Die Feminismos Populares und die Frauenbewegung in Argentinien
Die feministischen Proteste in Argentinien sind seit den massiven Mobilisierungen gegen Frauenmorde unter dem Namen Ni Una Menos (“Nicht eine weniger”) seit 2015 und den jüngsten, massiven Protesten zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und der damit verbundenen grünen Dienstage in aller Munde. Doch der Feminismus in Argentinien hat eine langjährige Geschichte, zu der die selbstorganisierten Encuentros Nacionales de Mujeres (“Nationalen Frauentreffen”) seit 1986 gehören und aus der, gemeinsam mit kontinentalen politischen und sozialen Prozessen, die Feminismos Populares entstanden. Im folgenden Artikel nähern sich die in Argentinien lebenden Autorinnen Fragen nach dem Wann und Wo der Entstehung und Existenz der Feminismos Populares. Ebenso beleuchten sie, von wem diese Feminismen getragen werden – also wer ihre Subjekte sind und worin ihre konkrete Theorie und Praxis besteht. Zunächst aber zur „Vorgeschichte“.
Feministische Traditionen
In Argentinien lässt sich die aktive Teilnahme von Frauen an Befreiungsbestrebungen bis auf die Kolonialzeit und die Unabhängigkeitskriege Anfang des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Zum einen gehörten indigene Frauen zum aktiven Widerstand gegen die Kolonialmacht, sowohl bei der Verteidigung ihrer Gemeinden und ihrem rechtmäßigen, kollektiven Landbesitz als auch bei der Weitergabe und Bewahrung ihrer Sprache und Kultur. Zum anderen waren Frauen aus den Reihen der Criollxs und Mestizxs wie Juana Azurduy, Martina Céspedes und Manuela Pedraza Teil der Volksarmeen, die gegen die spanischen Kolonialmächte kämpften. Nach den jahrzehntelangen Bürgerkriegen, die schließlich zur Herausbildung des heutigen Nationalstaates Argentinien führten, erhoben zu Beginn des 20. Jahrhunderts Frauen aus der anarchistischen Bewegung in Buenos Aires ihre Stimmen und schrieben in der eigens gegründeten Zeitschrift Die Stimme der Frau: „Also: Wir haben die Nase voll vom Weinen und der Not, vom ewig trostlosen Bild unserer Kinder, unserer zarten Herzensstücke, wir haben die Nase voll davon, zu bitten und zu betteln, davon, das Spielzeug und Lustobjekt unserer infamen Ausbeuter oder unserer schäbigen Ehemänner zu sein. Wir haben uns dazu entschlossen, im sozialen Konzert unsere Stimme zu erheben und unseren Anteil an den Genüssen des Banketts des Lebens zu fordern, ja genau: zu fordern.“1 Zur gleichen Zeit organisierten sich in Buenos Aires auch bürgerliche und großbürgerliche Frauen, um auf legislativer Ebene neue Rechte zu erkämpfen. In den unteren Schichten jedoch nahmen die Frauen, die an der produktiven Arbeit beteiligt waren, eher an Streiks, Kundgebungen und Demonstrationen teil. Innerhalb dieser Bewegungen gründeten sie feministische Vereinigungen wie das Sozialistische Feministische Zentrum von 1902 oder die Frauengewerkschaft _von 1903. Der bürgerlich-liberale Flügel der Frauenbewegung erkämpfte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wichtige Erfolge, z.B. das Gesetz _Drago von 1926, in dem Frauen erlaubt wird, ihre eigene Bildung zu wählen, zu studieren und ohne Erlaubnis des Ehemannes arbeiten zu gehen. Letzteres wurde in der BRD z.B. erst 1977 eingeführt. Ein Höhepunkt ist die Erlangung des Frauenwahlrechts 1947.
Vom Cordobazo bis zur Militärdiktatur
1969 findet mit dem Cordobazo, einem massiven Arbeiterinnen- und Studierendenaufstand, ein einschneidendes Erlebnis in der Geschichte der argentinischen Arbeiterinnenbewegung statt. Eine der zentralen Forderungen, die nach Kinderkrippen, wurde durchgesetzt und entlastete die Frauen, die bisher allein für die Kinderpflege und -erziehung verantwortlich gewesen waren. So führte der Cordobazo unter anderem dazu, dass sich unter den wechselnden Militärdiktaturen immer mehr Frauen und Männer in die Reihen der bewaffneten linken Organisationen begaben. In den späten 60er- und 70er-Jahren glaubten viele fest an die Revolution, den neuen Menschen und die Möglichkeit einer gerechteren Gesellschaft und kämpften aktiv dafür. Bis 1976 wuchsen bewaffnete revolutionäre Organisationen wie Montoneros und PRT-ERP; letztere verzeichneten 1970 40 % Frauenanteil. Die letzte und brutalste Militärdiktatur Argentiniens dauerte von 1976 bis 1983. Viele Angehörige der bewaffneten revolutionären Organisationen und der linken, politischen Gruppen und Parteien wurden von staatlichen und parastaatlichen Militärkommandos entführt und ermordet. Ihre Leichen ließ das Militär „verschwinden“. Bis heute werden viele dieser „verschwundenen Gefangenen“ gesucht. Zur spezifischen Gewalt gegen die entführten Frauen gehörten Vergewaltigungen als Teil der Folter in geheimen Militärstützpunkten und -lagern. Frauen, die bereits schwanger in Gefangenschaft kamen oder dort schwanger wurden, sonderte man bis zur Geburt ihrer Kinder ab und brachte sie in den allermeisten Fällen danach um. Die Neugeborenen wurden, teils unter Mithilfe der katholischen Kirche und staatlichen Institutionen, von Familien, die aus dem Militär kamen oder ihm nahestanden, heimlich adoptiert. In diesem Zusammenhang entstand als eine der wichtigsten zivilgesellschaftlichen Organisationen des Landes Las Madres de Plaza de Mayo, eine Gruppe von Frauen, die noch während der Diktatur mit friedlichen Protesten auf dem Plaza de Mayo Informationen über das Verbleiben ihrer Kinder verlangten und deshalb ebenfalls verfolgt wurden. Zur gleichen Zeit gingen viele andere Frauen ins Exil, trafen dort auf die verschiedenen feministischen Bewegungen und kehrten nach dem Ende der Diktatur mit neuen Impulsen ins Land zurück. Dies führte einerseits zu einer Verstärkung schon bestehender Forderungen und andererseits auch zu neuen: Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, kostenloser Zugang zu Verhütungsmitteln, gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit nahmen eine zentrale Bedeutung ein. Dies traf in Argentinien auf eine Gesellschaft, der durch die Diktatur zehntausende Menschen und kollektive Organisationsstrukturen, die versucht hatten, alternative Lebensentwürfe, Utopien, Träume und Hoffnungen umzusetzen, entrissen worden waren, was für das ganze Land einen politischen, sozialen und kulturellen Rückschritt bedeutete. Bis heute spürt man das Fehlen dieser Generation.
Demokratie und nationales Frauentreffen
1986 fand in Buenos Aires das erste nationale Frauentreffen (Encuentro Nacional de Mujeres) statt, an dem fast 1.000 Frauen teilnahmen und das sowohl aus den internationalen Treffen Lateinamerikas und der Karibik als auch der UN-Weltfrauenkonferenz 1985 in Nairobi hervorging. Die Teilnehmer*innenzahl ist inzwischen auf etwa 60.000 bis 90.000 angestiegen. Eine der wichtigsten Forderungen dieser Treffen, die die unterschiedlichen Strömungen des Feminismus bis heute vereint, ist das Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung. 2003 schloss sich auf dem nationalen Frauentreffen in Rosario zu diesem Zweck die Campaña Nacional por el derecho al aborto legal, seguro y gratuito (“Nationale Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung”) zusammen. Die Kampagne hat zum Ziel, nicht nur das Selbstbestimmungsrecht zu garantieren, sondern vor allem auch das Leben zahlreicher Frauen aus sozial benachteiligten Verhältnissen zu retten, die zurzeit an illegalen und unsicheren Abtreibungen und deren Folgen sterben. Sichere Abtreibungen sind in diesem Sinne eng mit der Klassenzugehörigkeit verbunden.
Die neoliberalen 90er und heute
Im Zuge der neoliberalen Politik der 90er-Jahre und der massiven Privatisierung und Transnationalisierung staatlicher Dienste und Leistungen (Strom, Wasser, Gas, Erdölförderung, Fluggesellschaften, Telefondienste und vieles mehr) kam es zu einer neuen Welle von Entlassungen, und große Teile der Bevölkerung verarmten. Meist stellten sich in diesem Kontext Frauen der Krise – daran gewöhnt, das alltägliche Leben zu meistern und die Grundbedürfnisse zu stillen – und suchten nach Lösungen. Gegenseitige Austausch- und Organisierungsprozesse entstanden. Durch solche Lösungsansätze, die für den Alltag, aber auch für sozialpolitische und wirtschaftliche Bereiche relevant waren, und die damit einhergehende Sichtbarmachung und Benennung ihrer Situation konnten sie eine zentrale Rolle in den Arbeitslosenbewegungen erkämpfen und dort zunehmend politische Führungspositionen einnehmen. Dies ermöglichte es ihnen in vielen Fällen, ein Bewusstsein für die eigenen Möglichkeiten und – zumindest vorübergehend – Selbstbestimmung und selbstständiges Handeln zu entwickeln. Unter dem Titel Ni Una Menos (“Nicht eine weniger”) fand am 3. Juni 2015 die erste Demonstration gegen Frauenmorde und Gewalt gegen Frauen statt. Auslöser war der Mord an der 14-jährigen Chiara Páez. Ihr 16-jähriger Freund hatte sie zu Tode geprügelt und danach im Haus seiner Großeltern vergraben. Dies löste im ganzen Land spontane Proteste aus, an denen mehr als 500.000 Menschen teilnahmen und die so der breiten Öffentlichkeit einen immensen sozialen Missstand aufzeigten: Allein im Jahr 2015 waren laut offizieller Statistiken mindestens 286 Frauen meist von ihren Partnern, Ex-Partnern oder Angehörigen ermordet worden. Seitdem hat sich dieses Datum in ganz Lateinamerika und später auch in Spanien und Italien etabliert, um durch massive Demonstrationen auf Gewalt gegen Frauen und Frauenmorde (femicidios) aufmerksam zu machen.
Solidarische Praxis im Alltag
Vor diesem Hintergrund haben sich in den 90er-Jahren die feminismos populares als eigenständige Strömungen des lateinamerikanischen Feminismus herausgebildet. Diese verstehen sich als antipatriarchale, antikapitalistische und dekoloniale Bewegungen. Eine enge Verknüpfung mit anderen sozialen Bewegungen und die Überzeugung, dass ein Umsturz aktueller Verhältnisse nur als Bewegung von unten realisierbar ist, sind weitere wichtige Aspekte der feminismos populares. Konkrete alltägliche Erfahrungen wie Gewaltsituationen in unterschiedlichen Lebensbereichen, Ausgrenzung aus der Arbeitswelt und sozialen Strukturen, Vereinsamung durch individualistische neoliberale Gesellschafts- und Arbeitsverhältnisse sowie Verarmung und Armut haben in den am härtesten betroffenen Schichten zum gemeinsamen Aufbau von Gruppen geführt, in denen diese Probleme als kollektiv-soziale Strukturfaktoren aufgefangen, erkannt und aufgearbeitet werden. Die solidarische Praxis hat oft mit der Sicherung von Grundbedürfnissen zu tun, z.B. im Falle der comedores (selbstorganisierte Suppenküchen), clubes de trueque (selbstorganisierter Tauschhandel) oder selbstorganisierter, kollektiver Kinderbetreuung, aber auch mit der Gewährleistung der körperlichen Unversehrtheit, wenn bspw. Frauen andere Frauen in Gewaltsituationen begleiten und sie unterstützen oder als socorristas bei Abtreibungen zur Seite stehen. Diese Art der Organisation von unten ist ein zentraler Teil der feminismos populares, da der Alltag als revolutionierbarer und revolutionärer Raum begriffen wird. In diesem Sinne fallen in diesen antikapitalistischen Organisationsformen die Notwendigkeit, Grundbedürfnisse alternativ abzudecken, und politische Überzeugung in eins. Hier lässt sich ein großer Unterschied zu Deutschland erkennen: Viele dieser Grundbedürfnisse werden in der BRD vom Staat abgedeckt. In Argentinien ist die kollektive und solidarische Organisierung aufgrund der Abwesenheit des Staates in den armen und verarmten Stadtvierteln und Regionen des Landes vor allem in Zeiten großer wirtschaftlicher Krisen wie 2001 oft überlebensnotwendig. Im Gedächtnis der argentinischen Bevölkerung lebt zudem noch die Erinnerung an die letzte Militärdiktatur weiter, in der der Staat nicht Bewahrer der Grundrechte, sondern Täter war.
Zwischenmenschliche Beziehungen
Eine grundlegende Umwälzung der Verhältnisse ist für die feminismos populares nur möglich, wenn erkannt wird, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen patriarchal, kapitalistisch und kolonial durchwoben sind, und wenn durch konsequente Kritik daran auf kreative Weise andere Beziehungsformen gesucht werden. In diesem Sinne ist das „alte“ Motto der zweiten Welle des Feminismus – „Das Private ist politisch“ – erneut an der Tagesordnung, da auch hier der eigene Körper einen politischen Austragungsort darstellt. Eine Veränderung der Umstände ist somit kein utopischer Horizont in weiter Ferne, sondern geschieht im Hier und Jetzt. „Es geht nicht nur um die Aufl ösung patriarchaler Zustände (despatriarcalización) im Kontext antikapitalistischer Bewegungen, sondern auch darum, unser Leben zu dekolonisieren“ (Claudia Korol, feminista popular, Mitbegründerin des Bildungskollektivs Pañuelos en Rebeldía). Die Lust und Freude am Leben, am Handeln, an der Organisation und den durchgeführten Aktionen ist dabei ein zentraler und bedeutender Motor für die Ermöglichung eines anderen Lebens im Hier und Jetzt.
Theorie und Praxis
Im Austausch untereinander und der Organisation miteinander kristallisieren sich eigene Denk- und Handlungsformen heraus, die aus dem Spannungsfeld der sozialen und feministischen Bewegungen entstehen: Die Theorie der feminismos populares ist fest in der Praxis verankert und stärkt dieser den Rücken. Die Grenzen zwischen Theorie und Praxis verschwimmen in diesem Sinne, da das Handeln unausweichlich zu einer Refl exion führt, wenn man z.B. miteinander Kinderbetreuung für das gesamte Stadtviertel organisiert. Es geht nicht darum, Denkmuster des europäischen oder US-amerikanischen Feminismus zu übernehmen, sondern darum, die eigenen Probleme zu erkennen, zu formulieren und Lösungen dafür zu fi nden. Die Funktionen der kollektiven Organisation beschränken sich nicht auf die Sicherung der Grundbedürfnisse: Da die Hinwendung zum politischen Feminismus einen schmerzhaften Umlernprozess beinhaltet, wird der Rückhalt eines gleichgesinnten Kollektivs oder von Menschen, insbesondere Frauen, die Gleiches oder Ähnliches erlebt haben, notwendig. Hier spielt auch der dekoloniale Aspekt eine zentrale Rolle, da es sich nicht nur um das theoretische Ablösen von der Kolonie und die eigene Identitätsfindung handelt, sondern auch um materielle Ansprüche, z.B. die Landreform. Diese Problematik durchzieht den gesamten Kontinent und macht deutlich, warum die feminismos populares sich nicht auf ein Land begrenzen lassen, sondern transversal von Mexiko bis nach Feuerland reichen und sowohl Frauenorganisationen, soziale Bewegungen und politische Gruppen aus den Städten, als auch Indigene, Migrantinnen, Afro-Lateinamerikanerinnen und die marginalisierte Landbevölkerung als wesentliche Subjekte der Bewegung miteinbeziehen.
Territorio
In diesem Sinne „denkt der Kopf, wo die Füße stehen“ (Paulo Freire), das heißt die feminismos populares sind nicht ortsunabhängig, sondern denkbar und maßgeblich von ihrem territorio geprägt. Das Erarbeiten und die Konzeptualisierung von lokalen, regionalen und kontinentalen Problematiken gehen demnach vom Alltag und den materiellen, sozialen und politischen Bedingungen aus, die diesen Alltag und den Raum, in dem er gelebt wird, bestimmen. Dieses ist bis heute durch die Auswirkungen der Kolonialisierung und der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals2 sowie durch die akademische, kulturelle und religiöse Dominanz Mitteleuropas und der USA gezeichnet. Ausgrenzungserfahrungen wie wirtschaftliche Not und geschlechtsbedingte Unterdrückung weisen Berührungspunkte auf, die nicht nur zu Solidarität innerhalb der Frauenbewegungen, sondern auch zwischen Frauenbewegungen und travestis und Transpersonen führen. Diese sind heute fester Bestandteil der feminismos populares.
Vielfalt und Einigkeit
Die feminismos populares setzen sich aus unterschiedlichen Subjekten zusammen: Zwar liegen ihre Wurzeln in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen, dennoch finden sich gewisse Organisationsformen und Grundprinzipien klassenübergreifend auch in anderen feministischen Strömungen Argentiniens wieder. Die vigilias (“Nachtwachen”) am 13. Juni und 8. August 2018 etwa wurden, im Sinne der feminismos populares, horizontal und selbst organisiert. Diese Proteste vor dem Nationalkongress fanden während der Debatten und Abstimmungen zur Legalisierung des freiwilligen Schwangerschaftsabbruchs statt. Menschen aus verschiedensten feministischen Bewegungen und Ausrichtungen trugen solidarisch und basisdemokratisch zum Gelingen von zwei 24-stündigen Wachen auf den Straßen bei, an denen beide Male über eine Million Menschen teilnahmen, und das allein in der Stadt Buenos Aires. Die feministischen Strömungen in Argentinien sind vielfältig, und sowohl die feminismos populares als auch die anderen Feminismen sind von Spannungen und Meinungsverschiedenheiten durchzogen. Dennoch wird zu Zeitpunkten wie der vigilia oder Ni Una Menos deutlich, dass es gemeinsame Ziele wie die Legalisierung der Abtreibung und den Kampf gegen Frauen- und LGTBIQ*-morde, Frauen*handel und Gewalt gegen Frauen und LGTBIQ* gibt, die die unterschiedlichen Strömungen zusammenführen und bei denen sonst hart umkämpfte Themen wie Sex work/Prostitution in den Hintergrund rücken. In diesen Momenten ist allen klar, dass Einigkeit stark macht. In den Worten von Lohana Berkins (activista travesti): „Wir sind hier und stellen uns mit unseren Körpern gegen die Gewalt, um unsere Flamme zu bewahren. In uns soll der Regenbogen am roten Himmel des Widerstandes weiterleuchten. Nicht nur ein Teil, sondern der ganze Himmel soll sich rot, rebellisch, widerspenstig färben. An diesem Himmel wird unser Regenbogen kräftig leuchten.“
LOS ENCUENTROS NACIONALES DE MUJERES
Die nationalen Frauentreffen, Los Encuentros Nacionales de Mujeres, finden seit 1986 jeden Oktober an unterschiedlichen Orten Argentiniens statt. Sie definieren sich als autonom, pluralistisch, selbstfinanziert, parteienunabhängig und basisdemokratisch. Drei Tage lang treffen sich Frauen und inzwischen auch travestis und Transpersonen in einer Stadt Argentiniens, um über unterschiedlichste Themen (Sexualität, legale Abtreibung, Umwelt, Arbeitslosigkeit und viele mehr) in horizontal organisierten Workshops zu debattieren. Die gleichberechtigte und basisdemokratische Teilhabe wird durch Listen und Redezeiten sowie die Abwesenheit von Redner*innen oder Expert*innen sichergestellt. Diese Treffen sind aufgrund ihrer Kontinuität und Massivität wichtige Momente des Austauschs, des Aufbaus von Netzwerken und der provinzübergreifenden politischen Arbeit. Am letzten Tag findet traditionell eine Demo statt, an der in den letzten Jahren bis zu 80.000 Personen teilgenommen haben und die die unterschiedlichen Strömungen des Feminismus in den Forderungen nach dem Recht auf legale, sichere und kostenfreie Abtreibung und auf das Ende der Gewalt gegen Frauen* vereinen. Eine der neuesten Forderungen dieser Treffen ist deren Umbenennung in „Plurinationales Treffen von Frauen, Lesben, Travestis und Transpersonen“, die noch aussteht.
TRAVESTIS
Einen besonderen Platz nimmt im argentinischen Feminismus die travestis-Bewegung ein. Auch wenn sich der Begriff travesti mit “Transvestit” übersetzen lässt, sind die Konnotationen anders als im Deutschen. Viele leben ihre Identität jung, werden früh von ihren Familien verstoßen, brechen die Schule wegen Diskriminierung ab und werden in die Arbeit als Prostituierte gedrängt, da es meist die einzige Möglichkeit der Überlebenssicherung ist. Seit Anfang der 2000er-Jahre organisieren sich viele travestis selbst, um einerseits diese schwierigen Lebensumstände zu bewältigen und andererseits die Anerkennung ihrer Genderidentität als travestis und nicht etwa als Frauen zu erlangen. Dieser Organisierungsprozess bringt travestis, soziale und feministische Bewegungen in Kontakt, wobei sie einige festgefahrene Kategorien auf den Kopf stellen und durchlüften. So ruderte die travestis-Bewegung eine Weile gegen den Strom und erkämpfte 2012 ein Gesetz zur Genderidentität, das weltweit Vorreiter ist: Die Genderidentität basiert dabei auf der selbst wahrgenommenen und gewählten Identität und setzt weder Operationen, Hormonbehandlungen noch psychiatrische Gutachten – also eine Bescheinigung, dass die Person „krank“ ist – voraus. Für travestis ist dies wesentlich, da ihre Genderidentität sich von Transpersonen in der Hinsicht unterscheidet, dass sie meist keine Genitaloperationen durchführen, sie sich aber die Brüste machen lassen und sich als weiblich wahrnehmen. Dadurch wird der binäre Genderbegriff grundsätzlich in Frage gestellt. In Worten der Dichterin Susy Shock: „Lasst doch andere normal sein.“ (Qué otros sean lo normal.) Die travestis bilden heute einen festen Teil der feminismos populares in Argentinien, und durch ihre Präsenz wurden viele Ideen über Genderidentität in der Bewegung grundlegend revidiert.
Jennifer Löcher ist Feministin, Sprachwissenschaftlerin und Dozentin. Sie lebt seit dreizehn Jahren in Buenos Aires.
Lisa Buhl ist Feministin und Aktivistin im freien Radio und in der Educación Popular. Sie arbeitet als Deutschlehrerin und Übersetzerin und lebt seit zehn Jahren in Buenos Aires.
Janna Tegeler lebt seit zehn Jahren in Buenos Aires. Sie ist Feministin und Sprachwissenschaftlerin und arbeitet als Deutschlehrerin.
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La Voz de la Mujer, Nr. 1, 8.1.1896. In: La Voz de la Mujer. Periódico Comunista-Anárquico. Bogotá: Gato Negro. S. 14. ↩
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Hier sei an Rosa Luxemburg erinnert, die in ihrem Werk Akkumulation des Kapitals nicht nur die Untersuchungen der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals von Marx aufgreift, sondern weiterführende sozioökonomische Prozesse analysiert und so die imperialistische Politikführung und koloniale Expansion auf eine Art beschreibt, die bis heute aktuell ist. ↩