaftstauglich und sozial umgänglich machen und über welche
Normen verinnerlicht werden. Für Frauen
bedeutet das: Ich
gehe arbeiten, kaufe frauenspezifische Pflegeprodukte,
bekomme
Kinder, gründe eine Familie, kocheputzekümmeremichverdieneweniguswusw.
– ich verinnerliche mein Frausein auch als psychosozialen
Prozess qua doppelter Vergesellschaftung im Privaten und
Öffentlichen. Im Prozess der Identifikation als Frau kann ich nicht
ohne Weiteres akzeptieren, dass mich diese Rolle zum Opfer, zur
Unterdrückten macht, denn dann würde ich mich gegen diesen
Teil in mir und mich selbst richten. „Die Unterdrückten tragen die
Male ihrer Unterdrückung“, schreibt Frigga Haug.
Ein riesiges Problem der Befreiungsarbeit ist eben jene Loyalität
der Unfreien gegenüber der Unfreiheit. Ungewollt werde ich zur
Komplizin. So wird die Herabsetzung oder gar Verabscheuung der
Marginalisierten früh internalisiert – auch jene, die selbst zur
Randgruppe gehören, lernen, dass die Randgruppe verabscheuenswürdig
ist, dass sie selbst also verabscheuenswürdig sind. Hannah
Gadsby thematisiert das in Nanette: „By the time I identified as
being gay it was too late, I was already homophobic and you do not
get to just get a flick on that. What you do – you internalize homophobia
and you learn to hate yourself.“
Frauen, Lesben, Queers, Transpersonen und Women of Colour müssen den Widerspruch aushalten, der darin liegt, dass sie sich selbst an ihrer Befreiung beteiligen müssen, gleichzeitig damit aber den Ast absägen, auf dem sie als vergesellschaftete Subjekte sitzen. Das ist natürlich ein riesiger Konflikt mit sich selbst. Audre Lorde schreibt: „If our history has taught us anything, it is that action for change directed only against the external conditions of our oppressions is not enough. In order to be whole, we must recognize the despair oppression plants within each of us.“ Ich habe sehr lange und ein feministisches Umfeld gebraucht, um zu erkennen, dass es nicht einfach nett gemeint, sondern übergriffig war. Noch länger habe ich gebraucht, um nicht trotzdem nett zu lächeln.
Ich grüße dich
Barbara
Gesendet: Donnerstag, 13. September
2018 um 14:25 Uhr
Von: b.@b.de
An: s.@s.de
Betreff: I still feel shame
Liebe Silke,
was mir noch einfiel: Die Anerkennung
des Opferstatus ist eine ganz fürchterliche
Kränkung meiner Stärke und
Individualität.
Die gegenwärtige, spätkapitalistische Gesellschaft
suggeriert
uns unentwegt, eine individuelle Entscheidung gegen
Unterdrückung und Ausbeutung sei möglich, denn mitgeliefert
zur Vergesellschaftung wird ein Emanzipationsversprechen, das
Selbstermächtigung und Handlungsfähigkeit anruft (du beschwörst
unentwegt diese Handlungsfähigkeit). Unendliche Scham, wenn
ich dazu nicht in der Lage bin.
Zudem geschieht sexualisierte Gewalt oft in Zusammenhängen,
aus denen auszusteigen ein unglaublicher Kraftakt ist, zum Beispiel
in Familien. Selbst die Unterdrückten denken dann, ihre
Unterdrückung
sei eine Lüge, und zwar nicht ohne Grund, wie
Simone Weil schreibt: „It’s impossible to forgive whoever has done
us harm if that harm has lowered us. We have to think that it has
not lowered us but revealed to us our true level.“
Gesendet: Donnerstag, 13. September 2018 um 23:57 Uhr
Von: b.@b.de
An: s.@s.de
Betreff: Ich bin nicht identisch mit den Verhältnissen!
Silke,
dennoch, es gibt Hoffnung! Denn: Ich bin nicht identisch mit den Verhältnissen! Im Vergesellschaftungsprozess stehen Selbst- und Fremdbestimmung in Konflikt, ich bin niemals nur durch die Verhältnisse und Strukturen bestimmt. Wo können wir eingreifen und wie? Was können Frauen gegen ihre Unterdrückung tun? Wie könnten sie sich aufrichten? Frigga Haug schlug vor, zunächst ein umfangreiches Wissen um das Unterwerfungshandeln von Frauen zu gewinnen. Die Methode der Erinnerungsarbeit ist dabei eine kollektive Praxis der Aufarbeitung vergessener oder unbewusster Einwilligung in die eigene Unterdrückung. Unsere alltägliche Praxis muss zur Disposition gestellt werden, denn diese Praxis strukturiert unsere Persönlichkeiten, und genau diese Strukturen müssen wir verändern, um unser Handeln zu ändern, um die Welt zu verändern: Selbstveränderung und Veränderung der Umstände fallen in revolutionärer Praxis zusammen. Frigga Haug bezieht sich hier auf die Feuerbach- Thesen von Karl Marx.
In der #metoo-Debatte klingt etwas an, was zumindest in diese Richtung deutet: „Was plötzlich da war, war ein Bewusstsein dafür, dass man sprechen kann, dass man gehört wird, vielleicht auch sprechen muss, um andere zu ermutigen. Frauen haben sich plötzlich ganz anders mit ihrer Erinnerung beschäftigt und versuchen zu rekonstruieren, was ist passiert, wie bin ich heute und warum?“ So beschrieb Sasha Marianna Salzmann ihren Eindruck von #metoo in einer Diskussionsrunde, die ich kürzlich im Fernsehen sah.
Selbst wenn #metoo keine Utopie formuliert, selbst wenn viele Marginalisierte keine Sprache gefunden haben durch #metoo, selbst wenn keine Bewegung entstanden ist und #metoo nicht an den Grundfesten von Kapitalismus und Patriarchat rüttelt, selbst wenn #metoo vom Backlash eingeholt wird. Ich finde, alle Versuche, eine Sprache zu finden für Erfahrungen im Nicht-Öffentlichen, am Rand, im weiblichen Alltag, für das, was uns zustößt in dieser Welt, sind niemals vergebens und niemals überflüssig.
Und doch, in einem Punkt stimmen wir überein, Silke. Auch ich denke, dass wir nicht vergessen dürfen, in all dem Leid und Missbrauch von Sexualität die Stärke und Potenz der Marginalisierten und ihrer Sexualität zu betonen und zu feiern! Die Medusen und Sirenen, Frauen, Lesben, Queers, Women of Color und Transpersonen – ihre Potenz möge wachsen, sich frei entwickeln!
Es liegt an uns, ob #metoo es schafft, über sich selbst hinauszuweisen.
Zumindest, und das hat Virginie Despentes kürzlich gesagt,
drücke sich in #metoo etwas aus, was sie als Revolution bezeichnet:
„Erstmals betrachten es junge Frauen als ihr Recht, sich entspannt
im öffentlichen Raum zu bewegen.“
Was meinst du?
Es grüßt dich
Barbara
Barbara Schnalzger ist Redaktionsmitglied der outside the box und lebt in Leipzig.