Koschka Linkerhand

Die andere Frau

Weibliche Erfahrungen als Grundlage feministischer Politik

Auf die Frage, was das Frausein bedeute, haben Feministinnen immer wieder mit der weiblichen Erfahrung geantwortet. Ihr Argument, das es in vielfacher Abwandlung gibt, lautet kurz gefasst: Als Frau in einer patriarchalen Welt zu leben bringt es mit sich, bestimmte Zwänge, Diskriminierungen und vielleicht auch positive Erfahrungsmöglichkeiten zu teilen, die zwar häufig in einem persönlichen und privaten Rahmen stattfinden, aber als gesellschaftliche erkannt und damit politisiert werden können. Die weibliche Erfahrung bewegt sich dabei zwischen der Annahme einer grundsätzlichen Gleichheit unter Frauen – die gleichzeitig eine Differenz zum männlichen Subjekt ausdrückt – und der Betonung von Differenzen zwischen Frauen, die einen gemeinsamen weiblichen Erfahrungshorizont dementieren. Dieser Text will in groben Strichen nachzeichnen, wie weibliche Erfahrung seit der Zweiten Frauenbewegung verhandelt wird; ich beziehe mich dabei größtenteils auf den deutschsprachigen Feminismus und die politischen Entwicklungen in der BRD. Er mündet in den Versuch, ein politisches Subjekt Frau zu reformulieren, das von der strukturellen patriarchalen Benachteiligung aller Frauen ausgeht und gleichzeitig die gravierenden Unterschiede in den Blick nimmt, die das globalisierte kapitalistische Patriarchat der weiblichen Subjektivität aufprägt. Das Subjekt Frau soll dabei wieder als feministischer Kampfbegriff in Stellung gebracht werden – um angesichts des aktuellen politischen Rückschritts, der sich in vielen Ländern auf verschiedenen Ebenen abzeichnet, frauenrechtliche Forderungen mit einer globalen Perspektive auf den Punkt zu bringen.

Die weibliche Erfahrung zwischen Gleichheit und Differenz

Die Zweite Frauenbewegung, die sich ab 1968 in Nordamerika und Westeuropa zusammenfand, bezog ihre Kraft aus einem feministischen Wir, das alle Frauen umfassen sollte – unabhängig von Alter und Bildungsstand und ihren sozialen Rollen als Ehefrau und Mutter, Studentin, Putzfrau oder Prostituierte. Feministinnen erkannten, dass bestimmte Leidenserfahrungen von sehr vielen Frauen geteilt werden: etwa sexuelle und intellektuelle Unterdrückung, die umfassende Zuständigkeit für Hausarbeit und Kindererziehung, häusliche Gewalt. „Wir sind Frauen, wir sind viele, wir haben die Schnauze voll!“, lautet ein populärer Slogan der 1970er. In der Annahme, dass ein frauenzentriertes Denken und Handeln unverzichtbar für die Befreiung von der allgegenwärtigen Männerherrschaft sei, wurden Frauenzeitschriften, Frauenzentren, Frauenhäuser und Selbsterfahrungsgruppen gegründet. Feministinnen versuchten, Worte für die am eigenen Leib erfahrene patriarchale Unterdrückung zu finden, sie debattierten, theoretisierten, gerieten in Wut und gingen auf die Straßen und in die Parlamente.1 In der Hoffnung, durch die Kritik grundlegender patriarchaler Strukturen diese abschaffen zu können, bezogen sich Feministinnen auf ein politisches Subjekt Frau, vergleichbar dem revolutionären Subjekt der ArbeiterInnenbewegung. Der positive Bezug auf das Frausein zeigte sich auch privat: Viele Feministinnen begannen, den Beziehungen zu anderen Frauen einen höheren Stellenwert einzuräumen, etwa durch das Zusammenleben in Frauen- WGs. Damit eröffnete sich die Möglichkeit, die feministischen Genossinnen in ihren Alltagserfahrungen, ihrer Kritik und ihrem Freiheitsbegehren wahr- und ernstzunehmen. Mit anderen Frauen politisch tätig zu werden, bedeutete im günstigen Fall, kollektive feministische Praktiken zu finden, um den Beschränkungen und Beschneidungen der gesellschaftlichen Existenz als Frau entgegenzuarbeiten. Beispielsweise wurde ausgehend von den eigenen Erfahrungen über weibliche Sozialisation und damit verbundene Emanzipationsmöglichkeiten reflektiert; während die Kinderladenbewegung ganz pragmatisch versuchte, die Betreuung von Kindern solidarisch zu organisieren, damit auch Müttern Zeit und Kraft für politische Aktivität blieb. Dieser Umgang miteinander wurde oft als Schwesterlichkeit benannt. Darunter verstanden Feministinnen ein solidarisches und enthusiastisches Zusammenhalten gegen das mächtige Patriarchat, das sie in der nazistischen Elterngeneration ebenso verkörpert sahen wie in den sozialistischen Brüdern der StudentInnenbewegung, aus der die Frauenbewegung hervorgegangen war. Doch in den innerfeministischen Konflikten der nächsten Jahre und Jahrzehnte erwies sich die universale Gleichheit unter Schwestern als Herausforderung. So formulierten schwarze und trans Feministinnen früh ihre Differenz zu weißen Mittelstandsfeministinnen, die häufig über bessere Bildungsmöglichkeiten und eine besser gesicherte ökonomische Existenz verfügten, und deren Leib und Leben nicht zusätzlich von rassistischer und transfeindlicher Diskriminierung gefährdet war. Der Lesben-Hetera-Konflikt nach 1973 brachte feministische Lesben zu der Einsicht, dass sie sich zumindest zeitweise von den heterosexuellen Genossinnen separieren müssten, um für ihre spezifischen Anliegen zu kämpfen, etwa die Anerkennung als sexuelle Minderheit. Jüdische Feministinnen in der BRD sahen oft keinen Weg, mit nichtjüdischen Genossinnen zusammenzuarbeiten, weil ihre bloße Präsenz an deren Verdrängung des Holocaust rührte. Und im wiedervereinigten Deutschland kam nach 1990 der Erfahrungsgegensatz ostdeutscher Feministinnen hinzu, die nach 40 Jahren realsozialistischer Gleichstellungspolitik irritiert waren, dass die westdeutschen Genossinnen so viel Aufhebens um die Doppelbelastung von Beruf und Haushalt machten. Ein Teil der Verletzungen, die Feministinnen einander in diesen Kämpfen zufügten, resultierte aus der Schwierigkeit, weibliche Erfahrungen als Grundlage der feministischen Verschwesterung zu setzen, dabei aber mit den Differenzen zwischen Frauen konfrontiert zu werden. Die Andere erwies sich nicht einfach als Frau, sondern als andere Frau. Das Andere zeigte sich aber nicht nur an den prägenden Unterschieden darin, auf welche spezifi sche Weise das Frausein im Patriarchat jeweils erfahren wurde – sondern auch in konträren politischen Positionen. Ein heißes Eisen war die feministische Kritik der Pornographie: Seit 1987 forderte die Por- NO-Kampagne ein Verbot von Pornographie, die als grundsätzlich sexistisch und frauenausbeutend analysiert wurde. Jedoch äußerten vor allem Lesben, die in der SM-Szene Möglichkeiten der sexuellen Emanzipation gefunden hatten, zunehmend Zweifel am zärtlichen und friedvollen Charakter weiblicher Lust und forderten statt eines Verbots eine bessere Pornographie, die auf die Phantasien und Bedürfnisse von Frauen eingeht.2 Bis heute werfen die Vertreterinnen beider Lager einander einen falsch verstandenen Feminismus und ein falsches Frauenbild vor und argumentieren dabei häufig mit der eigenen weiblichen Sexualität.

Die bundesdeutsche Hausfrau der 1950er-Jahre war, als die ersten Feministinnen auf die Straße gingen, bereits ökonomisch obsolet geworden.

Ab 1976 nahm die Zeitschrift Die Schwarze Botin innerhalb der feministischen Debatte eine Dissidentinnenrolle ein, indem sie den diskussionslos vorausgesetzten Zusammenhalt und die Sehnsucht nach schwesterlicher Harmonie unter Feministinnen kritisierte. Statt auf gemeinsame weibliche Erfahrungen zu setzen, rief sie zum nüchternen Austausch politischer Argumente auf.3

Die Kämpfe innerhalb der Zweiten Frauenbewegung handelten also davon, wie ausgehend von der Erfahrung des Leidens an der patriarchalen Gesellschaft ein gemeinsames politisches Wollen erarbeitet werden könnte. Was hat sich gesellschaftlich verändert, dass das Subjekt Frau, auf das sich die Aktivistinnen der Zweiten Frauenbewegung streitend bezogen, heute nicht mehr selbstverständlich als Dreh- und Angelpunkt feministischer Theorie und Praxis vorausgesetzt werden kann? Die Zweite Frauenbewegung stand ökonomisch auf den Schultern einer Veränderung der Produktionsverhältnisse. Die bundesdeutsche Hausfrau der 1950er Jahre, die ausschließlich mit Töpfen und Windeln hantierte, und der dazugehörige männliche Alleinverdiener waren, als die ersten Feministinnen auf die Straße gingen, bereits ökonomisch obsolet geworden. Rechtliche Reformen, die den Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt erleichtern sollten, standen im Konflikt mit den patriarchalen Vorstellungen von Ehe und Familie, waren aber letztlich staatlicherseits erwünscht. Die Integration linkspolitischer Forderungen ins kapitalistische Laufrad und ihre rasch einsetzende Institutionalisierung wurden auch von Feministinnen früh erkannt: „Aus einem Projekt der Frauenbewegung ist eine sozial anerkannte Institution geworden, ein Vorzeigeprojekt der Stadt Hamburg“, bilanzierten die Hamburger Autonomen Frauenhäuser 1987, zehn Jahre nach der Gründung des ersten Frauenhauses. Diese Verquickung autonomer mit staatlicher Politik zeigt, dass die Fragen nach der Gleichstellung der Frau und ihrer sexuellen Befreiung ökonomisch und politisch in der Luft lagen. Regina Becker-Schmidt prägte die Formel von der „doppelten Vergesellschaftung“: Frauen sollten sich zum arbeitsmarktfähigen Subjekt emanzipieren, ohne dabei ihre reproduktive Arbeit im Haushalt und bei der Kindererziehung zu vernachlässigen. Die Frauenbewegung wirkte als Motor und gleichzeitig als scharfe Kritikerin dieser umfassenden gesellschaftlichen Entwicklung. Befeuert wurde sie davon, dass die Erfahrungen von männlicher Dominanz und gesellschaftlicher Unmündigkeit, die Feministinnen beschrieben, sehr vielen Frauen vertraut waren und damit als weibliche Erfahrungen verallgemeinert werden konnten.

Von der Differenz zur Verleugnung der weiblichen Erfahrung

Diese sozioökonomischen Voraussetzungen weiblicher Subjektivität änderten sich erneut zu Anfang der 1990er-Jahre. Mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus und dem weltweiten Sieg der kapitalistischen Marktwirtschaft verkomplizierten und individualisierten sich die Unterdrückungsverhältnisse. In der Linken wurde das politische Subjekt Frau ebenso infrage gestellt wie der Arbeiterbewegungsmarxismus. Eine Ursache davon war der in der Nachwendezeit auffl ammende Rassismus, der viele weiße deutsche Feministinnen erstmalig Männer – nämlich migrantische Männer – als Opfer von Gewaltverhältnissen wahrnehmen ließ. Die besondere Diskriminierung, in der BRD nicht nur Frau, sondern schwarze Frau zu sein, hatten afrodeutsche Feministinnen wie Katharina Oguntoye und May Ayim bereits seit den 1980ern kritisiert.4 Angesichts der nationalistischen Pogromstimmung im wiedervereinigten Deutschland schien die Differenz zwischen weißen Frauen und women of color genauso tief zu klaffen wie die zwischen den Geschlechtern: Eine eindeutige emanzipatorische Kollektivierung war unmöglich geworden. Mit dieser ideologischen Niederlage ging einher, dass sich die Voraussetzungen weiblicher Subjektivität auf der ökonomischen Ebene erneut wandelten: Das Überleben der Einzelnen wurde unter neoliberale Vorzeichen gestellt. Das neoliberale Subjekt muss die Identität mit sich selber durch permanente Selbstgestaltung und -optimierung gewährleisten und unaufhörlich seinen Leistungswillen und seinen Willen zur Zugehörigkeit präsentieren. Zugehörigkeit besteht aber darin, mit einem individuellen Lebensmodell zu überzeugen, wozu längst nicht mehr nur die Art des Broterwerbs gehört, sondern auch die Identifikation mit einer Nation (bzw. Kultur oder Religion), einem Geschlecht, einer Sexualität. Die Forderung lautet, in allen Dingen flexibel zu sein und dennoch immer ganz bei sich: in der Wahl des Arbeitsplatzes, des Liebesobjekts wie auch der Form, in der soziale Beziehungen gelebt werden können. Das beinhaltet einerseits Freiheitsmöglichkeiten, die ältere Generationen nicht kannten: Die Lebensmodelle der Karrierefrau, der politischen Aktivistin oder des lesbischen Pärchens im Reihenhaus werden weithin akzeptiert – solange sie auf ihre jeweilige Weise ihre Arbeitskraft zu Markte tragen, und zumindest, bis irgendwann die Kinderfrage aufkommt. Neoliberalismus bedeutet aber auch einen neuen Zugriff des Marktes auf das Intimste, der verlangt, die eigenen prekären Lebensbedingungen – so schäbig sie auch sein mögen – aktiv zu bejahen und in Eigeninitiative zu gestalten. Auch die eigene Geschlechtlichkeit muss als gnadenlos individuell und selbstbestimmt umgewertet und sich angeeignet werden. Weiblichkeit kann wahlweise sportlich, verspielt, verführerisch oder androgyn daherkommen, gern auch in frischem Wechsel: „Lasst uns jeden Morgen entscheiden, wer wir heute sein möchten“, heißt es in der H&M-Werbung für die neue Herbstkollektion. Dass die Einzelne ihren Typ und ihr Leistungsangebot immer neu definiert und in der täglichen Selbstinszenierung unterstreicht, wird zur ökonomischen Notwendigkeit. Diese Vereinzelung und verschärfte Konkurrenz zwischen Frauen auf dem Arbeits- und Beziehungsmarkt läuft dem feministischen Grundsatz der Frauensolidarität zuwider und trug seit den 1990ern dazu bei, ihn immer mehr zu unterhöhlen.

Das politische Subjekt Frau im Namen der Differenz aufzulösen, wurde zur Agenda des intersektionalen oder Queerfeminismus, der sich in der US-amerikanischen Linken herausbildete und seit etwa 25 Jahren auch hierzulande die feministische Debatte dominiert. Wie alle anderen feministischen Strömungen ist der Queerfeminismus kein einheitliches Gebilde: Die akademische Theorieproduktion unterscheidet sich vom subkulturellen Queerfeminismus und parteipolitischen wie autonom organisierten queeren Zusammenhängen; und diese Spielarten unterscheiden sich wiederum untereinander. Jedoch kehren bestimmte politische und theoretische Prämissen immer wieder, die wesentlich auf der dekonstruktivistischen Methode beruhen: Frausein sei das Ergebnis einer umfassenden normativen Konstruktion von Geschlecht. Diese müsse mit einer veränderten sprachlichen und sozialen Praxis dekonstruiert werden, indem ihr eine Vielfalt der Geschlechter und der Sexualitäten entgegengestellt wird. Davon unterscheidet sich eine materialistische Herangehensweise, die ich hier entlang der Kritik am Queerfeminismus entfalten möchte. Was bedeutet die sprachpolitische Wende für den Gegensatz von Differenz und Gleichheit? Queerfeministinnen beanspruchen, diesen Gegensatz dekonstruieren zu können, indem sie auch Differenzen wie Lesbe/Hetera als heteronormative Konstrukte entlarven.5 Anders als in den oben beschriebenen Konflikten unter Feministinnen wird nicht mehr gefragt, worin sich die Erfahrungen lesbischer Frauen von denen heterosexueller unterscheiden und welche Konsequenzen diese Unterschiede für eine feministische Theorie und Praxis haben. Stattdessen werden Hetero- und Homosexualität als mehr oder weniger machtvolle gesellschaftliche Erzählungen bezeichnet, die den Individuen als letztlich äußerliche Klassifizierungen und Zuschreibungen übergestülpt werden. Die queerfeministische Intervention besteht folglich im Widerstand gegen die einengenden Bezeichnungen Lesbe, Hetera und Frau und lädt dazu ein, sich auf die Suche nach neuen Identitäten und Gegenerzählungen zu machen: etwa der Identifizierung als queer oder pansexuell bzw. genderfluid oder non-binary. Trotz dieser Dekonstruktion der Differenz als solcher bleibt es queere Praxis, das politische Subjekt Frau mit dem Verweis auf die geschlechtliche, sexuelle und auch auf die rassistisch manifes - tierte Differenz unter den als Frauen klassifi zierten Individuen abzulehnen. Der Queerfeminismus statuiert Differenzen, addiert sie mitunter – ohne aber die Bedeutung der jeweiligen Differenz inhaltlich zu untersuchen. Stattdessen hebt er deren Konstruktionscharakter auf der Textoberfl äche hervor, indem die Differenzbezeichnungen kursiviert oder mit Sternchen und Unterstrichen versehen werden: Frau_en, lesbisch*, weiß. Auf diese Weise schillert der Queerfeminismus zwischen einem extremen Differenzdenken, das die Klammer des gemeinsamen Frauseins verabschiedet hat, und der Abneigung, sich mit Differenzen, die ja bloße Konstrukte seien, auseinanderzusetzen. Weil eine materialistische, auf subjekttheoretischen Füßen stehende Kritik des patriarchalen Geschlechterverhältnisses ausbleibt, wird Frausein eines von vielen möglichen Geschlechtern und die Selbstaussage zur einzigen Maßgabe, wer und was als Frau bzw. als weiblich zu gelten hat.

Damit gerät der feministische Erfahrungsbegriff in einen enormen Zwiespalt. Einerseits wird besonders die Erfahrung von Diskriminierung verabsolutiert und zur Identität verfestigt: Erst wer sexistische, rassistische, homo- oder transfeindliche Diskriminierung erlebt hat, ist als Betroffene legitimiert, feministische Forderungen zu erheben. Erfahrung gilt dabei als total gesellschaftlich und zugleich als total individuell. Dass die Diskriminierungserfahrungen zweier empirischer Lesben jedoch nicht komplett gleich sind, ja dass eine sexuelle Identität wie Lesbe unmöglich die vollständige Lebensrealität und auch nicht die libidinösen Konflikte eines Individuums abbilden kann, sorgt für ständige Unruhe. Jede soll eine Identität fi nden, in der sie voll aufgehen kann, und zwar eine, die die eigene Differenzerfahrung möglichst genau erfasst. Aus diesem Grund entwickelt sich innerhalb einer Szene, die eigentlich alle Kategorien dekonstruieren will, die paradoxe Notwendigkeit, immer neue (Sub-)Kategorien aufzutun. Das queerfeministische Subjekt FrauenLesbenTransInter* ist per se unabgeschlossen und nicht abgegrenzt; der queere Kampf konzentriert sich darauf, es vollständig zu benennen und um neue Differenzen zu erweitern. In diesem Kampf geht es um Anerkennungspolitik, nicht aber um theoretische Durchdringung. Dadurch verkümmert die feministische Debatte zu Setzungen, die unvermittelt nebeneinanderstehen und keine andere Art der Auseinandersetzung erlauben als die immer wiederkehrende Behauptung ihrer bloßen Existenz und Sichtbarkeit. Längst ist aus dem Blick geraten, dass feministische Theorie darüber hinausgehen könnte, detailliert Geschlechter und Sexualitäten zu klassifizieren und deren intersektionale Verschränkungen mit Migrationsgeschichte, sozialem Status, Behinderung oder religiöser Orien tierung zu benennen. Die renommierte Geschlechterforscherin Sabine Hark stellt neuerdings ihren saarländischen Migrationshintergrund heraus, um ihre Rassismuskritik zu legitimieren.6 Während auf diese Weise marginalisierte Erfahrungen in den Vordergrund rücken, wird auf der anderen Seite ein gemeinsamer weiblicher Erfahrungshorizont geleugnet. In deutlicher Abgrenzung zur Zweiten Frauenbewegung erfährt die weibliche Differenz eine besonders gründliche Dekonstruktion: Weiblichkeit erscheint als Herrschaftserzählung, die besonders Transleute und Non- Binarys (Menschen, die sich weder als Männer noch als Frauen verstehen) normativ unterdrücke. In vielen transaktivistischen Kämpfen hingegen wird das Frausein zur positiven identitären Selbstaussage, die weder an Biologie, Sozialisation noch an Alltagserfahrung gekoppelt sein muss. Weil Transweiblichkeit in queerer Lesart einen Bruch mit diesen Signifikanten von Weiblichkeit markiert, wird sie als widerständig gewertet. Für die meisten Queerfeministinnen jedoch wandelt sich in der Selbstbezeichnung Frau die Emphase der Zweiten Frauenbewegung zum Schuldbekenntnis. Das nicht-marginalisierte, nicht-transidente Frausein gilt nunmehr als privilegiert: Weibliche Erfahrung wird häufig nicht mehr als Unterdrückungserfahrung interpretiert, die zur Solidarität aufruft, sondern als weißes, cissexuelles Privileg. Wo sich positiv etwa auf die Menstruation, die Klitoris als lustspendendes Or gan oder auf Arbeitskämpfe von Frauen bezogen wird, erfolgt mit ziemlicher Sicherheit die Kritik, welche Ausschlüsse von Frauen ohne Menstruation, Klitoris oder Lohnarbeitsverhältnis damit reproduziert würden: So wird der auch von vielen queeren Feministinnen gern verwendete Slogan „Viva la Vulva“ immer wieder als transfeindlich kritisiert.7 Dass im Rahmen eines politisierten Frauseins weibliche Genitalien und ihre Vergesellschaftung zur Sprache kommen, empfinden diese Kritikerinnen in einem identitären Kurzschluss als unerträglich ausschließend – nicht als Differenz zwischen Cis- und Transfrauen, die Kränkungen birgt, aber durchaus feministisch verhandelt werden kann. Damit wird die individuelle Erfahrung als Teil einer Pluralität von Erfahrungswelten gesetzt, die sich weder miteinander vermitteln noch gesellschaftstheoretisch rückbinden lassen. Die andere Frau wird zur nur noch Anderen, die in ihrer Differenz anerkannt und fraglos akzeptiert werden soll. Sie in ihren konkreten Sozialisations- und Alltagserfahrungen sowie in ihren politischen Ansichten verstehen zu wollen – sich ihr also mit Nachfragen und dem Wunsch nach Diskussion zu nähern –, gilt als respektlos. Das wird besonders am queerfeministischen Umgang mit Musliminnen deutlich, die in kultursensibler Haltung mit ihrer Herkunft und ihrer Religion inklusive Kopftuch identisch gesetzt werden. Viel zu wenig spricht man sie als Subjekte in ständigen Aushandlungen mit ihrer sozialisierten Weiblichkeit, ihren davon geprägten Bedürfnissen und ihren jeweiligen Lebenskompromissen an. Dabei könnte ein streitbarer Austausch über weibliche Emanzipation zwischen einer muslimischen und einer atheistischen Feministin für beide Seiten höchst erhellend sein. Aber wenn der gemeinsame Bezugspunkt des Frauseins wegfällt, werden Verständigung und Solidarität unter Feministinnen, genauso wie ihre kritische Auseinandersetzung miteinander, erheblich erschwert. Unter den Vorzeichen einer negativen feministischen Dialektik könnte die Verneinung des Frauseins eine große, wirkungsvolle Geste sein. Sie könnte die Erkenntnis befeuern, dass Frausein im Patriarchat oft beschissen ist und es darauf ankommt, frauenfeindliche Zumutungen zu bekämpfen und sich ihnen individuell und kollektiv zu verweigern, wo es geht. Dass Neinsagen die erste feministische Tugend ist, hat die Frauenbewegung schon sehr früh erkannt. Leider hat die queerfeministische Verneinung einer gemeinsamen weiblichen Erfahrung stattdessen die Präsenz und den Kampfeswillen des politischen Subjekts Frau kassiert, das die Zweite Frauenbewegung in den Jahrzehnten zuvor in Stellung gebracht hatte. Gerade die Identitäten Frau und Lesbe werden häufig als kränkende Fremdzuschreibungen zurückgewiesen. Neben der Angst, als vermeintlich Privilegierte die Legitimation zur feministischen Äußerung zu verlieren, drücken sich darin die Abwehr und die Individualisierung weiblicher Unterdrückungserfahrungen aus.

Das politische Subjekt Frau

Es scheint mir sinnvoll zu sein, das Verhältnis zwischen Gleichheit und Differenz der weiblichen Erfahrung als dialektischen roten Faden zu sehen, der die Geschichte des feministischen Wir durchzieht. Die Argumentation mit einer solchen Dialektik ist ein adäquates Analyseinstrument für die realen Lebensverhält nisse von Frauen: Unsere Gesellschaft ist von der kapitalistischen Produktionsweise bestimmt, die von Anfang an mit einer geschlechtsspezifischen Organisation von Produktion und Reproduktion verbunden war. Seit jeher verdienen Männer mit ihrer Lohnarbeit mehr Geld als Frauen, sind besser ausgebildet, besser ernährt und besetzen die besseren Posten in Wirtschaft und Politik. Frauen hingegen waren immer auch für die „Reproduktion des Lebens“ (Frigga Haug) zuständig und übernehmen damit eine überlebenswichtige gesellschaftliche Funktion, die dennoch weder angemessen entlohnt noch auf andere Weise anerkannt wird; vielmehr wird die ökonomische und soziale Abhängigkeit der überwältigenden Mehrheit der Frauen gerade mit ihrer Gebärfähigkeit begründet. Dieses kapitalistische Patriarchat hat sich längst globalisiert und andere, vormoderne Formen der Männerherrschaft abgelöst. Weltweit werden Babys mit Vulven zu Frauen sozialisiert und wachsen in weiblich bestimmte Handlungsspielräume hinein. Dort wird ihnen ein Großteil der gesellschaftlich anfallenden Reproduktionstätigkeiten aufgebürdet, während ihnen sexuelle, intellektuelle und politische Autonomie oftmals verwehrt bleibt. Das geschieht in unterschiedlichen sozialen Schichten und in unterschiedlichen Regionen der Welt mit unterschiedlichen Ausmaßen an Zwang und Alternativlosigkeit. Die kanadische Feministin und Kapitalismuskritikerin Gayle Rubin hat schon vor vielen Jahren festgestellt, dass das Geschlechterverhältnis gekennzeichnet ist von „einer endlosen Varietät und monotonen Ähnlichkeit“ quer durch die Kulturen und die Geschichte.8 Um den Erfahrungen von Frauen gerecht zu werden, braucht es die Erkenntnis ihrer Ähnlichkeit ebenso wie die ihrer Varietät, ja, das eine ist ohne das andere gar nicht denkbar: Varietät bzw. Differenz kann nur gedacht werden, wenn es vergleichende Momente gibt, an denen die Differenz ansetzt. Ähnlichkeit bzw. Gleichheit kann nur dort als Übereinstimmung gedacht werden, wo es ein Anderes gäbe – etwa einen mit Männern geteilten Erfahrungshorizont.

Das praktische Ziel feministischer Theoriebildung soll sein, Frauen in die Lage zu versetzen, sich von patriarchalen Zwängen zu befreien.

Demnach beruht ein Feminismus, der einseitig auf einen der beiden Pole stillgestellt wird, auf unreflektierten, unausgesprochenen Voraussetzungen; er bedenkt seine eigenen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen nicht. Das ist keine gute Position, um die gesellschaftliche Realität zutreffend zu beschreiben und Handwerkszeug zu ihrer Veränderung bereitzustellen. Auch die vorrangig sprachliche Auflösung der Differenz, die der Dekonstruktivismus betreibt, bietet keinen Ausweg aus der politischen Notwendigkeit, sich eingehend mit der Lebenspraxis und der jeweiligen Unterdrückungssituation von Frauen überall auf der Welt auseinanderzusetzen. Dass das kapitalistisch-patriarchale Zweigeschlechterverhältnis sich – mit entscheidenden Modifikationen – weltweit durchgesetzt hat, erfordert, dass weibliche Unterdrückungssituationen miteinander in Beziehung gesetzt, auf Gemeinsames und Trennendes hin untersucht werden. Ein so verstandener materialistischer Feminismus setzt voraus, dass es im Feminismus zentral um Frauenrechte geht. Feministinnen müssen ihre eigenen Unterdrückungserfahrungen und die anderer Frauen vergleichend untersuchen und auf dieser Grundlage über eine feministische Theorie sowie politische Interventionen auf frauensolidarischer Basis nachdenken. Das Erkenntnisinteresse einer materialistischen feministischen Theorie soll dabei sein, von den eigenen Erfahrungen und dem Austausch darüber zur Analyse des kapitalistischen Patriarchats vorzudringen. Die Analyse wiederum muss sich von den Erfahrungsberichten anderer Frauen in Frage stellen lassen und mit diesen aufs Neue vermittelt werden.9 Sie stellt ein politisches Subjekt Frau in den Mittelpunkt, auf das sich so viele Frauen wie möglich beziehen können, und an das anknüpfend sie ihre feministischen Kämpfe verorten und beschreiben können. Das praktische Ziel feministischer Theoriebildung soll sein, Frauen in die Lage zu versetzen, sich von patriarchalen Zwängen zu befreien. Dabei geht es sowohl um Verbesserungen innerhalb der bestehenden Gesellschaft wie auch darum, das globale kapitalistische Patriarchat in einen gesellschaftlichen Zustand zu transformieren, in dem Geschlecht und Sexualität keine Herrschaftskategorien mehr wären. Beide Perspektiven müssen in der feministischen Theorie miteinander dialektisch vermittelt werden.10 Negative Erfahrungen werden bei diesem Abgleich weiblicher Erfahrungen vermutlich eine vorrangige Rolle einnehmen. Das Verwiesensein auf den reproduktiven Tätigkeitsbereich, ein objektivierendes Körperverhältnis und die Verweigerung sexueller Selbstbestimmung sind nur drei Beispiele von frauenfeindlicher Diskriminierung, die zu bekämpfen Heteras wie Lesben, Cis- und Transfrauen, weißen und rassistisch diskriminierten Frauen, Müttern und kinderlosen Frauen ein gemeinsames Anliegen sein muss. Von der queeren Kritik am Subjekt Frau bleibt aufrechtzuerhalten, dass es im Feminismus nicht darum gehen sollte, wie Frauen zu sein und zu empfinden haben – vielmehr darum, das gemeinsame Leiden zu bekämpfen, das aus unterschiedlichen Perspektiven und in unterschiedlichen Schweregraden erlebt wird. Weibliche Erfahrungen inhaltlich zu diskutieren, muss die Kritik von Rassismus, Homo- und Transfeindlichkeit einbeziehen: aus der Erkenntnis heraus, dass viele Frauen mit Diskriminierung auf diesen Feldern zu kämpfen haben. Aber es darf nicht bei Lippenbekenntnissen wie diesem bleiben, dass Feminismus selbstverständlich antirassistisch zu sein habe; sondern konkrete feministische Analysen müssen mit antirassistischer Theorie vermitteln werden.

Der Ruf nach Vermittlung muss auch in eine andere Richtung ergehen. In jüngster Vergangenheit hat der antifeministische Rechtsruck in weiten Teilen der Gesellschaft die alarmierende Fragilität feministischer Errungenschaften offenbart wie auch das Versagen des neoliberalen Erfolgsversprechens, dass es tausende Möglichkeiten gäbe, sich geschlechtsunabhängig ein schönes Leben zurechtzuzimmern. Im Zuge dieses rauer gewordenen Zeitgeists erheben sich, nach Jahrzehnten der queeren Dekonstruktion weiblicher Erfahrungen, vermehrt radikalfeministische Stimmen. Die Autorinnen des radikalfeministischen Blogs Die Störenfriedas, aber auch die Zeitschrift EMMA und die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes weisen unermüdlich darauf hin, dass patriarchale Gewalt gegen Frauen nach wie vor ein Problem globalen Ausmaßes ist und dass frauenfeindliche Gesetzgebungen wie ein Abtreibungsverbot oder ein Verschleierungsgebot unterschiedslos alle Mädchen und Frauen betreffen, die im Geltungsbereich dieses Gesetzes leben – egal, wie sie sich hinsichtlich Geschlecht und sexueller Orientierung verorten. Radikalfeministinnen klagen die queerfeministische Dethematisierung der weiblichen Biologie an, weil Frauenunterdrückung und -ausbeutung genau dort ansetzen würden. Ein anonymer Sticker fasst den radikalfeministischen Debattenbeitrag zusammen: „Frausein ist eine biologische und soziale Realität – keine Identität, kein Gefühl, keine Ästhetik!“ Mit diesem Bezug auf ein übersichtliches und klar abgrenzbares weibliches Wir wollen Radikalfeministinnen die Kampflinien der Zweiten Frauenbewegung wiederaufrichten und appellieren an die universale weibliche Erfahrung patriarchaler Unterdrückung.

In jüngster Vergangenheit hat der antifeministische Rechtsruck in weiten Teilen der Gesellschaft die alarmierende Fragilität feministischer Errungenschaften offenbart.

Das führt einerseits zu klaren Positionierungen gegenüber sexistischen Missständen auf der ganzen Welt, die der Queerfeminismus nicht leisten kann und will. Die massenhafte Ausbeutung ökonomisch und psychosozial geschwächter Frauen in der Prostitution oder die islamistische Zwangsverschleierung Minderjähriger können Queerfeministinnen nicht angemessen kritisieren: weil sie den tendenziösen Erfahrungsberichten einzelner muslimischer und sich prostituierender Aktivistinnen stärker verpflichtet sind als der Frauensolidarität. Radikalfeministinnen hingegen leiten aus ihrer Wiederaufnahme der feministischen Schwesternschaft das Recht und die Verpfl ichtung ab, auch für Frauen zu kämpfen, deren Notlage ihnen nicht persönlich vertraut ist, und setzen sich daher etwa für ein Verbot der Mädchenverschleierung ein oder für das Nordische Modell, das Prostitution durch Freierbestrafung eindämmt.11 Das Kraftvolle dieses frauenkämpferischen Ansatzes weht nach 25 Jahren Sprachpolitik als frischer Wind durch die feministische Debatte. Seine heftige Abgrenzung zum Queerfeminismus spiegelt die queere Verachtung gegenüber der Zweiten Frauenbewegung. Hatten Queers die Differenz gegen das politische Subjekt Frau in Stellung gebracht, betonen Radikalfeministinnen das gleichmachende Moment der patriarchalen Frauenunterdrückung. Dabei leugnen sie, dass Frausein auch Identität, Gefühl und Ästhetik ist. Queerfeministinnen affirmieren den Zwang des neoliberal geprägten Subjekts, sich über eine individuell gestaltete Geschlechtsidentität zu verorten und zu vermarkten; Radikalfeministinnen tun ihn als Befindlichkeit ab, als akademische Spielerei und Realitätsverweigerung, die die Augen vor der gleichartigen Situation aller Frauen verschließt. Damit wird man den inneren Widersprüchen der weiblichen Subjektivität nicht gerecht. Zwar hantieren Radikalfeministinnen mit dem klassischen Gegensatzpaar sex (Biologie) und gender (Sozialisation und Gesellschaft), das auch dem materialistischen Feminismus ein wichtiges Werkzeug sein muss. Jedoch verfehlen sie, das Verhältnis zwischen sex und gender sowie seine individuelle Vermittlung im Subjekt genau zu erforschen, und landen deshalb so treffsicher im Biologismus wie die Queers in der Ablehnung jeglicher Geschlechtsnatur. Weibliche Sozialisation wird als einseitige Prägung verstanden, die ausschließlich von außen einwirkt und das Menschlein mit Vulva zur patriarchal zugerichteten Frau formt. Daraus entstehen zwei Fehlschlüsse: Zum einen wird die libidinöse Verstrickung von Frauen mit dem Patriarchat vernachlässigt. Auf diese Weise können etwa Frauen, die Freude an SM haben, nur als sexuell verstümmelte Opfer betrachtet werden – nicht als Subjekte, die in Teilen ihrer patriarchalen Prägung eine Form sexueller Lust gefunden haben, die durchaus selbstbestimmt und im Bewusstsein des Widerspruchs, etwa zur eigenen herrschaftskritischen Haltung, gelebt werden kann. Die radikalfeministische Argumentation erinnert hier an die PorNO-Kampagne der 1980er und weist dieselbe Schwäche auf, weibliche Erfahrungen als allen Frauen gemeinsame Opfererfahrung zu beschreiben, die nur aufgedeckt und skandalisiert werden müsse: entgegen den Bemühungen der Männer, die Sexualität der Frauen „patriarchatsgerecht zurechtzuschneiden“.12 Der Anspruch einer materialistisch-feministischen Theorie sollte durchaus sein, den Opferstatus der Frauen im globalen Patriarchat zu beschreiben – und dabei darzustellen, wie sich dieser Status im einzelnen Subjekt realisiert und wo er mit Anteilen weiblicher Selbstverwirklichung verquickt ist. Angesichts der realen Vervielfältigung weiblicher Lebensläufe und Handlungsspielräume, die durch Neoliberalismus und Globalisierung entstanden sind, müssen diese paradoxen Verquickungen einen angemessenen Raum erhalten. Der zweite Fehlschluss rührt aus der Annahme, dass die geschlechtsspezifi sche Sozialisation, die auf die biologische Einordnung folgt, notwendig eine Person des verordneten Geschlechts hervorbringt, die überdies die entsprechende Täter- oder Opferposition im Patriarchat bekleidet. Demzufolge seien Männer (potenzielle) Täter und Transfrauen verkleidete Männer. Dadurch neigen manche radikalfeministischen Analysen zu verschwörerischen Ansichten, die das Verhältnis verfehlen, in dem die einzelnen Subjekte zur übermächtigen Objektivität des kapitalistischen Patriarchats stehen. Gerda Lerner argumentiert in ihrem Klassiker Die Entstehung des Patriarchats überzeugend, dass das Patriarchat in keiner Entwicklungsstufe zuvörderst als Revolte oder Verschwörung der Männer missverstanden werden darf – obwohl Männer stets von der Unterordnung der Frauen davon profitiert haben. Den Prozess, der Frauen immer weiter in die schwächeren Positionen der Gesellschaft beförderte, charakterisiert Lerner als historische Tragik einer ursprünglich sinnvollen geschlechtlichen Arbeitsteilung, an der Frauen von Anfang an mitgewirkt haben, und die als Handlungsgrundlage beider Geschlechter erst mühevoll bewusst gemacht werden muss. Es ist keine leichte theoretische Aufgabe, das kapitalistische Patriarchat als global prozessierendes Verhängnis zu erfassen und gleichzeitig als die männerbündische Machtausübung, die es auch ist. Nicht zuletzt kann mit dem radikalfeministischen Hammer kei ne Solidarität mit den politischen Kämpfen von Transfrauen geschmiedet werden. Ein Erfahrungsbegriff, der das Frausein recht unvermittelt von natürlichen Brüsten und Vulven herleitet, kann die weiblichen Erfahrungen von Transfrauen nicht erfassen: den Alltagssexismus, der sie betrifft wie andere Frauen; ihr spezifisches Verwiesensein auf den reproduktiven Bereich, der sie weniger zu Ehe und Mutterschaft drängt als in die Prostitution, wo sich Männer den Zugriff auf ihren Körper erkaufen. Bei aller berechtigten Wut auf die frauenfeindlichen Auswüchse manches queeren Transaktivismus ist es völlig verfehlt, Transfrauen als Männer zu denunzieren, die eine weibliche Identität annehmen, um sich Zugang zu Frauenräumen und Sex mit Lesben zu verschaffen.13 Das radikalfeministische Postulat von der Gleichheit aller Frauen, die auf Biologie und Sozialisation beruht, endet an der Differenz trans/cis – statt sich Transweiblichkeit fruchtbarerweise als ein differentes, ein anderes Frausein gegenüberzustellen, das entscheidende Gemeinsamkeiten mit cisweiblichen Erfahrungen aufweist.14 Auch auf diesem verminten Feld kann die feministische Auseinandersetzung nur über einen Austausch gelingen, der die Erfahrungen der anderen Frau als unverzichtbar für die eigene Theoriebildung begrüßt und mögliche gemeinsame, frauensolidarische Kampfziele erwägt.

In diesem Text habe ich mich großenteils auf metatheoretischen Bahnen bewegt. Interessant wird es eigentlich erst, wenn diese Bestimmungen eines materialistischen Feminismus auf konkreten Kritikfeldern ausgeführt werden: etwa einer ausführlichen Kritik der weiblichen Sozialisation, die den globalen Gemeinsamkeiten, aber auch den immensen Unterschieden gerecht wird; oder einer Analyse des in vielen Ländern geführten feministischen Kampfes um das Recht auf Abtreibung. Ein materialistischer Feminismus kommt nicht umhin, mit der vorläufig unaufhebbaren Spannung von Gleichheit und Differenz unter Frauen zu arbeiten. Über ein nüchternes Zweckbündnis auf der Basis geteilten Leidens hinaus resultieren daraus Möglichkeiten, die Feministinnen auch im Interesse eines schöneren Lebens ins Auge fassen sollten: empathische Solidarität, der Anstoß, voneinander zu lernen, und die Bereicherung durch die gleichzeitige Nähe und Fremdheit der anderen Frau.


Koschka Linkerhand ist Redaktionsmitglied der outside the box. Dieser Artikel fußt zum einen auf dem gemeinsamen Nachdenken in der Redaktion, zum anderen auf dem Einführungstext in ihren Sammelband Feministisch streiten, erschienen 2018 im Querverlag.


  1. Beeindruckende Zeugnisse dieser Zeit sind die Werke Frauenbefreiung und sexuelle Revolution von Shulamith Firestone (erschienen 1970) und Der kleine Unterschied und seine großen Folgen von Alice Schwarzer (1975). 

  2. Siehe dazu Kow, Anna: Gefährliches Vergnügen: Sex und Feminismus. Ein Abriss. In: outside the box #1 (2008). 

  3. Vgl. den großartigen Wutanfall der Schwarzen Botin in Lore Chevners Stück Der konkrete Mann – oder: Soll man Männer als Männer kritisieren? in outside the box #5 (2015). 

  4. Hier sei auf den wegweisenden Sammelband Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte verwiesen, 1986 herausgegeben von Katharina Oguntoye, May Ayim und Dagmar Schultz. 

  5. Etwa bei Möser, Cornelia: Über die Erfindung des Gleichheits- und des Differenzfeminismus. Vortrag unter http://agqueerstudies.de/corneliamoser-uber-die-erfindung-des-gleichheits-und-des-differenzfeminismus. 

  6. Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene: Unterscheiden und herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart. Bielefeld 2017. 

  7. Etwa in Solis, Marie: How the Women’s March’s „genitalbased“ feminism isolated the transgender community. Unter https://www.mic.com/articles/166273/how-the-women-s-march-s-genital-based-feminism-isolated-the-transgender-community/. 

  8. Zit. n. Knapp, Gudrun-Axeli/Wetterer, Angelika: Traditionen-Brüche. Entwicklungen feministischer Theorie. Freiburg 1992. 

  9. Katharina Lux beschreibt in dieser Ausgabe zu Überlegungen aus der Zweiten Frauenbewegung, wie feministische Theoriebildung über den Austausch von Erfahrungen erfolgen kann. 

  10. Vgl. dazu Rosa Luxemburgs Idee der revolutionären Realpolitik, etwa bei Bonavena, Marco/Hauer, Johannes: Grundeinkommen – macht Arbeiter und Unternehmerinnen glücklich!? Teil 2. In: zehnplusfünf. politisches magazin (2015). 

  11. Siehe hierzu die sehr erhellenden Texte der Anti-Prostitutions-Aktivistin Huschke Mau: http://huschkemau.de. 

  12. Ein Beispiel für eine Argumentation, die zu dieser Schieflage neigt, ist Mira Sigels dennoch lesenswerte Rezension Der Bericht einer Überlebenden: „Das Inzesttagebuch“, https://diestoerenfriedas.de/der-bericht-einer-ueberlebenden-dasinzesttagebuch (2017). 

  13. So geschehen im Flyer der Lesbengruppe Get The L Out, die im Juli 2018 die Londoner Pride Parade störte, um darauf aufmerksam zu machen, dass explizit lesbische Anliegen in der LGBTI-Bewegung zunehmend untergehen. Die acht älteren Genossinnen, die es sich herausnahmen, im Namen der Frauen die riesige Parade aufzuhalten, führten diesen Missstand leider pauschal auf transaktivistische Interventionen zurück. Wie berechtigt die Kritik an den unfeministischen bis antifeministischen Tendenzen im Transaktivismus und in der gesamten LGBTI-Bewegung aber grundsätzlich ist, zeigt die helle Empörung, die die Protestaktion auslöste: Ihre Kritik wurde sowohl von den OrganisatorInnen der Parade als auch von der queeren Community mit großer Selbstverständlichkeit als völlig undiskutabel übergangen. 

  14. Vgl. dazu Nie ganz sie selbst von Daria Kinga Majewski in diesem Heft, outside the box #7 (2019). 

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