Die Mutter der Erfahrung
Ein Bericht oder die theoretische Annäherung an ein großes Dilemma
„Mütter waren in allen Bewegungen eine starke Kraft, sowohl im Symbolischen wie in den Bewegungen selbst, etwa bei der Suche nach den Verschwundenen in Argentinien, als Mütter gegen den Tschetschenien-Krieg in Russland. Maxim Gorki schrieb über eine revolutionäre Mutter, Brecht dichtete den Roman um in ein Stück, in dem Mutterliebe transformiert wird in die Fähigkeit zur Menschenliebe als revolutionäre Tugend. Tucholsky ruft Mütter auf, gegen die Vernutzung ihrer Söhne im Krieg zu protestieren. Die Mütterfrage spielte natürlich auch in der Frauenbewegung der 70er Jahre eine große Rolle. Es ging nicht allein darum, Kinder zu versorgen, um Frauen die politische Einmischung zu ermöglichen, wie in den damals gegründeten ‚Kinderläden‘. Als diejenigen, die neues Leben zur Welt bringen, wurde von Frauen eine Verdichtung von Menschlichkeit erwartet. Mutterschaft, die Frauen in der Konkurrenz um Karrieren schwächt, sollte auch als Stärke behauptet werden. Gefordert wurde, Erziehungs- und Familienarbeit in die Gesamtarbeit einzubeziehen und die entsprechenden Leistungen von Müttern und Hausfrauen als solche Arbeit anzuerkennen und zu bezahlen. Das hieß auch, Praktiken der Fürsorge und Beziehung gesellschaftlich aufzuwerten. Die Mütterfrage spaltete die Bewegung, wenn auch nicht unversöhnlich, in einen mehr esoterischen Teil, in dem die Mutterverehrung bis zur Göttinnensuche alternative Gesellschaft einfach jenseits der bisherigen zu denken suchte, und einen größeren, der die Befreiung der Frauen eher mit der Entfaltung aller weiteren menschlichen Wesenskräfte verband einschließlich der Notwendigkeit, in die Gesellschaft gestaltend einzugreifen.“1
Vor etwas über einem Jahr bin ich Mutter geworden. Alles, was mit meiner Mutterschaft zusammenhängt, insbesondere die Geburtserfahrung, gehört zum Umwälzendsten, das mir im Leben bislang geschah. Die neuen Umstände, die eingetreten sind, lassen sich nicht ignorieren oder schnell und einfach ganz anders einrichten. Unser Kind ist da, mit allem, was dazugehört. Nur – was gehört dazu? Ich stelle fest, dass Geburt und Mutterschaft hart umkämpfte Felder sind, die – obwohl vermeintlich privat und individuell – belagert sind von gesellschaftlichen, feministischen, eigenen Erwartungen und Haltungen. In meinem Bericht vermischen sich deshalb Theorie, subjektives Erleben und geschichtliche Stimmen von Frauen, die zu Geburt und Mutterschaft geschrieben haben. In allem scheinen beständig Widersprüche und Dilemmata auf: mindestens Privates und Politisches, Individuelles und Verallgemeinerbares, Altes und Neues, Theoretisches und Praktisches sind miteinander im Gespräch oder liegen miteinander als Pole in Widerstreit. Auch ist nichts an meinen Erfahrungen „neu“. Unendlich viele Frauen haben bereits Kinder bekommen und über das Leben mit ihnen geschrieben. Und doch wissen wir nur allzu genau, wie schnell das einmal von Frauen Erfahrene und mit viel Mühe und Hingabe Beschriebene wieder verschütt zu gehen droht. Wenn Frauen immer unterbrochen werden: „Kein Wunder, dass wir suchen müssen. Wo und wie können wir Splitter finden von solchen Streiten, an die wir eigentlich hätten anschließen wollen?“2 Und über das Kinderkriegen und Muttersein müssten sich Feministinnen streiten wollen – auch untereinander, auch heute. „Die Mütterfrage spaltete die Bewegung“, wie Frigga Haug im Eingangszitat zu diesem Text schreibt. An diesen Streit will ich anknüpfen.
I. Ideologische Zugriffe
Bei der Geburtserfahrung und der Erfahrung von Mutterschaft verschränkt sich Natur mit Gesellschaft sowie Gesellschaft mit Natur. Das erschwert das Versprachlichen der Erfahrungen immens. Gerade weil ich weiß, dass in gegenwärtigen Verhältnissen im Unklaren bleibt, was erste, was zweite Natur an der Sache ist, wo Biologie aufhört und Gesellschaft anfängt, verschlägt es mir die Sprache, wenn ich in verallgemeinerbaren Kategorien etwas über Gebären und Mutterschaft sagen will. Vermutlich, da einem besonders im Vorgang der Geburt dasjenige, was als Natur verstanden wird, ziemlich auf die Pelle rückt. Um dies mit einem Zitat aus der outside the box zum Thema Gebären zu stärken:
„Natalie: (…) Es ist doch absurd, dass der Vorgang der Geburt von den sonst gängigen aufklärerischen Bestrebungen wie Naturbeherrschung, Selbstbestimmung, körperliche Integrität etc. scheinbar ausgenommen scheint. Für den Vorgang der Geburt scheinen diese Bestrebungen nicht zu gelten oder sie geraten unter der Geburt zumindest ins Schwanken.“3
Über Gebären und Mutterschaft schreiben und nicht ausrutschen. Der Eindruck, gar nichts Allgemeines über mein subjektives Erleben darin aussagen zu können, weil kein objektivierbarer Kern vorhanden ist, weil er durch die Verschränkung von Natur und Gesellschaft – das eine existiert nicht ohne das andere – verstellt wird. Alles daran hat einen doppelten Boden, auf dem sich zu bewegen ziemlich schwer ist. Auf dem einen Boden gilt es, patriarchale gesellschaftliche Verhältnisse zu benennen und zu kritisieren, um ihnen etwas entgegenzusetzen: die Antibabypille, die selbstbestimmte Geburt, die Autonomie über das, was mit dem weiblichen Körper passiert und welche Bedeutung er erhält. Auf dem anderen Boden sollen die Errungenschaften dieser Kritik und dieses Kampfes nicht stillstehen, sollen sich neue Konformitäten und Selbstverständlichkeiten innerhalb einer um Emanzipation ringenden (im weitesten Sinne linken) Szene nicht einfach einschleichen.
Wenn ich schreibe, dass eine Geburtserfahrung selbstredend existenzieller ist als der Umzug in eine neue Stadt, auch wenn beide große Veränderungen mit sich bringen können, ahne ich, dass das zu metaphysisch klingen wird – bürgerliche Kategorien, magisch aufgeladene Thematik, Geburt und Tod, am Ende gar esoterisch. Geburt als Erfahrung begegnet innerhalb der linken Szene einiger Abwehr: unter materialistischen Feministinnen, weil der reaktionäre Assoziationshof um den Muttermythos mit seiner Herrschaft durch Zwang zur Reproduktion gefürchtet wird; unter Queerfeministinnen, weil sofort der Biologismusvorwurf im Raum steht. Der Versuch, sich gegen die ideologischen Zugriffe von allen Seiten zu wehren: Wie kann ich rekonstruieren, was passiert, und benennen, was mich umtreibt, ohne im Klischee zu landen? Ohne Das ist für eine Frau das Schönste auf der Welt (ohne Widerrede)! und ohne Das ist die Versklavung der Frau (ohne Widerrede)!?
Möglicherweise keine gute Mutter zu sein,
fühlt sich, so stelle ich fest, deutlich schlimmer
an, als keine gute Arbeitnehmerin zu sein. Arbeit
im Kapitalismus, was ist das schon? Dagegen
ein Mensch, das ist doch immer auch das
Potential, das Utopische, ein Fünkchen Nichtidentisches,
nicht sofort verwertbar, nicht
gleich schon klar. Vielleicht kann ich damit
entkommen? Faustschlag – das ist Romantik,
das ist Sentiment und spielt einer patriarchalen
Totalität in die Hände. Projektion, die Unschuld
der Kinder, die letzte Hoffnung, doch
noch ein bisschen Richtiges im Falschen zu fi nden, damit hat man
Frauen immer schon gut an den Herd gekriegt. Was, die GUTE
Mutter? Muttermythos, hallo.
Wie kann man über Gebären und Mutterwerden berichten? Was
sind die Grundlagen der Erfahrung von Geburt und Mutterschaft?
Ungeachtet dessen, dass diese Erfahrung auch Transmänner
machen können, bleibt die Erfahrung selbst bislang weiterhin
weiblich, wie auch das Geschlechterverhältnis als Produktionsverhältnis
durch die Hinzunahme weiterer Geschlechter nicht aufgehoben
wird. In einer patriarchalen Welt besteht für weibliche
Erfahrungen kein Anspruch auf Universalismus. Auch aus reproduktionstechnologischen
Gründen erscheint dieser Bereich des
Lebens im historischen Vergleich heute als ein in höchstem Maße
individueller, was keinesfalls nur schlecht ist. Welch ein Segen, aus
der Anonymität der bis zu 20 Geburten, die fast jede Frau vor der
Ermöglichung einer risikominimierten und legalen Empfängnisverhütung
im 20. Jahrhundert durchleben musste,4 herauszutreten
und Geburten als einmalige Ereignisse wahrnehmen zu
können! Hierfür existiert heutzutage zwar eine schier unüberschaubare
Anzahl an Ratgeberliteratur, jedoch kommt sie nicht
ohne einen wie auch immer gearteten ideologischen Zugriff auf
das Thema aus.
Nun kann man einwenden: Welcher Gegenstand kommt überhaupt
ohne gesellschaftlichen Zugriff aus? Das stimmt einerseits; andererseits
sind Leitfäden zur Geburtsvorbereitung zweifelsohne von
anderem ideologischen Gewicht als beispielsweise Fischzuchtratgeber.
Bei den Themen Geburt und Mutterschaft handelt es sich
um ein in höchstem Maße aufgeladenes moralisches Feld, stellt es
doch allein aus einer Herrschaftsperspektive eine zentrale Säule
der gesellschaftlichen Verhältnisse dar. Im Regime eines neoliberal kapitalistischen Nationalstaates muss die Reproduktion
seiner Subjekte sowie ihrer potenziellen Rollen als Arbeitnehmerinnen
oder Konsumentinnen genauso akribisch bedacht und reguliert
sein wie die Produktion der Waren und Güter.5 Geburt und
Mutterschaft kommt bereits systemimmanent eine Dringlichkeit
und Bedeutung zu, die eine neutrale, geschweige denn kritische
Betrachtung noch mehr erschwert, als dies bei anderen Gegenständen
der Fall ist.
Gleichzeitig hat die Zweite Frauenbewegung in Westdeutschland6
als widerständige und zumindest in Teilen emanzipatorische
Bewegung in ihrem Ringen um Mutterideale eine Gegennarration
erstritten, Aspekte welcher über die Jahre gar in staatliche und
mehrheitsgesellschaftliche Vorstellungen übernommen wurden,
also selbst – wenngleich verdreht – Ideologien wurden.7 Als Gegennarration
widersetzt und widerspricht sie zwar gängigen Bildern
von Geburt und Mutterschaft, erzeugt aber in der Subalternen, nicht zuletzt unter Feministinnen die Neigung, Mutterschaft gänzlich
als patriarchale Herrschaft stützend abzulehnen.8
Wie gut zu wissen, dass ich just in diesem historischen Moment
nicht allein dastehe mit diesem Dilemma. Angesichts der aktuellen
Publikationslage akademischer Literatur9 und kritischer Blogs10
sowie dem praktischen Bedürfnis, sich zu vernetzen, bin ich sogar
gewillt zu denken, dass meine Art, widersprüchliche Erfahrungen
mit Geburt und Mutterschaft wahrzunehmen und einzuordnen,
exemplarisch für eine relativ neue Tendenz innerhalb feministischer
Kreise steht. Diese Tendenz zeichnet aus, einer kritischen
Grundhaltung zum Trotz nach Möglichkeiten der Erfahrung von
Glück und Autonomie im Kontext von Geburt und Mutterschaft zu
fragen. Marie Reusch hat zu diesem Thema eine Dissertation verfasst
und formuliert folgende These:
„Der aktuelle Aufschwung des Themas Mutterschaft in feministischen Debatten ist Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem (…) in den letzten ca. 25 Jahren dominanten feministischen Zugriff auf das Thema Mutterschaft, der zwar jene herrschaftlichen Verwicklungen der Mutterschaft erklären kann, aber kein Vokabular hat für Fragen nach dem Zusammenhang von Mutterschaft und Emanzipation. Er ist Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem scheinbar geltenden ungeschriebenen Gesetz des (neueren) Feminismus, demzufolge das Thema Mutterschaft nicht instruktiv sei für feministische Emanzipationsbegehren (…).“11
II. Rekonstruktion, Teil 1: Geburt/Mutter12 abstrakt
„Vielleicht fällt es der Mutter schwer, dieses Paradoxon zu akzeptieren: die Tatsache nämlich, daß dieses Baby aus ihr gekommen ist – und ihr doch so unbekannt ist. Vielleicht ist sie frustriert, weil ihr Kind noch nicht sagen kann, wer es ist, was es weiß oder nicht weiß. Die junge Mutter hat wahrscheinlich eine komplexe Mischung von Gefühlen. Und in der allgemeinen Sentimentalität, die heute die Mutterschaft umgibt, werden manche dieser Gefühle vernachlässigt oder gar verleugnet.“13
Warum stimmt das?
Ich blättere einmal mehr in der outside the box-Ausgabe zum Thema Gebären und stelle fest, dass in der Ausgabe keine einzige Geburt erzählt wird,14 dafür mehrere Schwangerschaftsabbrüche. Lediglich im Gespräch, das das Heft durchzieht, kommen – wiederum fragmentarisch – Erfahrungen mit dem Gebären zur Sprache.
„Ruth: Ja, aber das Problem ist, dass man oder dass zum Beispiel ich in diesem Diskurs gefangen bin und dadurch selber im Vorfeld der Geburt die Vorstellung und den Wunsch nach was Romantischem und Schönem hatte und dachte, o.k. ich schaff das, ich und mein Kind, wir kriegen das hin; aber da ich dann letztlich einen Notkaiserschnitt hatte, war und bin ich vom Gefühl des Scheiterns geplagt und von so Gedanken wie: ich habe meinem Partner das Kind nicht richtig geboren, ich hab die natürlichste Sache der Welt nicht geschafft, ich hab es nicht hingekriegt mit oder trotz dieser Weiblichkeit.“15
Meine These ist, dass im Fall der zitierten Ausgabe ein Beispiel für die eingangs problematisierte linke und rationalisierende Abwehr der Themen Gebären und Mutterschaft vorliegt. Diese Abwehr ist dabei zwar berechtigt, insofern sie sich gegen die von Benjamin attestierte und durch Ruth weiter ausgeführte Sentimentalität wendet. Trotzdem fehlt ein erster Schritt, in dem man sich zunächst vor Augen führt, woher diese Sentimentalität rührt und worauf konkret sie sich bezieht.
Eine erster Schritt fehlt meiner Meinung nach auch während der Podiumsveranstaltung (Queer)feministische Perspektiven auf Mutterschaft und Mütterlichkeit, die unter StuRa-Flagge im April 2018 in Leipzig veranstaltet wird und viel Stoff für Diskussionen bietet (was die Anwesenden mitnichten daran hindert, die Leipziger Mütter*-Vernetzung empowerment und empoerung//hau raus zu gründen und in ihr eine solidarische Praxis und theoretische Refl exion wagen zu wollen). Suggeriert wird vom Gros der Diskutantinnen, man solle sich nicht mit der konkreten Erfahrung von Frauen, die Kinder bekommen, aufhalten, da diese obsolet seien.16 Geprägt von dekonstruktivistischer Theorie sind performativer Anrufungszauber (wie ich ihn bei Jochen König höre) und „Praxen des Mutterns“ (Sarah Speck), Elternschaft statt Mutterschaft (nur Uta Avenarius hat etwas dagegen) und eine Ermunterung in Richtung „anything goes, einfach solidarisch mit allen sein“ (sinngemäß Hannah Holmes Worte) der Tendenz nach auf dem Podium tonangebend. Der von den Podiumsorganisatorinnen in der Moderation unternommene Versuch, den Widerspruch zwischen zu kritisierender Mutterrolle und nichtsdestotrotz darin erfahrenen Momenten von Glück auszuhalten, wird von einigen Diskutantinnen mindestens als problematisch, womöglich gar reaktionär gewertet. Das Ringen um eine feministische Position zu Mütterlichkeit, die sie nicht dämonisiert, bleibt ein schwieriges Unterfangen. Mitunter nicht zu Unrecht:
„Das Frauendasein, das Hausfrau- und Muttersein, den Mann zu reproduzieren, die Kinder zu erziehen, dafür ihr Lebensziel und jeden anderen Lebensinhalt aufzugeben, bezeichne ich jetzt verkürzt als die gesellschaftliche Funk tion der Frau. Diese Funktion wird gemein hin verknüpft mit der Natur der Frau. Zunächst kann man festhalten: das geschieht nicht zu Unrecht, schließlich bekommen die Frauen die Kinder. Dem schnellen Einverständnis folgt unvermittelt die zweifelnde Frage: Ist denn die Natur der Frauen dermaßen überwältigend, oder, anders gesprochen, können sie ihre Natur so wenig regulieren, dass diese Natur zum Inhalt ihres Lebens werden muss?“17
ENTGEGNUNGEN: Mittlerweile bekämen nicht nur Frauen Kinder, ruft Jochen König auf dem Podium in Erinnerung.18 Nicht nur Frauen, die Kinder gebären, könnten – und dem stimme ich zu – Mütter sein. Jedoch nimmt das kaum etwas von der Heftigkeit, mit der einer Frau, die ein Kind austrägt und zur Welt bringt, ihre Natur auf die Füße fällt. Das Problem ist, dass wir wissen, dass dies nicht sein sollte – allein innerhalb dieser Zeitschrift kann die Debatte darüber, ob und inwieweit Natur in kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen zum bestimmenden Faktor werden muss, verfolgt werden.19 Man kann sich wünschen, trocken aus diesen Gewässern zu kommen, aber ob der Wunsch in Erfüllung geht?
Was wäre ein erster Schritt? Die Rekonstruktion wagen! Was genau strukturiert nun also die Geburts- und Muttererfahrung, was macht sie aus?
Meines Erachtens existieren einige strukturelle Punkte, in denen sich diese Erfahrung – und wir nehmen sie einmal als eine aneinander gekoppelte, also als Geburt plus Mutterschaft – von anderen fundamental unterscheidet. Ich nenne:
– Neuartige Vergesellschaftung als Frau. Die Reproduktionsfähigkeit schwebt, bis man schwanger wird, nur halbausgesprochen in der Luft. Spätestens wenn der Bauch sich rundet, erfährt man sich im Kontext des Mainstreams schnell als Teil eines „Volkskörpers“, mit dem man eigentlich nichts zu tun haben wollte, weil man von Unbekannten und Expertinnen, von Familie und zum Teil sich selbst mit Interventionen konfrontiert wird, die es bis dahin nicht gegeben hat. Freizeitverhalten sei als bekanntestes Thema genannt. Gleichzeitig scheinen Freundinnen und Freunde, mit denen man bis vor kurzem noch in einer selbstverständlichen (auch politischen) Vergemeinschaftung sich glaubte, vor den Kopf gestoßen und wählen, wenn man nicht auf Offenheit pocht, häufi g den altbekannten Weg des Abschiebens ins Private. Mindestens wird das, was man bislang theoretisch erörterte, auf einmal sehr praktisch: Die potentielle, imaginierte und auch wirkliche Reproduktionsfähigkeit der Frau wird – meist nicht bewusst, sondern als Ausdruck der gängigen gesellschaftlichen Vorstellungen, also der Ideologie
– von vielen konkreten Einzelnen genutzt, um diese Frau zu beherrschen.
– Eine starke Konfrontation mit der eigenen Körperlichkeit. Manche ziehen zwar gern den Vergleich, beim Skydiving im Wingsuit mache man auch eine besondere körperliche Erfahrung – wie seien denn Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft davon zu unterscheiden? Blödsinn. Allein schon phänomenologisch muss differenziert werden, muss man anerkennen, dass sich der Grad der Intensität ähneln mag, allerdings die Qualität der Erfahrungen sie voneinander unterscheidet. Allen kritischen Skydivern sei daher gesagt – und hier greife ich etwas vor: „Eine Geburt ist kein Deckchensticken.“
– Und dann wäre da noch der intentionale Aspekt. Wer schwanger wird, will nicht unbedingt die Wehen oder die Geburt, vielleicht nicht mal die Schwangerschaft (sondern: will vielleicht nur nicht den Abbruch). Schwangerschaft als Selbstzweck mag es zwar geben, jedoch kann sie selbst dann nicht getrennt werden von dem Gesamtensemble – zumindest einstweilen, wer weiß, was noch wird? Das heißt, dass sich die Schwangere nicht aussuchen kann, welche körperlichen Erfahrungen sie machen will; auch, weil sie nicht immer in ihrer Hand liegen.
– Existenzielle Erfahrung, Erfahrung von Existentiellem. Ja, ja, ja, es ist schwer, darüber zu sprechen, weil „existentiell“ ganz schön esoterisch klingt und auch metaphysisch und man darum lieber einen großen Bogen machen würde. Doch ungeachtet dessen, dass das Sprechen über Natur allzu oft in esoterisches Fahrwasser gerät, bleibt trotzdem wahr: Die Erfahrung der Geburt und der Mutterschaft wirft mich als gebärende Frau in eine Situation, in der es „um Leben und Tod“ geht. Bei einer Geburt soll bestenfalls am Ende ein neuer Mensch auf der Welt sein. Und das kann nicht von allzu vielen Situationen sonst behauptet werden.
– Eine besondere soziale Verbindung entsteht. Eine Beziehung zu einem Kind trägt Züge, die sie von anderen Beziehungen unterscheidet, und ich bin gewillt zu sagen, dass sie durch die Erfahrung der Schwangerschaft und Geburt noch weiter geformt werden. Daraus folgt keineswegs automatisch eine bessere oder tiefere oder sonst wie positiv zu wertende Beziehung. Aber es wäre absurd, sie nicht als spezifische Erfahrung zu betrachten. Die Verbindung zu einem Kind, ferner: zum eigenen Kind, zeichnen Dimensionen, die anderen sozialen Verbindungen fehlen – idealtypisch seien spezifische Arten des Verantwortungsbewusstseins, der Machtasymmetrie oder der Liebe genannt.
Weitere strukturelle Notizen: „Die junge Mutter hat wahrscheinlich
eine komplexe Mischung von Gefühlen“, schreibt Jessica
Benjamin, „[u]nd in der allgemeinen Sentimentalität, die heute die
Mutterschaft umgibt, werden manche dieser Gefühle vernachlässigt
oder gar verleugnet.“ Die Figur der jungen Mutter (wer ist
sie?), die komplexe Mischung ihrer Gefühle, die die Mutterschaft
definitiv nicht erst seit heute umgebende Sentimentalität, die
Vernachlässigung oder Verleugnung unliebsamer, unduldsamer,
ungewollter Gefühle. Zum Beispiel von Gefühlen der Überforderung,
der Entzauberung, der Einsamkeit, der Schuld. Die Frage
danach, ob man sein Kind richtig oder ausreichend liebt, ob man alles richtig macht, ob man wirklich geeignet
ist, für ein Kind zu sorgen. Im Alltag der Gemengelage
hilft es meist nur wenig zu wissen,
dass Mutterliebe ein normatives Muster der
bürgerlichen Gesellschaft ist oder dass Frauen
geschlechterpsychologisch eine Vorliebe fürs
Sorgen und Kümmern zugeschrieben wird.
Während man sich kümmert, hat man mitunter
die geringste Einsicht in das Verhältnis von
Liebe und Notwendigkeit. Auch darin zeigt
sich wohl besagte Verwobenheit von Gesellschaft
in Natur und Natur in Gesellschaft.
Da wäre noch etwas, worum man sich gerne drücken würde – das
Thema „Reproduktion der Gattung“, die „Gattungsperspektive“:
„Bei der Produktion und Reproduktion der Menschheit geht es um beides, um die Produktion der Menschen selbst als Reproduktion der Gattung und um ihre Erhaltung durch die Produktion von Lebensmitteln. Für beides müssen die Menschen zueinander in Beziehung treten, die Produktion organisieren, die Arbeiten verteilen, entwickeln usw. Produktionsverhältnisse entstehen, die in der Geschichte der Menschen von ihnen nicht bewußt geplant, gemacht, horizontal geregelt werden. Dies gilt ebenso für die Geschlechterverhältnisse bei der Produktion des Lebens. In ihnen positioniert fi nden wir Männer und Frauen. Diese sind wiederum nicht einfach natürliche Geschlechtswesen, sondern als Männer und als Frauen sozial konstruiert. In den Geschlechterverhältnissen können sie außerordentlich verschieden sein. Man kann Kämpfe um die sozialen Formen von Weiblichkeit und Männlichkeit bei allen gesellschaftlichen Umbrüchen studieren. So z.B. in den durch die Veränderung der Arbeitstätigkeiten in der industriellen Produktion und Verwaltung ausgelösten Krisen um das, was Arbeit überhaupt ist und ihre Verknüpfung mit männlichen und weiblichen Identitäten. Wie stark die Geschlechterverhältnisse die jeweiligen Produktionsverhältnisse mitbestimmen, ist kaum erforscht und in den Umbrüchen studierbar.“20
Wenn man Geburt und Mutterschaft als „Produktion des Lebens“ für die „Gattung“ fasst, reicht die Erfahrung über das Individuum hinaus, man zerrt sie aus dem Privathaushalt in die Öffentlichkeit und macht sie politisch. Hieran lässt sich der doppelte Boden erneut zeigen: Dort, wo die gesellschaftliche Totalität ideologisch auf diese Produktion zugreift, entsteht Herrschaft; dort, wo Gesellschaftskritik – also auch und gerade in feministischen Zusammenhängen – geübt wird, soll in Reaktion die Gattungsperspektive gar nicht erst eingenommen werden, um einer moralischen Aufladung der „Produktion des Lebens“ zu entkommen.
In feministischen Zusammenhängen entstehen dadurch mitunter Schieflagen zwischen Frauen, die Kinder auf die Welt gebracht haben, und Frauen, die dies bisher nicht getan haben, nicht tun wollen oder nicht tun können. So machen feministische Mütter Erfahrungen, in denen feministische Theorie in eine bestimmte Alltagspraxis übersetzt wird und sich auf bestimmte Weise am eigenen Leib vollzieht, so etwa, dass über die Zeit der Mütter durch die Kinderbetreuung anders verfügt wird als über die der Väter. Frigga Haugs Aussage: „Feministin wurde ich erst, als ich ein Baby bekam“21 bedeutet nicht zwangskausal, dass sie keine Feministin geworden wäre, hätte sie kein Baby bekommen. Allerdings kann Mutterschaft im gesellschaftskritischen Lebenskontext wie ein feministischer Katalysator wirken, da man auf neue Weise und in neuer Intensität damit konfrontiert wird, nicht mehr „nur“ Frau (und damit potentielle Mutter), sondern (tatsächliche) Mutter zu sein. Also eine gesellschaftliche Rolle auszufüllen, aus der durch Reflexion allein nicht auszubrechen ist, unter anderem, weil in ihr jene spezifische Natur-Gesellschaft-Konstellation herrscht. Wer diese Rolle deshalb ablehnt, hat oft eher „40 Gründe keine Kinder zu haben“22 und eine „Uhr, die nicht tickt“23, anstatt sich auch mit den tatsächlichen Verheißungen von Mutterschaft und Kinderkriegen auseinanderzusetzen. Somit denken die reproduktionskritischen Feministinnen kaum darüber nach, was aus feministischer, gesellschaftskritischer Perspektive Gründe für Kinder wären (etwa, weil man „Kinder total super findet“24). Wäre es nicht schön, nicht nur private Utopien zu spinnen, sondern gemeinsam darüber nachzudenken, warum man mit Kindern leben will?
III. Widersprüche. Darin das Glück suchen müssen
Kann eine historische Anknüpfung gelingen – Mutter und Feministin? In der Zweiten Frauenbewegung streiten sich zwei Extreme miteinander, zum einem ein esoterischer Weiblichkeits- und Mutterkult, zum anderen eine kritische Haltung zur Mutterschaft, die das Negative daran überbetont:
„Feministische Schriften (…) problematisierten etwa den Muttermythos – während sich gleichzeitig andere feministische Strömungen gerade auf traditionelle Mutterschaft beriefen und darüber eine vermeintliche moralische Überlegenheit von Frauen zu begründen versuchten. Beispielhaft für letztere stehen viele Matriarchatstheorien, die gewaltfreie und gerechtere ‚Frauenwelten‘ imaginierten (…).“25
Der marxistische Feminismus bietet einerseits theoretische Erkenntnisse, andererseits zunächst kaum positive Anknüpfungspunkte. So reflektiert zum Beispiel Frigga Haug in einem Videointerview26 bezüglich ihres Mutterseins: „Ich kann nicht weitermachen, ich kann auch nichts anderes machen, ich kann das Kind nicht wegwerfen, es kann mich nicht gänzlich ausfüllen.“ Aber dann sagt sie auch: „[Meine Tochter] ist fantastisch geworden (…), und wir sind ein Herz und eine Seele, nach einer langen Zeit äußerster Entfremdung.“27
Und die faszinierende, umstrittene kommunistische Schriftstellerin Gisela Elsner schreibt an den Schriftsteller Ronald M. Schernikau:
„Seit mehr als dreißig Jahren muss ich für den Riss in einem Präservativ nun büßen. Das ist zuviel verlangt. Ich lasse mich von keiner Macht auf dieser Erde zu einer Mutter degradieren. (…) Das weibliche Geschlecht ist glücklich, wenn es etwas über sich ergehen lassen kann. Deshalb hat es im Hinblick auf die Geschichte und die Errungenschaften der Menschheit erschreckend wenig vorzuweisen. Nicht einmal den Schwangerschaftsabbruch haben sich die Weiber zu erkämpfen vermocht. Er ist ein Gnadenakt der Männer. Lachhaft finde ich die Emanzipationsversuche der Weiber. Kaum dass die ihre Doktorarbeiten geschrieben haben, wünschen sie sich nichts sehnlicher als ein Kind. In der Versklavung sehen sie ihr größtes Glück. Beim Anblick von Säuglingen stoßen sie Entzückungsschreie aus.“
Doch zugleich schreibt sie an die Mutter Schernikaus: „Eines muss ich Dir allerdings gestehen: Ich beneide Dich, weil Du einen Sohn geboren hast, dessen Mutter ich liebend gern gewesen wäre. Du wirst als Ronalds Mutter in mir trotz meiner Unmütterlichkeit immer eine Konkurrentin haben.“28
Der Versuch einer Vermittlung klingt bei Frigga Haug dann wie folgt:
„Diese Kinder, wenn sie klein sind, wenn man mit ihnen allein zusammensitzt, sind eine totale Unterforderung und Überforderung in Einem. Sie brauchen einen dauernd, dann aber schlafen sie zu viel. Und man kann gar nichts mit ihnen anfangen, und man kann sowieso ja nicht mit ihnen sprechen, weil sie als Babys viel zu klein sind, das heißt man hat einen Überschwang an Bedürfnis, mit ihnen zu kommunizieren, und dann einen Überdruss, sie sollten nicht da sein!, und in diesem Widerspruch habe ich Köln verlassen, das Kind ergriffen, bin wieder zurück nach Berlin.“29
Ein Widerspruch der Bedürfnisse, ein Spannungsfeld kurz vor dem Bersten, eine Anhäufung von Ambivalenzen, Konflikten, Krisen. Was ist mit den Müttern, die Feministinnen sind, aber trotz aller kritischer Reflexion der Mutterrolle sich in ihr wohlfühlen (wollen)? Für die die Kommunikation mit dem Säugling und dem Kleinkind kein „ziemlich reduzierter Code“ ist, sondern eine Bereicherung? Die es lieben, am Spielplatz zu sitzen? Die, Geschlechterpsychologie hin oder her, gerne fürsorglich sind?
Diese Fragen treiben uns um in einer kapitalistischen gesellschaftlichen Totalität; trotzdem bleibt weiterhin anzunehmen, dass, obgleich Geschlechterverhältnisse Produktionsverhältnisse sind, ihr jeweils konkreter Zusammenhang nicht ohne Weiteres zu bestimmen wäre.
„Wir kommen hier zu einem (…) Paradox, das ich verkürzt folgendermaßen charakterisieren möchte: Die Frauenunterdrückung hängt ganz offensichtlich mit Bereichen und der Fesselung an sie zusammen, die sich gegensätzlich zu den Kapitalgesetzen bestimmen. Das macht, dass sie von der Befreiungstheorie der Lohnarbeiter, dem Marxismus, nicht nur nicht erfasst wird, sondern sogar auf der Seite der Befreiung eben jene Teile der Frauenleben angesiedelt scheinen, die ihre Unterdrückung ausmachen. Mütterlichkeit, Befriedigung von Bedürfnissen unabhängig von der Leistung, Liebe, Fürsorge, Wohnlichkeit, das sind sozialistische, gar kommunistische Ziele und zugleich die Fesseln, in denen die Frauen heute leben.“30
Ich vertrete die These, dass unser Begehren, aus der Unterdrückung auszubrechen und diese Befreiung im Feminismus (als Bewegung und als Theorie) zu suchen, sich unverändert mit genau diesen Fesselungen an die „Seite der Befreiung“, auf der unter anderem Mütterlichkeit zu verorten wäre, beißt. Daher die Scham, als Feministin gerne Mutter zu sein. Man könnte den oft gehörten Einwand anbringen, seit dem Erscheinen obiger Zeilen hätte sich vieles gewandelt – als Stichwort sei hier der Terminus „Staatsfeminismus“ genannt. Ich würde dem immerzu entgegnen, dass sich seither das Entscheidende aber doch nicht verändert hat, weshalb wir uns über gewichtige neue Facetten des Lebens im kapitalistischen Gesamtzusammenhang verständigen müssen, sein Prinzip jedoch nach wie vor an Gültigkeit nichts verloren hat.
Dieser Versuch einer theoretischen Durchdringung mindert nicht die Hoffnung auf den rettenden Sprung eine dialektische Alltagspraxis: Ja, ich kann Mutter sein, aber trotzdem Feministin. Ich kann Feministin sein, und trotzdem bin ich gerne Mutter.
Pathetisch möchte ich hinzufügen: Wer kann uns die Absolution hierfür geben? Vermutlich nur wir selbst. Wenn aus Scham Emanzipation würde –
IV. Rekonstruktion, Teil 2: Geburt/Mutter konkret
„Zur Frau sprach er: Ich mache dir viel Beschwerden und lasse deine Schwangerschaften zahlreich sein, mit Schmerzen wirst du Kinder gebären. Nach deinem Mann wirst du verlangen, und er wird über dich herrschen.“31
„Maike: Lotte, von dir hat man ja vor allem Positives über die Schwangerschaften und Geburten gehört … Lotte: Ich habe vor allem meine erste Geburt als sehr positiv, als etwas ganz Besonderes erlebt und bin mit dieser Wahrnehmung wohl eher dem gängigen Diskurs gefolgt – das bedeutet jedoch nicht, dass es von vorn bis hinten angenehm war. Trotzdem habe ich nach der Geburt meines ersten Kindes hinterher meinen Freunden erzählt, es sei ein schönes Erlebnis gewesen. Zwar habe ich auch die zwei Stunden erwähnt, in denen gar nichts mehr ging, in denen mir der Schmerz einfach unerträglich schien – aber: Die gehen vorbei. Dass es diese Schmerzen zwar gab, ich ihnen aber in meiner Erzählung hinterher so wenig Raum gegeben, sie sofort rationalisiert und lapidar abgetan habe, das entspricht genau diesem klassischen ‚Im besten Fall vergisst man das schnell.“32
Wer eine schöne Geburt hatte, braucht an dieser Stelle nicht weiterzulesen. Oder doch?
„Für die meisten Frauen (…) gilt wohl, daß sie während einer Geburt nicht mehr Herr ihrer selbst sind, daß sie von dem qualvoll wühlenden Gedränge in ihrem Leib einfach überwältigt werden (…). – Ich erwähne dies, weil mich eine (…) die Begeisterung der Frauenbewegung für die natürliche Geburt begleitende Tendenz zur Verharmlosung des Geburtsschmerzes stört. Was ich damit meine, wird an diesem Beispiel deutlich: Die Autorin eines Kursleitfadens zur Schwangerschaftsgymnastik lehnt es ab, von ‚Wehe‘ zu sprechen – sie schlägt als Ersatz das Wort: Kontraktion vor –, weil im Wort Wehe unauslöschlich der Schmerz mitklinge, den es ihrer Überzeugung nach nicht zu geben braucht. – Ich finde das alte Wort Wehe schöner als ‚Kontraktion‘ – und auch treffender. Denn daß Wehen wehtun, ist nicht wegzureden und auch nicht wegzuüben. Und ich frage mich, warum alle Welt so große Anstrengungen unternimmt, um die Schmerzen aus der Geburt – aber auch sonst aus menschlichen Zuständen – auszutilgen (…)? Geht es denn wirklich darum, eine Geburt – sei es durch Betäubungsmittel, sei es durch Exerzitien – gänzlich schmerzlos zu machen, geht es nicht eher darum, die Herabsetzung des Schmerzes zu einer Störung oder einer Schande wieder aufzuheben? – Natürlich bin ich für eine möglichst schmerzarme Geburt. Alles, was dem Kind und der Frau nicht in anderer Weise schadet, sollte dafür getan werden. (…) Aber das Problem hört für mich hier nicht auf. Ich frage mich: (…) Ist gar nichts am Schmerz, das einer Erfahrung wert wäre? Hängt unsere mangelnde Bereitschaft, ihm zu begegnen, vielleicht mit der bedrohten Fähigkeit der ‚modernen‘ Menschen zum Mitleiden zusammen? Und mit unser aller gebrochenem Vermögen zum Erleben von Lust? (…) Was wir (…) zu vergessen scheinen, ist, daß die Natur nicht harmonisch ist. Sie ist gewalttätig und blutig, auch da, wo sie das menschliche Leben beginnen läßt. Es ist also die Frage, ob sie in irgendeiner Weise Instanz sein sollte bei der Gestaltung des menschlichen Lebens. Und wenn wir uns auf die Natur berufen, dann müssen wir auch wissen, wem wir uns da ausliefern. Eine ‚natürliche Geburt‘ ist kein Deckchensticken. Also was ist sie? – Sie ist ein gewaltsamer Loslösungsprozeß, der für die Sich-Trennenden oder besser: für die von der Natur zu Trennenden gleichermaßen schmerzhaft und schmerzlich, willkommen und groß ist. Vielleicht gibt es im menschlichen Leben kein anderes Ereignis, in dem sich Gegensätze des psychophysischen Erlebens so roh und gleich stark ineinanderkeilen: Nicht-Wollen und Wollen, Angst und freudvolle Erwartung, Schmerz und Begeisterung. Alles, was während einer Geburt geschieht, was die beiden Hauptbeteiligten erleben, ist zunächst mal bezogen auf den Körper der/des je anderen, es ist Interaktion von Körpern, die sich voneinander losreißen, sich dabei empfindlich verletzen und zugleich konstituieren, einander wehtun und wohl zugleich. Am Ende dieses Akts ist der Kinderkörper überhaupt erst ein Körper für sich, und der Mutterkörper ist wieder einer für sich. Für die Frauen – vielleicht auch für die Kinder – liegt im Ende der parasitären Zwei- Einheit eine an Seligkeit grenzende Erleichterung. Es ist fast so, als sei nicht nur das Kind, sondern auch die Frau – als ihr alleiniger Körper – neu geboren worden. Das Glück der Frau über ihr Wiedergeborensein mischt sich mit der Freude über die Neugeburt des Kindes. (…) – Eine Geburt ist eine Krise, ein ambivalentes Erleben bei Frau und Kind. Sie ist das nicht nur wegen der Schmerzen und Schrecken, sondern auch wegen des bei Frau und Kind immer latent wirksamen Widerstands gegen die Trennung, die doch von beiden ersehnt und schließlich von der Natur erzwungen wird. Ich weise hin auf diese Ambivalenz, weil die Neigung, alles, was mit der Geburt zusammenhängt, in eine potentielle Harmonie aufzulösen (wenn es nur gelingt, die verdammten Schmerzen auszuschalten), Illusionen zu wecken droht, die nicht nur das Geburtserlebnis, sondern auch das spätere Zusammenleben mit dem Neugeborenen verschatten können.“33
Sichtermanns Ansatz wohnt unübersehbar Widersprüchliches inne. Einerseits solle der Schmerz, präziser der Geburtsschmerz, nicht verharmlost werden, ist er doch als natürliches Ereignis ein brutaler Schmerz, „kein Deckchensticken“. Die Natur sei nicht mit Harmonie zu assoziieren, sondern mit Gewalt. Andererseits zeige sich in der Tabuisierung des Schmerzes, wie sie Teile der Frauenbewegung unternahmen, ein Manko, ein Unvermögen zum Mitfühlen, gar zum Lustempfi nden. In diesem Sinne müsste es, obwohl der Geburtsschmerz eine Form von Gewalt darstellt, eine Hinwendung zu diesem Schmerz geben. Man kann ihn nur wollen, wenn man sich darauf einlässt, die Geburt als das zu sehen, als was sie Sichtermann beschreibt – rohes Spektakel, ambivalentes „Nicht-Wollen und Wollen“. Assoziiert wird Sichtermanns Buch über das Leben mit einem Neugeborenen mit den Müttergruppen des differenzfeministischen Flügels der Zweiten Frauenbewegung,34 markiert also einen der beiden Pole in der Diskussion von Mutterschaft innerhalb der feministischen Geschichte.
Ich gehöre zu denjenigen, die bezüglich ihrer Geburtserfahrung einstimmen in den ewigen, von vielen gekannten, imaginierten und teils realen Chor: „Warum hat mich niemand gewarnt? Wie konntet ihr, unsere Vorgängerinnen, die ihr doch auch Frauen seid, uns verheimlichen, wie schrecklich das ist? Gibt es einen Komplott, bei dem sich alle geeinigt haben, über die Schrecken einer Geburt zu schweigen?“ Alle sagen dann, es würde sich schon vergessen. Meine Mutter kommt rasend schnell in die Stadt, in der ich nach der Entbindung fürchte, das alles nicht verkraften zu können, und gibt lachend zu: „Beim zweiten Kind ging die Geburt los, und ich dachte: Du hast es doch gewusst, du hast doch genau gewusst, wie es wird – warum zum Kuckuck hast du dir das Ganze hier eingebrockt, verdammt!?“ Aber dann hat sie noch ein drittes gekriegt und sogar mit einem vierten geliebäugelt. Das Unglaubliche tritt auch bei mir ein: Ich beginne zu vergessen. Werde ich mich in den Mantel des Schweigens hüllen und in das Komplott mit einsteigen? Vermutlich tue ich es jetzt schon, indem ich mit Frauen, die schwanger sind, nicht über meine Geburt spreche, um ihnen nicht unnötig Angst zu machen.
Jede erfährt sie schließlich anders. Eine Bekannte: „Ich habe wirklich
keine Ahnung, was eine traumatische Geburt ist. Meine tat ein
bisschen weh, aber sie war insgesamt schön.“
Danach das Stillen. Eine ehemalige Freundin der Familie aus der
Generation meiner Mutter behauptete, das Wickeln eines Säuglings
sei für sie besser als Sex. Während ich eine Lust am Stillen
nachvollziehen kann, weil der Milchspendereflex, wenn er stärker
ausfällt, ein ziemlich erregendes Kribbeln in der Brust und davon
ausgehend im ganzen Körper bereitet, will ich das mit dem
Wickeln nicht richtig nachvollziehen. Allerdings, wer weiß, vielleicht
kann man schlicht alles libidinös besetzen?
Nach der Geburt hilft mir vor allem meine Mutter. Ihr zufolge fühlt sich die Wöchnerin deshalb so überfordert, weil sie heutzutage über weite Strecken allein gelassen wird. Die Hebamme kommt nur kurz, die Arztpraxen sind überlaufen, die Freundinnen mit Kindern sind mit eben diesen beschäftigt. Manche Hilfe kann von Freundinnen ohne Kinder erfolgen, aber die meiste Zeit bin ich dankbar, dass mir jemand mit Säuglingspflegeerfahrung zur Seite steht. Meine Mutter besucht uns, so oft sie kann. In meinem Umfeld bin ich allerdings die Einzige, die sich auf den Rat ihrer Mutter verlassen würde. Trotzdem haben auch wir manchmal Streit.
In der Sowjetunion gab es einen Zeichentrickfilm mit dem Titel Äffchen, der von einer Familie handelt: einer (scheinbar alleinerziehenden?) Affenmutter, die Vierlinge im Kleinkindalter und einen Säugling zu versorgen hat. Abgesehen von anderen Stereotypen, die darin verarbeitet wurden, liefen alle Episoden nach dem Muster ab, dass jedes noch so kleine Vorhaben der Mutter durch die Wuseligkeit und Neugier der Kinder in einem riesigen Chaos mündete, für das die permanent abgehetzte, abgewetzte Affenmutter, völlig mit ihren Nerven am Ende, bei allen im Umfeld zu Schaden Gekommenen stets demütigend um Verzeihung bitten musste. Dazu erklang eine gar lustige, die angerichtete Unordnung untermalende Musik, und meine Schwestern und ich kugelten uns vor Lachen, als uns diese Filmchen (auf VHS, schon in den Neunzigern, in Deutschland) gezeigt wurden. Heute stimmen meine Mutter und ich das Titellied an, wenn es mit M. wuselig wird. Sie unter dem Tisch steckt, obwohl sie auf der Decke liegen sollte, zum Beispiel. Verstehe, wer will.35
V. Partnerschaft, Familie
Frustriert und ohnmächtig schrieb ich kurz nach der Geburt unserer Tochter folgende Zeilen:
Viele Frauen, die in einer Beziehung mit einem Mann leben und mit ihm Kinder kriegen, kommen schnell an den Rand ihrer Fähigkeit, diesen Mann im Umgang mit ihnen, dem Kind und der neuen Familie zu verstehen. Gerade noch hat man sich in Kreisen bewegt, in denen Gleichberechtigung und Feminismus, Emanzipation und Solidarität gleichsam über allem schwebten. Niemals hätte eine von uns erwartet, dass die in der Theorie tausendfach durchgekauten Fallen gleich in den ersten Wochen zuschnappen und unsere ach so emanzipierte Zweierbeziehung zu begraben drohen würden. Die Lektüre weiser Literatur hilft nicht, es trifft uns unvermutet und arg. Zuvor wähnte ich mich sicher, auch weil wir zwei doch wie wild diskutierten, beobachteten, sahen: Die Paare mit Kindern, bei denen die Frauen entweder in Therapie gehen oder sich trennen – nicht, weil sie ihren Partnern nichts mehr zu sagen hätten, sondern weil sie fast körperlich schmerzt, dass der Wunsch nach völliger Gleichberechtigung mit dem Eintritt der Kinder ins Leben sich nicht nur nicht einlöst, sondern auf gravierende Weise in weiteste Ferne rückt. Das sollte anders werden! Manche dieser Männer, in diesen bestimmten Kreisen mit emanzipatorischem Begehr, wollen nicht. Das zu vermuten ist recht simpel. Allerdings kaum zu begreifen bleibt, dass viele von ihnen wollen, jedoch nicht können. Sie vermögen nicht, das neue Wesen zu spüren, wie man selbst es gar nicht wahrhaben kann, dass man es doch sekündlich spürt. Dieses unbeabsichtigte Unvermögen, das wir gesellschaftskritisch so rigoros durchreflektieren können – wieso führt es nicht zu den Veränderungen, die wir für ein gutes Leben mit Kindern brauchen? Auch an dieser Stelle staune ich grenzenlos darüber, wie das Biologische mir und uns seine tausend Schnippchen schlägt. Ich kann nicht vergessen, dass ich stille, weil ich den Milcheinschuss spüre und die Schwere der Brust. Ich denke auch immer an den kleinen Nabel, er fühlt sich beinah an wie meiner. Ich kann kein Gespräch mitverfolgen, weil mein Gehirn voll ist mit nächsten Mikroaufgaben, die sich alle um das Kind drehen. Ich fühle mich nicht halbiert oder gefesselt, sondern potenziert um ein ganzes weiteres Ich. Niemals kann ich vergessen, dass es sie gibt. Mein Partner schon. Er kann! Er kann und wird, ohne es zu merken. Er wird weiterschlafen, er hat Ohrstöpsel drin. Er kann nicht aufstehen, im Sinne von: Er kann nicht. Es geht nicht. Ich bin empört von dieser Unverschämtheit, ich rebelliere, ich will nicht einsehen, dass das keine bewusste Entscheidung ist. Alles steht klar vor Augen, die gesellschaftliche Auswirkung von Biologie, wie unter dem Mikroskop zu sezieren. Der Streit bringt keine Linderung, sondern zehrt an mir, bis ich fast zerplatze. Erst ein kleiner Kommentar meiner ehemaligen Zimmernachbarin auf der Wochenbettstation, die ich kurz besuche, führt mir vor Augen: „Wir sind doch auf Drogen. Die Hormone wirken, das ist kein Scherz!“ – Ja, stimmt. Ich kann aufstehen, versorgen und nicht zusammenbrechen, obwohl ich beim Aufwachen denke: Diesmal nicht, diesmal schaffe ich es wirklich nicht. Aber ich schaffe es! Ohne größere Not finde ich in den Tag, an dem ich Mutter bin und mich um einen Säugling kümmern kann. Ich beginne, mich mit Zuständen abzufinden, die ich vor den ersten Wochen meiner Mutterschaft höhnisch verlacht hätte. Meine eigene Mutter hatte mich immer gewarnt, sie hatte diese Erzählung stets vor sich her getragen, mich damit genervt. Selbstverständlich fand ich das extrem reaktionär und glaubte ihr kein Wort. In ihrem Leben ist das vielleicht derart gewesen, weil sie in einer Umgebung lebte, in der gar niemand erwartet hätte, dass Männer sich für Kinder und ihre Aufbringung interessieren könnten, geschweige denn, das Letztere als ihre Aufgabe sehen würden. Begründet hat sie das unzählige Male mit „Natürlichkeit“, das sei eben so, von der Natur der Sache her. Kann das denn wirklich wahr sein? Das kann doch wohl nicht wahr sein!
Obiges schrieb ich, ja. Das habe ich geschrieben. Ich erinnere mich dabei genau an die Affekte, die mich schrecklich verzweifeln ließen. Seither sind einige Monate vergangen. Mit der Distanz der Entronnenen kann ich wieder überdenken, ob es wirkliches Unvermögen war, das meinen Partner schlafen ließ. Die Hormone lassen mit der Zeit auch nach, wobei ganz sicher hinterfragt werden muss, inwieweit Hormone überhaupt ausreichend kausale Erklärungen für Verhalten und Empfi nden bieten können.36 Meine Erfahrungsaufzeichnungen belegen an vielen Stellen, wie ich dem Dilemma, Natur von Gesellschaft nicht unterscheiden zu können, erliege. Bin ich wach, weil die Hormone wirken? Wirken sie überhaupt? Oder wirkt die Erwartung, aufstehen zu müssen? In der Paarbeziehung hat sich eine langsame Annäherung eingestellt. Mantraartig wird in der ersten Zeit mit Kind gesagt: „Ihr müsst das erste Jahr überstehen, dann wird es leichter“; beim Mütter*-Stammtisch: „Es wird besser, mit der Zeit wird es definitiv besser.“ Eine andere Freundin: „Eine Weisheit lautet wohl, nicht alles auf die Goldwaage zu legen, was zwischen Eltern im ersten Lebensjahr des Babys gesagt wird.“ Unendliche Geduld und die Frage, ob Zeit alles richten kann. Gleichwohl kann ich nicht leugnen, dass, je älter das Kind wird, desto mehr ins Gewicht fällt, dass wir uns als drei Erwachsene den Haushalt teilen. Die Wahlfamilie ersetzt stück- und glücklicherweise die kleinste Einheit. Aber es hinterlässt einen schalen Nachgeschmack, sich mit „So ist das nun mal, am Anfang muss die Frau ran“ arrangieren zu müssen.
Vielleicht arrangieren sich andere gar nicht so. In einer Ausgabe der, gelinde gesagt, nicht besonders gesellschaftskritischen Mainstream- Zeitschrift eltern finde ich einen interessanten Leserinnenbrief mit dem Titel Wir bereuen nichts: „Ich lese gerade den Artikel ‚Ich & Ich‘ und ärgere mich doch sehr. Ich höre von vielen Frisch- und Altmüttern immer wieder, wie schlimm die ersten Jahre mit Baby sind und wie viel sie zurückstecken müssen. Ich scheine die einzige in meinem Umfeld zu sein, die das nicht so empfindet. Wir haben vier Jahre mit Ärzten, meinem Körper und unserem Schicksal gekämpft, endlich ein Baby in die Welt setzen zu können. Wohl wissend, dass sich alles ändern wird. Und wir wollten genau das. Das volle Programm. Wir, weil wir zwei Mamas sind und sich darüber hinaus das Leben für uns beide ändert. Familie Köhler.“37
B. und M. sind lesbisch und Mütter einer neugeborenen Tochter, ich lerne sie über die neu entstandene Vernetzung empowerment und empoerung//hau raus kennen. M. setzt sich vehement mit ihrer Rolle als „nichtgebärender Elternteil“ auseinander und äußert Unbehagen, als das Gebären, Stillen und anderweitig biologische Muttersein zu viel Raum in der Gruppendiskussion einnimmt. Es kommt zum guten Disput. Auf die Frage, was B. an dem Gespräch störe, antwortet sie: „Von M. trennt mich nur die Schwangerschaft, die Geburt und das Stillen. In allem anderen bin ich genauso Mutter wie sie.“ Daraufhin entgegne ich: „Na und mich stört, wenn man von Schwangerschaft, Geburt und Stillen so spricht, als wäre es nur…“ B. entgegnet: „Es ist eine Frage des Trainings. Wenn sich Nichtgebärende wirklich dem Neugeborenen widmen, erlernen sie genauso Fähigkeiten, die sonst nur der biologischen Mutter zugesprochen werden. M. wacht von Hungerschreien auf und verschläft die Verdauungsgeräusche, weil ich aber für das Wickeln zuständig bin, wache ich von eben jenen auf. Wenn man sich derart von Anbeginn die Mutterschaft teilt, bekommen Gebärende die Zeit und den Raum, sich von der Schwangerschaft, der Geburt und dem Stillen zu erholen, der ihnen eigentlich zusteht.“
VI. Utopie?
„Konjekturalbiographischer Bericht einer Achtunddreißigjährigen: Im Alter von neununddreißig Jahren gründete Valeska eine Familie. Mit Gerda und Marie. Gerda hatte zwei Töchter, Marie einen Sohn, plötzlich hatten die drei Frauen zwei Töchter und zwei Söhne. Reichtum, den sie sich vorher hatten versagen müssen. Die Freunde wohnten außer Haus. Es stand auf dem Prenzlauer Berg. Alt, hohe Räume, die Frauen hatten ihre Wohnungen getauscht gegen eine fünfzimmrige Etage, vormals Arztpraxis. Jeder Frau gehörte ein Arbeitszimmer; Küche, Kinderzimmer und Familienzimmer waren allgemein zugänglich. Nachdem die Strapazen des Umzugs überstanden waren, machte sich im wöchentlichen Wechsel jeweils eine Frau für die Beschaffung der Lebensmittel, Saubermachen oder Kinderbeaufsichtigen verantwortlich. Da alle erwachsenen Familienmitglieder ranggleich Hausarbeit gewohnt waren, gewannen sie täglich Freizeit. Die Kinder waren sämtlich im Vorschulalter, die Mütter nicht in Schichtarbeit. Zwei hätten jeden Abend Theater besuchen können oder Kino, so viele gute Stücke und Filme konnten gar nicht gespielt werden. Aber es gab auch Versammlungen und Bücher und wissenschaftliche Arbeit. O wundersame Freiheit, exotische, fast unbequeme anfangs. Schon nicht zur Arbeit zu hasten fiel Valeska schwer, auch abends verantwortungslos an Geschäften vorbei nach Hause zu gehen. Der Weg, bisher ein Tunnel, den sie geneigten Kopfs durcheilte, gewann mählich Pflaster, Fassaden, Gewölk. Daß die Zärtlichkeitsform, jemandem Essen zu geben, von Frauen nicht nur geübt, sondern auch empfunden werden kann, erlebte sie verwundert. Besonders, wenn ihr abends der Tisch gedeckt war. Sieben Esser saßen dran. Valeska hatte sich immer eine große Familie gewünscht. Besonders die Einzelkinder freuten sich der unverhofft gewonnenen Geschwister, renommierten mit ihnen. Auch mit ihren drei Müttern und drei Vätern, den Verlust der Privilegien verwanden sie schnell. Erziehung leichter gemacht. Brüderliches Leben: das heißt schwesterliches. Gerda war Diplomingenieurin für Elektrotechnik, Maria Finanzökonomin, Valeska habilitierte vorm geplanten Termin. Gewöhnt an die Zerstückung ihrer Kräfte, zwangsweise Simultanität von Tätigkeiten und Gedanken, saß Valeska anfangs unruhig in ihrem Zimmer am Schreibtisch. Mühsam trainierte sie sich aus der Hetze, die sich als Lebensrhythmus eingeprägt hatte. Da fiel ihr auf, daß Sparsamkeit mit Zeit zu Geiz entartet war. Die Fähigkeit, gelassen die Zeitung zu lesen, ein Buch oder wissenschaftliche Literatur, hatte sie derart verloren, daß Mühe erforderlich war. Freilich kann eine Mutter ihr Kind nie so weit vergessen, daß die Sorgen um sein Wohlergehen aus ihrem Kopf wichen und die besetzten Speicherplätze im Gehirn anderen Gegenständen zur Verfügung wären. Eine Frau muß selbstverständlich begabter sein, wenn sie das gleiche wie ein Mann erreichen will. In Berufen, die verlangen, daß der Mensch sich ausgibt, in wissenschaftlichen zum Beispiel, wird das deutlich, in anderen nicht, da verschleißen sich die Frauen nur schneller durch Doppelbelastung, was dem Schönheitsideal strikt zuwidergeht. Valeskas Vater besuchte die Frauenfamilie regelmäßig. Die Kinder nannten ihn ‚Opa Franz‘. Er erzählte Märchen, in denen Marx und Sibirien persönlich auftraten. Valeskas Mutter Berta nannten die Kinder ‚Oma Berta‘. Sie strickte für die Familie. Rudolf kam unregelmäßig. Der Abstand hielt die Neigung jahrelang. Ohne Überanstrengung und Überforderung. Valeska wartete jetzt anders auf Rudolf als früher. Ruhiger, die Tage ohne ihn waren keine Makulatur, die Leidenschaft schrumpfte das Gegebene nicht mehr und blähte das Gewollte. Die Liebe verlor ihr dogmatisches System mit Naturereignischarakter, das die Welt mit großen Gesten vergewaltigt. Ereignisse und Gegenstände näherten sich vergleichsweise ihrem Eigenwert. In freundlichem Umgang war Vielfalt, schöne Menschengemeinschaft.“38
VII. Schlussendlich
Obiges utopisches Zitat entstammt dem großartigen Roman
Irmtraud Morgners Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz.
Er spielt allerdings in der DDR, so dass Lohnarbeit zumindest der
Idee nach (gewiss nicht immer der Erfahrung nach) als nichtentfremdete
Tätigkeit aufscheinen konnte. Auch die Geschlechter
sind eindeutig binär gefasst. Trotzdem spendet es mir Trost, denn
Valeska entwirft ein Leben, in dem Alltag, Wohnen, Haushalt,
kreative (wissenschaftliche) Tätigkeit, die Verfügung über Zeit,
Solidarität, Kinder und Liebe zueinander finden.
Von einer nahen Freundin erhalte ich eine Nachricht. Sie schreibt:
„Für ein Lebewesen sorgen zu wollen, ein Lebewesen heranwachsen
sehen zu wollen, ist ein legitimes Bedürfnis. (Ich weiß, dass du
das weißt.)“ – Ich würde gerne diesem Bedürfnis in einer befreiten
Gesellschaft gemeinsam mit anderen nachgehen. Wann fallen
endlich unsere Selbstveränderungen mit der Veränderung der
Umstände zusammen?39
Alexandra Ivanova ist freie Autorin und Übersetzerin aus dem Russischen. Ihr Kind hat sie im Herbst 2017 – am gleichen Tag wie Sabrina Zachanassian – zur Welt gebracht. Sie interessiert sich für Marxismus-Feminismus, weil mit seiner Hilfe als oberstes Ziel der Analyse die Veränderung der gesellschaftlichen Umstände aller Menschen in Angriff genommen werden kann. Wäre dieses Ziel verwirklicht, würden die Gräben zwischen verschiedenen Auffassungen des Feminismus sowie der Feminismus selbst obsolet werden.
-
Haug, Frigga: „Attacken auf einen abwesenden Feminismus. Ein Lehrstück in Dialektik.“ In: Das Argument 274. Hamburg 2008. S. 18. ↩
-
Dorrzn, Lena: „Streit um Geschichte.“ In: outside the box. Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik #5/Streit. Leipzig 2015. Umschlag. ↩
-
„Ein Gespräch entstehen lassen.“ In: outside the box. Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik #3/Gebären, Leipzig 2011. S. 2ff. Die erweiterte Onlineversion, der das Zitat entstammt, ist unter www.outside-mag.de/papers abrufbar. ↩
-
Vgl. hierzu: Haug, Frigga: Der im Gehen erkundete Weg. Marxismus-Feminismus. Berlin 2015. Argument/InkriT. S. 79. ↩
-
Vgl. hierzu: Lent, Lilly/Trumann, Andrea: Kritik des Staatsfeminismus. Oder: Kinder, Küche, Kapitalismus. Berlin 2015. Bertz + Fischer. ↩
-
Es ist bedauerlich, dass die Erfahrungen von Frauen und Müttern in der DDR einen blinden Fleck der feministischen Auseinandersetzung bilden und so gut wie nie in allgemeine geschichtliche Betrachtungen Eingang fi nden; Lilly Lent und Andrea Trumann bspw. beziehen sich ausschließlich auf die westdeutsche feministische Bewegung. Dabei wären u.a. im sogenannten Weiblichen Schreiben von DDR-Autorinnen wie Brigitte Reimann und Irmtraud Morgner feministische Perspektiven und Positionen zu rekonstruieren, die für eine aktuelle Analyse vermeintlich gesamtdeutscher Verhältnisse unentbehrlich sind. Für einen Überblick zu Frauen in der DDR vgl. AFBL (Antifaschistischer Frauenblock Leipzig): Frauen in der DDR. Gleiche Rechte – doppelte Pflichten?“ In: outside the box. Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik #1/Emanzipation. Leipzig 2009. S. 50-54. Unter https://www.outside-mag.de/issues/1/posts/73 online. Vgl. ebenfalls: Hofmann, Anne/Zimmerhackl, Katharina: „Fotoarbeit [zu arbeitenden Frauen in der DDR/ A.I.].“ In: outside the box. Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik #4/Arbeit. Leipzig 2013. S. 83-101. ↩
-
Vgl. Lent/Trumann: Kritik des Staatsfeminismus. S. 88ff. ↩
-
Marie Reusch behandelt in ihrer kürzlich erschienenen Studie (Reusch, Marie: Emanzipation undenkbar? Mutterschaft und Feminismus. Münster 2018. Westfälisches Dampfboot) kritisch ebendiese historische Entwicklung feministischer (akademischer) Theoriebildung und entwirft ein Modell, in dem die Komplexität von gleichzeitiger Unterwerfung und Emanzipation in der Erfahrung von Mutterschaft bestehen kann. ↩
-
Vgl. etwa Dolderer, Maya et al. (Hrsg.): O Mother, Where Art Though? (Queer-)feministische Perspektiven auf Mutterschaft und Mütterlichkeit. Münster 2018. Westfälisches Dampfboot (2. Aufl.); Mecklenbrauck, Annika/Böckmann, Lukas (Hrsg.): The Mamas and the Papas. Reproduktion, Pop & widerspenstige Verhältnisse. Mainz 2017. Ventil Verlag (2. Aufl.); Marie Reusch, s. Fußnote 8 in diesem Text. ↩
-
Lena Saenger und Louisa Kamrath (2018) formulieren auf umstandslos. magazin für feministische elternschaft ganz ähnlich: „In den aktuellen feministischen Debatten im deutschsprachigen Raum stellen Themen rund um Mutter- und Elternschaften eher Randerscheinungen dar. Als wäre der Rückzug ins Private auch in feministischen Kreisen mit dem Übergang ins Elternsein unvermeidlich. Und als gäbe es ihn, den unpolitischen Raum des Elternseins. Völlig zu Recht stehen linke und feministische Lesarten retraditionalisierenden Tendenzen gegenüber. Doch wie weiter?“ (https://umstandslos.com/2018/08/10/maternidades-subversivas-die-feministische-postporn-aktivistin-und-mutter-maria-llopis-u%cc%88ber-mutter-und-elternsein-als-politischem-zustand/). Vgl. auch den Blog linkslebenmitkindern.org ↩
-
Reusch: Emanzipation undenkbar? S. 20. ↩
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Geburt und Mutterschaft/Mutter-Sein sind nicht notwendigerweise aneinander gekoppelt: Soziale Mutterschaft, Geburt ohne anschließende Mutterschaft oder Surrogatmutterschaft sind Beispiele, bei denen diese zwei Phänomene in einem anderen Verhältnis zueinander stehen als im Fall der Mutterschaft nach Geburt des eigenen Kindes. Ich möchte Letzteres jedoch als spezifische Erfahrung ins Zentrum meiner Überlegungen rücken. ↩
-
Benjamin, Jessica: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt am Main 1990. Stroemfeld/Roter Stern. S. 17f. ↩
-
Ein aktuelles Beispiel für die (literarische) Schilderung von Gebären findet sich bei Molle, Marie: „baby born//baby alive.“ In: PS Politisch Schreiben. Anmerkungen zum Literaturbetrieb #4. Leipzig 2018. S.236-241. ↩
-
„Ein Gespräch entstehen lassen.“ S. 21. ↩
-
Es entstand auch in der anschließenden Publikumsdiskussion durchaus der Eindruck, dass Mütter, zumal cis und heterosexuelle, konkurrieren müssten um den Raum, den das Thema der biologischen Mutterschaft und damit spezifisch verbundener Momente von Einsamkeit, Überforderung, Benachteiligung wie auch Glück und Befriedigung überhaupt einnehmen sollte neben den Kämpfen derer, die mit anderen/prekäreren Identitäten in Reproduktion verwickelt wären. Dieses – von mir als hemmend wahrgenommene – Quasi-Konkurrenzverhältnis verweist auf die aktuelle Schwierigkeit, ein gemeinsames feministisches Subjekt zu formieren, ein „feministisches Wir zwischen Gleichheit und Differenz“, wie Koschka Linkerhand in ihrem Text zum „politischen Subjekt Frau“ schreibt (Linkerhand, Koschka: „Das politische Subjekt Frau. Rehabilitierung eines Kampfbegriffs.“ In Linkerhand, Koschka (Hrsg.): Feministisch streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen. Berlin 2018. Querverlag. S. 18-50, hier S. 18 und vgl. S. 29). ↩
-
Haug: Der im Gehen erkundete Weg. S. 78f. ↩
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Vgl. Tretau, Alisa (Hrsg.): Nicht nur Mütter waren schwanger. Unerhörte Perspektiven auf die vermeintlich natürlichste Sache der Welt. Münster 2018. edition assemblage. ↩
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Vgl. Mohs, Charlotte/Linkerhand, Korinna: „Natürlich gesellschaftlich? Überlegungen zu Arbeit, Natur und Geschlecht.“ In: outside the box. Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik #4/Arbeit. Leipzig 2013. S. 40-48.; sowie die kritische Replik darauf durch Steinborn, Susanne: „Körper in Gesellschaft. Eine Erwiderung auf die Überlegungen zu Arbeit, Natur und Geschlecht in outside the box #4.“ In: outside the box. Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik #5/Streit. Leipzig 2015. S. 30-38. ↩
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Haug, Frigga/Hauser, Kornelia: Frauenerfahrung und Geschlechtsbegriff. In: Das Argument 177. Hamburg 1989. S. 695-708, hier S. 697. Vgl. ebenso: Haug: Der im Gehen erkundete Weg. S. 332ff ↩
-
Frigga Haug im Interview mit dem ORF, Sendetermin 21.01.2018. Eine Zusammenfassung unter https://oe1.orf.at/programm/20180121/501326. ↩
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Maier, Corinne: No Kid: 40 Gründe, keine Kinder zu haben. Reinbek bei Hamburg 2008. Rowohlt. ↩
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Diehl, Sarah: Die Uhr, die nicht tickt. Kinderlos glücklich. Eine Streitschrift. Zürich 2014. Arche. ↩
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Ein Gespräch entstehen lassen.“ S. 22. ↩
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Malich, Lisa: „Whos your mommy now? Nationalmütter, Fuckermothers und die Geschichte des Muttermythos.“ In: Mecklenbrauck, Annika/Böckmann, Lukas (Hrsg): The Mamas and the Papas. Reproduktion, Pop & widerspenstige Verhältnisse. Mainz 2013. Ventil Verlag. S. 17-33, hier S. 27. ↩
-
Englert, Jonas: Interview mit Frigga Haug im Rahmen von Zoon Politikon – archivarisches Video-Projekt. 2015-2018. Unter http://zoonpolitikon.net/frigga-haug. ↩
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Vgl. sehr ähnlich: „Und dann war es [das Kind/ A.I.] nach sehr schwieriger Geburt plötzlich da, und alles war verändert. Ich liebte es sofort und war bereit, mein Leben für es zu geben“ (Haug, Frigga: Selbstveränderung und Veränderung der Umstände. Hamburg 2018. Argument. S. 13). ↩
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Gisela Elsner zitiert in: Frings, Matthias: Der letzte Kommunist. Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau. Berlin 2011. Atb. S. 307f. ↩
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Englert: Interview mit Frigga Haug, http://zoonpolitikon.net/frigga-haug/ ↩
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Haug: Der im Gehen erkundete Weg. S. 166. ↩
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Altes Testament. 1. Buch Mose 3:16. ↩
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„Ein Gespräch entstehen lassen.“ S. 5. ↩
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Sichtermann, Barbara: Leben mit einem Neugeborenen. Ein Buch über das erste halbe Jahr. Frankfurt am Main. Fischer 1994 (Original 1981). S. 206ff. ↩
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Vgl. Lent/Trumann: Kritik des Staatsfeminismus. S. 16. ↩
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Unter www.youtube.com/watch?v=fcKBDyFaJR0 sind ein paar Folgen der Serie zu sehen. ↩
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Vgl. hierzu: Malich, Lisa: Die Gefühle der Schwangeren: Eine Geschichte somatischer Emotionalität (1780-2010). Bielefeld 2017. Transcript Verlag. ↩
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In: eltern Nr. 9/2017. S. 14. ↩
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Morgner, Irmtraud: Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura. Roman in dreizehn Büchern und sieben Intermezzos. Berlin 1981 (Original 1974). Aufbau Verlag. S. 356-358. ↩
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Eigentlich: „Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden“ (Marx, Karl: „Thesen über Feuerbach.“ In Marx-Engels-Werke Bd. 3. Berlin 1978. Dietz Verlag. S. 6). Die Erkenntnis, dass Selbstveränderung und Veränderung der Umstände zusammenfallen müssen, verdanke ich Frigga Haugs Aneignung und Interpretation des Zitats für einen marxistischen Feminismus. ↩