outside the box

Editorial

In diesen Zeiten eine Ausgabe zu Erfahrung

In diesen Zeiten eine Ausgabe zu Erfahrung? Wird die outside the box jetzt immer konkretistischer, redet nur noch über das Besondere? Reiht die einzelnen Erfahrungen der Unterdrückung aneinander, das Leid, die Traurigkeit in dieser patriarchalen, kapitalistischen Gesellschaft, wobei die Reflexion darauf flöten geht? Man stelle sich vor: eine ganze Ausgabe nur aus subjektiven Erlebnissen! Oder wird die outside jetzt ganz im Gegenteil völlig abgehoben, befasst sich nicht mehr mit der Veränderung der Gesellschaft, sondern nur noch mit Begriffsgeschichte? Keine Ausgabe zu(m) Aufstehen, kein Streik-Heft, kein Magazin gegen die Wahlen in Sachsen, gegen § 218 und 219a? Gerade jetzt eine Ausgabe zu einer ganz abstrakten Frage?

Es geht aber auch darum, dass die Wiedergabe von Einzelmomenten allein nicht reicht, dass sie auch trennen und spalten und verblöden und aufhetzen kann, dass das Besondere falsch verallgemeinert eine Totalisierung darstellt, die alle anderen Erfahrungen negiert.

Ihr werdet es schon ahnen, es geht um beides. Es geht zuallererst um die Erfahrungen selbst, darum, ihnen gerecht zu werden, sie endlich zu ihrem Recht kommen zu lassen, denn es wurde noch lange nicht alles gesagt, nicht alles Unrecht in Worte gefasst. Schon in der Art, wie Du es in Worte fasst, es kommunizierst und vermittelst, steckt Erkenntnis. Aber warum habe ich manchmal Scheuklappen auf, und warum kannst Du manche Erfahrungen kaum versprachlichen? Indem wir von unserem Leid berichten, werden wir der Unterdrückung zumindest ein bisschen gewahr. Es geht aber auch darum, dass die Wiedergabe von Einzelmomenten allein nicht reicht, dass sie auch trennen und spalten und verblöden und aufhetzen kann, dass das Besondere falsch verallgemeinert eine Totalisierung darstellt, die alle anderen Erfahrungen negiert und gerade dazu führt, dass ich den Kopf in den Sand stecke, anstatt mich am eigenen Schopf herauszuziehen.

Das ist es doch: „Die Menschen erneuern durch ihre eigene Arbeit eine Realität, die sie in steigendem Maß versklavt. Das Bewusstsein dieses Gegensatzes stammt nicht aus der Phantasie, sondern aus Erfahrung.“ (Max Horkheimer, Traditionelle und Kritische Theorie, 1937, S. 25.) Der Moment, in dem wir mit der Gesellschaft, der historischen Natur und der bis zur Gegenwart aufgetürmten menschengemachten Geschichte in Berührung kommen und begreifen, dass wir Menschen selbst eine Welt eingerichtet haben, in der wir unfrei sind; dass durch unser eigenes Tun eine Gesellschaft reproduziert wird, in der wir weiterhin erniedrigte und verächtliche Wesen sind. Das Moment, in dem wir das alles nicht nur erleben, sondern begreifen; es nicht nur wissen, sondern erfahren – da setzen wir an: bei Erkenntnis und Erfahrung, bei der Frage nach Huhn und Ei.

Erfahrung als Ausgangspunkt theoretischer und praktischer Kritik?

Braucht es vielleicht keine gleichen, sondern verbindende Erfahrungen, um gemeinsam kämpfen zu können? In Teheran haben die Männer applaudiert, als die Frauen* das Fußballstadion betraten. Braucht es vielleicht keine aus Erfahrung gezogene Identität, sondern eine selbstkritische Bewusstwerdung, Empathie, Solidarität und Kommunikation? Vielleicht ja, aber wieso gibt es dann so wenige Feministen? Braucht es den gemeinsamen Feind? Ein gemeinsames Interesse? Einen kleinsten gemeinsamen Nenner? Und was passiert dann mit all dem, was wir nicht teilen?

Weil eben die Erfahrungen, die wir machen, uns auch trennen können, war diese Ausgabe nicht leicht für uns, als Redaktion, als Einzelne, als Autor*innen in der Redaktion und nicht zuletzt auch für unsere externen Autor*nnen. Von ihnen, von uns, erwarteten wir ganz schön viel und auch Widersprüchliches: Erfahrung in ihrer Körperlichkeit und Konkretheit vermitteln, aber dies zugleich auch theoretisch durchdringen, Selbstreflexion und Vermittlungsarbeit. Ich bin (k)eine Mutter und hatte (k)eine gewaltvolle Geburt, ganz zu schweigen von den Monaten danach. Ich bin (nicht) weiß und kann (nicht) trennen, ob mich die Gesellschaft erst zur Frau* und dann zu allem anderen machte. Ich bin (nicht) lesbisch, ich habe Sex bisher (nicht) immer als etwas Schönes erlebt. Ich bin ( k)eine Frau* und wäre gern (k)eine. Ich wurde (nie) geschlagen, darf (nicht) auf ein Erbe hoffen, ich musste mir als Kind (keine) Gedanken um Geld machen. Ich habe (k)eine Angst, alleine in Bars zu gehen, ich würde (nie) wieder alleine verreisen. Ich wurde (nicht) als Hysterikerin klassifiziert und durfte (keine) Grenzen passieren. Ich arbeite (nicht), um zu überleben, und meine Arbeit macht mich (nicht) kaputt. Erfahrungen sind nicht vergleichbar, gerade weil sich gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse in ihnen ausdrücken. Und dann auch wieder doch: Ich erlebe Zurichtung in dieser Gesellschaft, und ich bin gleichzeitig Kompliz*in dieser Verhältnisse. Im Alltag erlebe ich Momente einer möglichen Emanzipation. Manchmal gelingt es uns, einander in zärtlicher Solidarität zu begegnen. Kurz: Ich erfahre den Gegensatz zwischen dem, was sein könnte und dem, was ist.

Wie viel Mut braucht es, preiszugeben, wovon das eigene Denken ausgeht! Was dich geprägt hat, woran ich verzweifle, wie wütend Du bist, wie viel uns trennt, aber auch, was uns zusammenschweißt. Und wie prekär ist die Bereitschaft, sich selbst zu hinterfragen, eigene Gefühle nicht auszuklammern, aber auch nicht als Schirm gegen Kritik hochzuhalten, die uns (auch wenn sie nicht immer berechtigt sein sollte) doch wachsen lässt. Bei keiner Ausgabe der letzten Jahre war das so schwierig, weil Kritik besonders dann schwer erträglich ist, wenn sie sich gegen eigene Erfahrungen, oder besser gesagt, gegen deren Interpretation und Theoretisierung wendet. Und umgekehrt trifft das auch zu – wie schmerzhaft ist es, auszuhalten, dass ich die Leidenserfahrung, von der eine andere erzählt, zwar auch gemacht habe, aber bisher ganz gut wegschieben konnte? Oder eben, dass ich sie nicht gemacht habe, dass sie aber dennoch sagbar ist und etwas Wahres daran erkennbar wird, was ich vielleicht nicht wahrhaben will.

Huhn oder Ei. Es ging natürlich auch früher schon um Erfahrung: Sie war es, die uns zu dieser Unternehmung, eine feministische Zeitschrift herauszugeben, antrieb, weil uns die Notwendigkeit einer Emanzipation (#1) der Gesellschaft durch die Erfahrung des Kapitalismus und das Fortdauern des Patriarchats immer (wieder) präsent war. Auch, als wir darauf stießen, dass die Krux schon in der Form (#2) der Dinge liegt, in der Spezifik der weiblich-männlichen Vergesellschaftung, den Formen der Gewalt in der patriarchalen Totalität, stand sie heimlich im Zentrum. Als wir alle vor den Kopf stoßen wollten mit einem Heft voller feministischer Gesellschaftskritik zu Gebären (#3), kam sie aus ihrem Versteck und zwang uns, die Karten offen zu legen und zu zeigen, wie wir wurden, was wir sind. Wir wurden sie nicht mehr los. Beim Thema Arbeit (#4) war ein Gespräch ums andere, ein Treffen ums andere von ihr gefüllt: So sehr wir abstrahieren wollten, wir mussten doch immer wieder zu ihr zurück und durch sie hindurch. Das Editorial der Ausgabe bildeten kurze persönliche Berichte der Redakteurinnen, eine gemeinsame Reflexion der eigenen Erfahrung mit Arbeit zwischen produktivem Tun und zurichtender Überlebensnotwendigkeit. Der Streit (#5) hat uns als Quelle von Erfahrung gereizt. Er ist die große Widersacherin, die Nemesis der weiblichen Sozialisation, die auf Harmonie und Zuwendung, Sorge und Zurückhaltung, Passivität und Kontinuität beruht, und doch immer wieder zänkische Subjekte hervorbringt, die sich nicht in das fügen können und mögen, was sie sein sollen. Die Namenlose #6 löste uns (durch ihr Tempo) etwas vom persönlichen Durcharbeiten – andererseits steckte auch in ihr die Erfahrung drin, nämlich als Suche nach einigen für uns relevanten Erfahrungen des letzten Jahrhunderts. Das Veröffentlichen von öffentlich Weggeschobenem, die Angst vor der Wiederholung, das Anknüpfen an Reflexionen von Vorgänger*nnen.

Diese Ausgabe #7: Erfahrung.

Diese Ausgabe #7 ist zum Bersten gefüllt mit Reflexionen auf eigene Erfahrungen, aber auch auf kollektive. Denn „von sich selbst und den eigenen Erfahrungen auszugehen, ist bis heute Grundlage feministische Theorie und Praxis“, so hören wir von der feministischen Bewusstwerdung in der autonomen westdeutschen Frauenbewegung (Katharina Lux, S. 64). Diese macht sich ab den 1968er Jahren daran, die Widersprüche einer Emanzipationsbewegung zu kritisieren, die fast gänzlich auf „Männerphilosophie“ beruhte, dabei aber Alltagserfahrung, die Sorge um sich und andere, Kinder, Haushalt und Reproduktionsfragen ausklammerte oder verdrängte (Gespräch mit Helke Sander, S. 50). Die Selbsterfahrungsgruppen, die das Politische im Privaten in gemeinsamen Gesprächen herausarbeiteten, wurden verbunden mit Theoriearbeit (Gespräch mit Irma, S. 166). Noch heute lässt sich daran anknüpfen: Auf die Frage, wer über wessen Zeit verfügt, entwickelt die „4-in-1-Perspektive“ eine Antwort – eine feministisch-marxistische „Vision, die über das Jetzige hinausgeht und doch ihre Füße in der Realität dieser Gesellschaft hat“ (Gespräch mit Frigga Haug, S. 102).

Wir aber suchen die vernünftige Auseinandersetzung mit dieser Welt – und das heißt für uns: Kritik als Weg zur Erkenntnis. Auch die theoretische Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem war diesmal expliziter Gegenstand unserer Arbeit.

Wie aber von der Realität der Gesellschaft zu dieser kritischen Theorie und Vision gelangen? Empeiría (griech.), die systematisch durch Erfahrung gewonnene Erkenntnis, ist in dieser Gesellschaft meist der traditionellen Wissenschaft überlassen. Diese will nicht (bewusst) kritisieren, was uns an einer Selbstbefreiung hindert, sondern ächtet die Kritik der Verhältnisse, in denen wir leben, als „politisch“ und „normativ“ und trennt sie von deren „objektiver“ Erforschung. Wir aber suchen die vernünftige Auseinandersetzung mit dieser Welt – und das heißt für uns: Kritik als Weg zur Erkenntnis. Auch die theoretische Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem war diesmal expliziter Gegenstand unserer Arbeit. Für diese Ausgabe gründete sich eine Interview-AG, die nach Geschichte und Erinnerungsarbeit, nach Bedeutung der Form des Interviews und des Gesprächs fragte. Die Fragen kamen aus der Erkenntnis der letzten Ausgaben heraus, uns unserer Geschichte und der geführten Kämpfe bewusst zu werden, ihnen auf die Spur zu kommen. Sich in der generationsübergreifenden Begegnung höchstpersönlich der Erinnerung und Erfahrung älterer Feministinnen zu stellen und dafür Methoden der Befragung zu erarbeiten, hat uns nicht nur gezeigt, wie lange es schon die gleichen feministischen Kämpfe gibt, sondern auch, wie wichtig das gemeinsame Durcharbeiten für eine feministische Kritik ist.

Eine praktische Kritik, die ebenfalls mit beiden Füßen in der Realität verankert ist, sind auch feministische Massenbewegungen der letzten Zeit: In Argentinien verbinden sich in den Feminismos Populares Proteste gegen die Allgegenwärtigkeit von Frauen*morden, Netzwerke zur Unterstützung beim Schwangerschaftsabbruch und eine feministische Selbstverwaltung von Suppenküchen und Kinderläden in ärmeren Vierteln (Jennifer Löcher / Lisa Buhl /Janna Tegeler, S. 38). Sie bekämpfen den Zugriff von Kirche, Staat und Markt auf den Körper der Frau* und erproben dabei ein kollektives Wir, in dem die Einzelne nicht untergeht (Janna Tegeler/ Martina Resnik, S. 45). Auch im Globalen Norden verdeutlichte die #metoo-Debatte, was es heißt, zur Frau zu werden – und doch beißt frau* oft auf Granit, denn auch unter Vertrauten ist die Verständigung über das Gemeinsame, das Strukturelle der patriarchalen Gewalt nicht immer möglich (Barbara Schnalzger, S. 86). Selbst unter Freund*nnen herrscht Entfremdung und Unverständnis (Anna Kempe, S. 112) und, da es um den eigenen Körper und das Private geht, eine große Verletzlichkeit. Im besten Fall führen die Differenzen nicht zur fruchtlosen Kränkung, sondern zum freundschaftlichen Streit: um Privilegien der einen und Projektionen der anderen, und um das gemeinsame Interesse an einer Überwindung von Kapital und Patriarchat (Daria Kinga Majewski, S. 28).

Aber die Erfahrung, zur Frau geworden zu sein, führt nicht immer zu geteilter Kritik und kollektiver Praxis. Denn: „Eine Frau ist nie nur eine Frau: Sie ist eine arabische Frau, eine weiße Frau, eine arme Frau; und damit ist Frau nicht mehr genau dasselbe“ (Mélusine, S. 76). Das Verhältnis von Gleichheit und Differenz zwischen Frauen* ist in Bewegung, es bleibt Gegenstand der Diskussion. Wir können es „als dialektischen roten Faden sehen, der die Geschichte des feministischen Wir durchzieht“ (Koschka Linkerhand, S. 20). Beim Schreiben über weibliche Erfahrungen wie Geburt und Mutterschaft verschlägt es uns gelegentlich die Sprache – zu sehr riecht das nach Biologismus und Esoterik, selten finden wir Spuren von Künstler*nnen, die ihre eigenen Bilder dagegensetzen (Veronika Russel, S. 146). Statt eines Austauschs darüber und Kritik daran erleben wir einerseits „linke und rationalisierende Abwehr der Themen Gebären und Mutterschaft“ (Alexandra Ivanova, S. 146) und andererseits die gesamtgesellschaftliche Verdrängungsleistung, die oft auch brutale Erfahrung des Mutterwerdens zum „Glück der Geburt und dem schönsten Tag ihres Lebens“ zu verklären (Sabrina Zachanssian, S. 138).

Diese riesigen Widersprüche zwischen Autonomiebestreben und Abhängigkeit, dieses Zurückgeworfensein auf Natur (als historische, menschengeprägte), diese plötzlich kaum vermeidbare Wiederholung längst überwunden geglaubter Geschlechterrollen werden in der Kulturindustrie 2.0 kaum thematisiert. Stattdessen finden wir andere Bilder: die herzerwärmend rotzigen Darstellungen junger Frauen* in Film, Roman und Fernsehen, die heute unter dem Schlagwort Popfeminismus laufen, verdeutlichen die Anziehungskraft eines „Identifikationsangebot[s] feministischer Selbstermächtigung im Kapitalismus“, demzufolge ›Wa h l f r e i h e i t ‹ schon eine revolutionäre Praxis sei (Constanze Stutz, S. 8). Den Rahmen, der in dieser Gesellschaft unserer Handlungsfähigkeit gesetzt ist, sparen diese Darstellungen aus. Er ist einfach zu eng – unsere Körper begrenzt er (Tina Kaden, S. 32), unser Begehren sprengt ihn (Feministische Naturlyrik, S. 178). Viele Seiten könnten gefüllt werden mit all dem, was innerhalb dieses Rahmens nicht vorkommt (Kajsa Dahlberg, S. 16). Manchmal können wir ihn probeweise auflösen und unsere unbewussten Sehnsüchte nach Verschmelzung und Einheit, nach Bedürfnisbefriedigung ohne Enttäuschung in der Fiktion, in der Kunst einlösen (Katharina Zimmerhackl, S. 128). Aber selbst dann findet sich die Spur des Mangels. Ja: Weibliche Subjektwerdung hängt am Patriarchat, und egal wie oft wir uns häuten, wir werden die Prägung nicht ganz los – es gibt kein authentisches, freies Etwas darunter (Elisa Paulus, S. 124).

Diese Ausgabe #7 zur Erfahrung riskiert viel und sie will beides: Dem „Versuch, ein politisches Subjekt Frau zu reformulieren, das von der strukturellen patriarchalen Benachteiligung aller Frauen ausgeht“ (Koschka Linkerhand) steht die Einsicht gegenüber, dass es für Feminist_innen „unabdingbar [ist], auf dem Partikularen zu beharren, denn Herrschaft ist auch Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere“(Sarah Freng, S. 158). Angesichts der gemeinsamen und vielen einzelnen, oft widersprüchlichen Erfahrungen die Kritik an Kapitalismus und Patriarchat weiterentwickeln: Das will diese Ausgabe #7.

2019 ist der zehnjährige Geburtstag der outside the box. Theorie als Praxis, das bleibt unser Ziel.

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