„Ich kann doch nicht sagen: Ihr seid fremd und habt völlig andere Erfahrungen.“
Gespräch mit Frigga Haug
Frigga Haug ist 1937 in Mühlheim an der Ruhr geboren. Sie war in der der Anti-Atom-, der Studenten- und Frauen-Bewegung aktiv. Sie ist Teil der Zeitschrift und des Verlags Das Argument und gründete dort Ende der 80er Jahre die Krimi-Reihe Ariadne, in der Kriminalromane von Frauen erscheinen. Sie war im Sozialistischen Studentenbund (SDS) und Mitglied im Frauenbund Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, der sich 1968 gegründet hatte. Sie war im Sozialistischen Frauenbund Westberlin (SFB), der bis ca. 1980 aktiv war. Ihre umfangreichen Arbeiten, Forschungen, Methoden, Herausgaben und Diskussionsgruppen zum marxistischen Feminismus führt sie bis heute fort. Kürzlich erschienen ist ihr Buch Selbstveränderung und Veränderung der Umstände, das ihre zentralen Thesen, die sie in der folgenreichen Täter/Opfer-Debatte1 in der Zweiten Frauenbewegung begann zu entwickeln, durch den Zugriff auf Kritische Psychologie, Erinnerungsarbeit, Moral, Gefühle, Angst, Literatur und Film, Erfahrung und Theorie, Subjektivität und Politik vertieft.
Als wir am Bahnhof in Esslingen ankommen, beschließen wir, nach der langen Zugfahrt den Weg zum Haus zu Fuß zu gehen. Wir schlängeln uns durch die zahlreichen Baustellen der Stadt und bewundern die duftenden Walnussbäume am Fuße des Berges, den wir schnaufend und unter der Last unserer Rucksäcke besteigen. Erschöpft und aufgeregt klingeln wir an der Tür des Zweifamilienhauses im Stile der 50er Jahre, wo Frigga und Wolfgang Fritz Haug zu einem Teil des Jahres leben. Frigga Haug öffnet uns, bietet uns das Du an. Wir stellen unsere Sachen ab und Frigga zeigt uns die schöne Terrasse, auf die wir uns mit einem Glas Wasser setzen. Der Ausblick auf die Weinberge legt schnell unsere Erschöpfung und Aufregung. Wir beginnen, angeregt von Friggas Interesse an uns und unserer Redaktionsarbeit, uns über unser Selbstverständnis auszutauschen. Schnell greife ich nach dem Aufnahmegerät und schalte es, ein wenig zu spät, ein.
Kimey: In Bezug auf die Vier-in-einem-Perspektive interessiert uns, wie Du derart theoretisch arbeiten und gleichzeitig so realpolitisch für etwas eintreten kannst. Wir haben uns gefragt, wie Du diese beiden Ebenen zusammenbringst.
Anne: Gibt es an manchen Stellen Verkürzungen, oder wie geht man mit dem Widerspruch um, diese Verhältnisse eigentlich überwinden zu wollen?
Frigga: Also, erst mal beginnt es mit den Kämpfen
der Studenten in der Studentenbewegung, von
der jetzt vielfach die Rede ist. Wir sind noch mal
zehn Jahre älter, wir kommen aus der Anti-Atom-Bewegung
gegen Atomversuche in der Sahara
und der Ostermarsch-Bewegung. Argument2, unsere
Zeitschrift, kommt auch aus dieser Zeit. Es
ging uns um die Revolutionierung der Universität,
und zwar eigentlich, im Kern, darum, die
faschistischen Strukturen wirklich zu überwinden.
Denn dieses Deutschland hatte seine faschistische
Vergangenheit nie aufgearbeitet. Wir waren alle
Kinder von faschistischen Eltern, denn die anderen waren längst
umgebracht. Es gab ja keine Kinder von Widerstandskämpfern, sie
waren in den Konzentrationslagern umgekommen. Und wir, die
wir noch da waren, waren die Kinder von faschistischen Eltern.
Das habe ich damals in einer Vollversammlung gesagt: ‚Wir müssen
jetzt den Faschismus aufarbeiten!‘, dann waren sie plötzlich
alle Kinder von Widerstandskämpfern, nur ich hatte faschistische
Eltern. Sehr vereinsamt konnte ich diese Strategien mit der Aufgabe
beginnen: Wie bearbeiten wir eigentlich unsere – man kann nicht sagen unsere faschistische Vergangenheit, weil wir klein
waren
– auf? Das war unsere Generation, aber die 68er, die dann
kamen, arbeiteten auf eine andere Weise gegen die Wiedereinsetzung
praktisch der ganzen faschistischen Professoren an den Universitäten.
Ohne Bruch kamen alle wieder auf ihre Lehrstühle, und
die Widerstandskämpfer kamen nicht dahin, sondern die waren
schon tot, sie konnten nicht berufen werden. Ich zum Beispiel,
auch wenn ich keine Widerstandskämpferin im Faschismus war,
sondern Marxistin, ich glaube, ich habe 30 Bewerbungen geschrieben
und kam immer auf die Liste, aber ich wurde nie berufen,
bekam
schließlich eine Mitarbeiter-Stelle an der Universität für
Wirtschaft und Politik in Hamburg. Sie wurde von den Gewerkschaften
gegründet mit der Idee, dass die Widerstandskämpfer,
wenn sie zurückkommen, zum Beispiel aus den USA und der UdSSR,
eine Universität vorfinden, in der sie lehren können. Dort schickten
auch die Gewerkschafter ihre kommenden Funktionäre hin,
dass sie ganz toll werden. Aber der erste Rektor dieser Universität
war Helmut Schelsky, ein ausgesprochen reaktionärer und konservativer
Soziologe. Also war von dem Geist schnell nichts mehr da,
weil die Bundesrepublik all die alten Professoren wieder einsetzte.
Die Studentenbewegung hat damit aufgeräumt. Da gibt es ein
schönes Bild3, wo alle abstimmen in einem großen Audimax an der
Freien Universität Berlin: Ob wir bereit sind von diesen Professoren
zu lernen, und wir haben abgestimmt, dass, nein. Keiner ist
bereit, bei ihnen zu lernen, und wir müssen unser eigenes Studium
organisieren, eigene Seminare, eine eigene Weise, wie man sich
Wissen aneignet. Wir hatten einen wunderbaren anti-autoritär demokratischen
Impuls, dass wir das Wissen und die Studien zwar
brauchen, aber wir bestimmen, was wir lernen und wie. Auf diese
Weise ist das Argument gewiss die Zeitschrift der Studentenbewegung
geworden. Wir haben nämlich um die Zeit schon zehn Jahre
lang all die Themen der Studentenbewegung bearbeitet, Sexualität
und Herrschaft und Emanzipation der Frau 1 und 2 und 3 und
Schule und Erziehung und Massenmedien und Manipulation,
Algerienkrieg,
Polen, Antisemitismus und Entwicklungsländer.
Und dann die Kämpfe der Frauen. Die Frauenbewegung fing an mit
dem langen Kampf um die Hausarbeit, fing an mit der Abtreibungsfrage,
mein Körper gehört mir! und wir wollten den Abtreibungsparagrafen
weghaben. Abtreibung war strafbar zu der Zeit, und
zwar immer, nicht nach einer bestimmten Frist, wie es heute ist,
sondern Abtreibung war immer strafbar. Das war der Hauptimpuls
der Empörung und zwar gleichzeitig und weltweit waren wir gegen
das Verbot der Abtreibung. Ziemlich bald begannen wir mit dem
Marx-Studium: Wo ist eigentlich in der Kritik der politischen Ökonomie
von Marx die von Frauen umsonst getane Arbeit angesiedelt?
Empörte Berichte dazu, unendliche Schriften. Alles drehte
sich um die Frage: Wo fungiert denn eigentlich die viele Umsonst-Arbeit,
die alle fürsorglich sorgend aufwenden, um sich um Alte,
Kleine, Behinderte usw. zu kümmern, die nicht normal im Arbeitsprozess
integriert sein können und so nicht für sich sorgen können?
Wo sind sie, wie sind sie theoretisch zu begreifen? Das war der
zentrale Gedanke, und es ging aus wie das Hornberger Schießen –
es ging sich nicht aus. Nach ungefähr zehn Jahren erlahmte die
Debatte. Es interessierte nach und nach keinen mehr, war aber
nicht gelöst und weste immer noch so dazwischen. Und da dachte
ich, komisch, wenn es immer wieder kommt und immer wieder,
müssen wir dafür eine Sprache finden und ein theoretisch-politisches
Konzept. Es ist wie bei Mensch-ärgere-dich-nicht, du fällst immer wieder zurück auf Los, und dann
entsteht plötzlich die Forderung danach, die
Hausarbeit zu bezahlen, und dann denkst
du darüber nach, wie man das machen
könnte. Die einen haben zwölf Zimmer, die
anderen ein halbes, die einen haben eine
Haushaltsgehilfin, die anderen haben sechs
Kinder. Wie sollen wir denn die Hausarbeit
errechnen und bezahlen, nach welchen Kriterien,
wie soll das funktionieren? Selbst
sozialdemokratisch funktioniert es nicht,
weil wir es nicht berechnen können, und
dann bleibt es aber an diesem Punkt stehen.
Ich habe mich dann gefragt: Wie wäre es,
wenn man das einfach stehen lässt? Es gibt
also diesen großen Block von sorgender,
pflegender Umsonst-Arbeit in dieser Gesellschaft.
Wir lassen es einfach stehen und sagen:
Dies ist ein Teil der Gesellschaft und
der hat ganz offensichtlich eine ganz andere
Logik der Zeit als die Lohnarbeit. Denn bei
der Lohnarbeit sieht man, dass das Kapital
die Bestimmung darüber hat, und man sieht, je weniger Arbeit in
einem Produkt steckt, desto mehr Profit und desto besser für den
Kapitalisten, aber je mehr Arbeit drin steckt, ist es auch nicht besser
für die Arbeiter, das ist der Gang der Produktivkraftentwicklung
– Arbeit verringern. Und wenn ich diese Logik anwende auf fürsorgliche
Arbeit, würde das Produkt leider verunglücken. Nicht wahr?
Je weniger Zeit auf Kinder, Alte, zu Pflegende und Behinderte
man
verwendet, desto mehr verwahrlosen sie. Sie haben offensichtlich
eine andere Logik der Zeit. Also muss ich die Logiken nebeneinander
in Säulen stellen. Wenn ich das getan habe, sehe ich, dass ich
die zwei anderen Logiken, die ich aus marxistischer Theorie ja unendlich
kannte, nie zusammengefügt hatte. Es gibt dieses schöne
Zitat von Marx, für Verhältnisse zu streiten, in denen die Entwicklung
eines jeden die Voraussetzung der Entwicklung aller ist.4 So
muss ich für diese Frage der Entwicklung eines jeden noch eine
eigene Säule schaffen. Offensichtlich ist Entwicklung eine schwierige
Arbeit, die extra getan werden muss. Und vor allen Dingen
meine ich auch die Entwicklung über das Alltägliche hinaus, das
betrifft die Kunst. In der Vier-in-einem-Perspektive steht an dieser
Stelle Kultur, das ist aber eigentlich nicht, was damit gemeint ist.
Damals gab es diese heftigen Auseinandersetzungen um Kultur
und Zivilgesellschaft noch nicht. Aber gemeint sind die künstlerischen
Fähigkeiten, die ein jeder Mensch eigentlich hat, aber die bei
allen durchschnittlich nicht entwickelt werden. Am allerwenigsten
bei Frauen, weil sie es sich nicht mehr leisten können, auch noch
diesen Sektor auszubilden mit der Vielfachbelastung von diesen
plötzlichen Babys, die auftauchen. Also muss es einen eigenen Sektor
für künstlerische Ausbildung geben, für künstlerische Betätigung,
oder für das menschliche Vermögen, mehr zu können, als
bloß die Existenz zu sichern. Das ist die dritte Säule. Wenn wir das durchsetzen würden, müssten wir alle an der politischen Gestaltung
teilhaben lassen, das heißt Politik von unten, anders geht es
nicht, das war die Idee, die daraus folgte.
Anne: Wie entwickelte sich dann die Frauenfrage weiter?
Frigga: Die Frauenfrage nagte, sie nagte an allen linken Konzepten und sie wurde auch grundsätzlich immer vergessen. Selbst Gruppen, die mit der Frauenfrage begannen, hatten sie binnen kurzem wieder vergessen. Sie vergaßen sie über dem Protest gegen die Amerikaner in Vietnam, oder die Kriege in der Dritten Welt. Da sie immer wieder verschwindet, muss sie auch einen eigenen Merkposten, eine eigene Größe kriegen, und das kriegt sie, wenn man die Kämpfe um Zeitverfügung führt. Das dachte ich jedenfalls bisher. Ich dachte also, man muss eine leichte Verschiebung vornehmen, nicht die Kämpfe um die Marginalisierten oder nur um die Unterdrückten zu führen, sondern: Wer verfügt eigentlich über wessen Zeit? Das findest Du übrigens auch bei Marx, es fängt an …
Kimey: … mit dem Kapitel zum Arbeitstag …
Frigga: Ja.
Kimey: … ich habe auch schon mal überlegt, ob man dann nicht ein darauf aufbauendes Kapitel schreiben sollte. Es könnte an der Hausarbeit zeigen, was passiert, wenn die Produktivität das Reproduktive in immer kleinere Grenzen drängt, wie diese Verwahrlosung dann aussieht. Ein Pendant also zum Kapitel über den Arbeitstag …
Frigga: Kann man?
Kimey: Also die Gegenseite zeigen.
Frigga: Also den zunehmenden Grad an Verwahrlosung, wenn die
Zeit abgezogen wird.
Übrigens hat Chaplin das schön durchgeführt in Modern Times.
Dort sieht man, was passiert, wenn man zum Beispiel auch das
Essen in das Verwertungsdiktat nimmt. Könnt Ihr Euch daran
erinnern?
Da erfindet einer eine Maschine, so dass man die Arbeit
am Fließband für das Essen nicht unterbrechen muss. Es werden
einem die Teller ins Gesicht geschmissen und die Nahrung per
Schlauch zugeführt!
Anne: Uns interessiert an der Vier-in-einem-Perspektive, dass das Bestehende integrierbar ist, oder beziehungsweise eine Transformation angestoßen wird aus dem Hier und Jetzt. Hast oder hattest Du Zweifel daran? Welche Widersprüche sind damit verbunden?
Frigga: Es kommen Spitzfindige, meistens Männer, die so sind und sagen: ‚Aber wenn ihr 4-in-1 innerhalb der Gesellschaft unterkriegt und die Kämpfe daran orientiert, dann ist es ja logisch, dass es Kapital-immanente Kämpfe, in den Kapitalismus integrierbare Kämpfe sind und damit ist es nicht transformativ und es ist nicht revolutionär‘. Wenn man sich auf dieses Gleis begibt, passiert aber das Gegenteil. In der Vier-In-Einem-Perspektive ist angezielt, dass, wenn man ein Projekt hat, was sich auf vier Bereiche berechnet, die zum Menschen gehören, und angenommen, alle würden einsehen, dass das so ist, und alle könnten danach streben, diese vier Bereiche ins Leben zu integrieren, dann könnten wir uns bedauerlicherweise nicht länger als vier Stunden Lohnarbeit leisten, weil wir sonst als Menschen verkümmern. Und wenn man jetzt auftreten und sagen würde: ‚So, wir sind also für eine radikale Arbeitszeitverkürzung, damit fangen wir an‘, wäre das noch normal, das könnte man machen, man könnte sogar gewerkschaftliche Unterstützung kriegen. Wir sagen: ‚Wir sind dafür, auf vier Stunden runterzugehen!‘ – wer sollte das von herrschender Seite, von den herrschenden Verhältnissen und von der Kapital-Seite her unterstützen? Da könnten wir auch gleich sagen: ‚Wir sind für die Revolution‘. Wenn ihr hingeht und sagt: ‚Unsere gemeinsame Forderung nach langem Überlegen ist vier Stunden Lohnarbeit, den Rest bestimmen wir jetzt auf drei anderen Sektoren, für die wir womöglich noch, da Kunst dabei ist, Investitionen brauchen, die sich nicht auszahlen und so weiter‘, ist es schon ein ziemlich utopisches Projekt. Aber es ist dennoch so, dass man jetzt gleich damit anfangen kann, denn es gibt praktisch die Linie vor, in der die Ansprüche und die Forderungen gestellt werden müssen. Das setzt bei sehr vielen Menschen sehr viel Fantasie frei, und sie können sich dann politisch engagieren.
Anne: Wie schätzt Du die Situation für gemeinsame Kämpfe ein?
Frigga: Das ist auch eine Frage meiner Wahrnehmung, weil ich in sehr vielen Gruppen bin und pro Woche mindestens zwei Anfragen ablehnen muss, weil ich nicht so viel reisen und reden kann, sodass ich das Gefühl habe, völlig subjektiv, dass die ganze Welt marxistisch- feministisch interessiert ist zur Zeit. Alle wollen sich darin bewegen und sind begeistert dafür. Sowohl über 4-in-1 oder über Erinnerungsarbeit oder über beides. 4-in-1 hat den ungeheuren Vorteil, dass es eine Vision hat, die über das Jetzige hinausgeht und doch seine Füße in der Realität dieser Gesellschaft hat. Es hat weltweit Echo. Ich war letztes Jahr in Pontevedra bei einer Konferenz, zwei Frauen holten uns vom Flughafen ab, und sie machten immer dieses Handzeichen – halten erst einen Finger hoch, dann zurück in die ganze Faust – und ich dachte, was ist denn mit diesen Frauen los? Und dann haben sie gesagt: ‚Quattro en uno! Quattro en uno!‘
Kimey: Also, sie kannten das auch schon?
Frigga: 4-in-1 kannten sie schon und hatten es als Kampfwort bei
sich. Ich habe etwas, was mir eine Freundin vorher ins Spanische
übersetzt hat, vorgetragen. Es ging darum, was passiert, wenn man
seiner Weiblichkeit beraubt wird durch Brustkrebs und die damit
verbundene Operation. Sie mussten mich aufs Podium tragen, ich konnte schon wieder nicht laufen im vorigen Jahr und sie hörten
zu. Und plötzlich bewegten sich die Frauen auf mich zu, kamen aus
den Reihen heraus – es war ein großer Theatersaal – und sagten:
‚Wir haben noch nie über unsere Körper in dieser Weise gesprochen,
du hast uns eine Sprache gegeben‘. Daran seht ihr, wie viel
Arbeit noch nötig ist, und wie unglaublich es ist, dass man über das
Verhältnis zum Körper die Menschen auch revolutionär erreichen
kann. Stell dir das mal vor, jetzt in diesem Jahr, sie haben noch nie
über ihre Körper gesprochen und sie brauchen eine Sprache. Die
Frage ist, an welcher Ecke fängt man eigentlich an in Vier-in-einem,
denn es hat so viele Ecken, dass so viele Menschen sich
einfinden können und sagen: ‚Ja, das ist unser Projekt, jetzt haben
wir eine Perspektive, jetzt gehen wir en marche.‘
Die zentrale Frage ist: ‚Wie weit haben wir uns eingelassen mit Herrschaft, dass wir darin gefangen sind? Wir müssen es selber gewesen sein.‘
Erinnerungsarbeit ist auf der anderen Seite auf eine ähnliche Weise, aber doch wieder ganz anders, auch um die ganze Welt gegangen. Es gibt sogar einen Lehrstuhl dafür in Australien. Ich weiß ungefähr, wie verbreitet es ist, denn ich werde immer überallhin eingeladen. Es gibt ein Buch dazu namens Dissecting the Mundane5 4, das die verschiedenen Projekte in den verschiedenen Ländern gerade gemacht haben. Und es fängt an darüber zu sprechen, wann sie das erste Mal Erinnerungsarbeit in dem Buch Sexualisierung der Körper (1981) fanden, das gab es nämlich ein Jahr nach Erscheinung auf Englisch, und infolgedessen ging es um die Welt. Warum ist das etwas, was die Menschen berührt und womit sie etwas anfangen können? Ihr wisst ungefähr, was es ist, oder? Und es hat auch diese eine utopische Dimension, die gleichzeitig bei den alltäglichen Einzelnen anfängt, und zwar nicht: ‚Wie sind sie Opfer der Verhältnisse? Wie sind sie unterdrückt?‘ und ähnliches, sondern die zentrale Frage ist: ‚Wie weit haben wir uns eingelassen mit Herrschaft, dass wir darin gefangen sind? Wir müssen es selber gewesen sein. Denn wir können doch nicht davon ausgehen, dass ein ganzes Geschlecht sich dauernd opfern lässt und nichts dagegen tut und sich nicht dagegen wehrt. Also müssen wir etwas davon gehabt haben. Wenn wir das herausfinden, wissen wir, wie wir das ändern können, und dann können wir uns auch befreien.‘ Das leuchtet allen sofort ein. Es ist ein Weg raus aus dem Opfer-, Geopfert-werden-Diskurs in eine Frage von Selbstermächtigung, die zwar mit unheimlich viel Arbeit verbunden ist und auch mit großen Schmerzen, wenn man erkennt, was man alles für möglich hält und was man gefühlt hat und wie viel von den gemeinen Gefühlen, die man bei anderen gerade noch annehmen kann, aber nicht bei sich selbst, man in sich hat, aber sie lieben es alle, wo immer ich hinkomme, fangen sie sofort an und gibt es Erinnerungsarbeitsgruppen. Die Einzelnen sagen: ‚Ich möchte lieber in der Erinnerungsarbeitsgruppe sein als in der Theoriegruppe, wo die Begriffe noch abstrakt über mir schweben, sie sollen was mit mir zu tun haben‘, das finden sie alle großartig. Das sind ja nicht spezielle Erfindungen von mir, sondern erstens im eigenen Leben verankert, zweitens in eigener Erfahrung, drittens im politischen Anspruch und viertens in marxistischen Studien gibt es doch die Punkte, wo man sich denkt: ‚Ach, natürlich!‘, und dann, da steht ja völlig bekloppt bei Marx geschrieben: ‚Wir (gemeint das Proletariat männlich) werden die Frauen befreien‘. Wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es, wie Peter Weiss6 sagte, ohne Folgen für uns, wir müssen es selber tun. Wir können nicht warten, bis irgendjemand uns befreit, wie die Ritter im Märchen, oder wie Dornröschen, die aus den Hecken geschnitten wird, oder wie alle Märchen so sind. Es gibt überall Forschungsfelder für uns, und wenn wir uns denen widmen, dann sieht man, die Mythen sind so, die Legenden sind so, die Märchen sind so. Wir können alles hervornehmen und analysieren und sehen, was wir ändern müssen in der Wahrnehmung, in der Praxis, im Denken, im Erzählen, im Kindererziehen, praktisch in allen Punkten. Infolgedessen ist es auch, wie 4-in-1, eine Aktivitäts- Matritze, so kann man es nennen, es ruft zur Aktivität auf und es hat die Unverschämtheit zu sagen: ‚Wir machen die Politik.‘ Wir können andere Politik kritisieren, wir können aber nicht von heute auf morgen alle Institutionen abschaffen und hoffen, dass das jetzt fantastisch laufen würde, mit uns allein. Aber der Anspruch ist klar: ‚Wir wollen das selbst machen.‘
Anne: Wie würdest du deine Erfahrung in Bezug auf Erinnerungsarbeit beurteilen, wenn du sagst, dass die Frauen lieber in die Erinnerungsarbeitsgruppe wollen? Hat sich an dieser Einsicht einerseits, aber auch an dem Bedürfnis nach der Auseinandersetzung mit der eigenen Erfahrung und der eigenen Geschichte möglicherweise etwas verändert im Laufe der Zeit, gerade im Bezug auf das Interesse der Frauen an Theorie-Gruppen? Nimmst Du das als einen Konflikt wahr?
Frigga: Ja, aber der Witz ist doch bei beiden Projekten, dass sie immer zwischen Erfahrung und Theorie, zwischen Begriffsarbeit und Erinnerung auf- und niedergehen. Es wechseln ständig die Ebenen, wir sind immer mindestens in vier Ebenen: Einerseits müssen wir uns auf der Ebene des Politischen und seiner Kritik bewegen, aber auch vor allen Dingen auf der Ebene der Sprache, die wir nicht haben oder nicht sprechen können, oder in der wir die Begriffe noch nicht finden. Bis bemerkt wird, dass die Sprache, die wir sprechen, selbst eine Herrschaftssprache ist und dass wie wir uns ausdrücken, gar nicht nach unserem Belieben ist, wir nicht frei wählen können, ist viel Spracharbeit nötig, was wirklich eine harte Arbeit ist, die wir da machen müssen. Und wer macht mit uns Spracharbeit? Wir müssen sie uns suchen. Zum Beispiel Christa Wolf macht ausgezeichnete Spracharbeit. Als ich mit der Erinnerungsarbeit anfing, kam Christa Wolf gerade in die BRD, das durfte sie damals noch. Wir waren noch mitten im Westen, da stellte sie Kindheitsmuster vor und ich ging zu ihr und sagte: ‚Sieh mal, ich mache gerade Erinnerungsarbeit mit den Frauen, und was ich ganz toll bei Dir finde, sind diese Glitzerworte und ähnliche Beobachtungen, dafür brauche ich auch noch ein Sensorium. Auch für die Frage, wie wir es jetzt genau machen können, dass die Einzelnen aufmerksam werden, was sprachlich geschieht und wo Schweigen ist und was mit dem Schweigen passiert.‘ Es geht nicht nur um eine Herrschaftssprache, sondern auch darum, wo wir überall nicht sprechen. Das ist ungeheuer wichtig und Christa Wolf führt das sowohl in Kindheitsmuster als auch in den zwei Bänden Die Dimension des Autors vor. In diesen zwei Bänden befinden sich Aufsätze, Essays, Gespräche und Reden zur Dimension des Autors. Dort wird jeweils nochmal ein ganz anderes Feld reflektiert, ein literaturwissenschaftliches Feld. Du bist plötzlich dort hineingeworfen. Du hast gerade noch mit deinen persönlichen Erinnerungen angefangen und plötzlich bist du in diesem Feld und musst nun Literaturwissenschaften studieren und Sprache, denn anders geht es nicht und womöglich gleich international, weil die Vergleiche mit anderen Sprachen und Kulturen bringen dich natürlich sprunghaft voran, weil ähnliches darin geschieht. Und jetzt: Warum können die Frauen, die der Theoriegruppe die Erinnerungsarbeitsgruppe bevorzugen, mich nicht enttäuschen, wenn sie nichts mit den Begriffen anfangen können?
Anne: Vielleicht kann ich noch mal genauer fragen, denn einer Ahnung nach kann ich mir vorstellen, dass der Bezug zu Erfahrung sich verändert hat, zu dem, was zum Beispiel Christa Wolf thematisiert hat, und das ‚Sprache-finden‘ überhaupt, wie Du es auch formuliert hast. Zu einem Bewusstsein davon gehört doch auch trotzdem schon viel dazu, sich auf so etwas einzulassen und sich zu öffnen. Es kann jede lernen, aber trotzdem habe ich heute das Gefühl, dass der Zugriff auf Erfahrung sehr kompliziert ist, er wirkt stark verstellt. Beobachtest Du da Veränderungen, zum Beispiel, ob der Zugriff oder die Arbeit mit Erfahrung schwieriger geworden ist? Ist das Bedürfnis mit Erfahrung umzugehen heute ein anderes?
Frigga: Die Frage von Dir ist zwar richtig gestellt, aber eigentlich gehört sie an Dich gestellt, nicht an mich, weil ich genauso denke wie Du, wenn ich sie vor mir sehe, eine Gruppe von Frauen in Eurem Alter oder noch jünger. Dann denke ich mir: ‚Oh mein Gott, du wirst sie nicht erreichen, sie haben andere Fragen, sie sprechen anders, sie haben andere Probleme! Aber nur Mut, sie haben dich eingeladen, also erzähle ihnen erst mal etwas auf die Fragen, die sie an dich gestellt haben‘. Dann erzähle ich und im Laufe des Vortrags werden sie immer gebannter und immer begeisterter, und dann gibt es eine wilde Diskussion und ich verstehe sie vollkommen und sie verstehen mich. Aber es kann natürlich sein, dass sie wieder weggehen und etwas ganz anderes machen. Zum Beispiel wurde ich vor einiger Zeit nach Göttingen eingeladen einen Vortrag zu halten zu ‚Queer‘. Da habe ich gesagt: ‚Warum jetzt ‚Queer‘ zusätzlich zu unseren sozialistischen, unseren marxistischen Protesten und unseren Befreiungsvorstellungen, wozu jetzt ‚Queer‘? Aber sie insistierten und sagten: ‚Wir müssen jetzt ‚Queer‘ haben, und du kannst das, und du musst uns jetzt eine große Vorlesung im Audimax zu ‚Queer‘ halten‘, und ich sagte: ‚Gut, ich kann sprechen zu dem und zu dem und zu dem‘, und dann haben sie geantwortet: ‚Das ist doch ‚Queer‘!‘. Dann habe ich gesagt: ‚Wenn das ‚Queer‘ ist, dann können wir das ja mal versuchen.‘ Es war unendlich und ich konnte mich mit ihnen gut verständigen und sie verstanden, dachte ich, was ich ihnen sage, sie gingen auch darauf ein. Aber ich weiß nicht wirklich, wozu sie ‚Queer‘ gebraucht haben. Ich habe sie gefragt: ‚Welche zusätzliche Dimension kommt in die Erforschung von Unterdrückung, wenn ich ‚Queer‘ extra habe?‘
Kimey: Ich konnte eine interessante Erfahrung machen in einem meiner Seminare mit acht Studierenden. Es ging um bezahlte Hausarbeit. Wir haben uns Filme und interessantes Material zu Dienstboten, Dienstmädchen und Mägden angeschaut. Meine Studierenden wollten immer, dass wir das Thema nicht nur feministisch, sondern auch ‚Queer-feministisch‘ behandeln und ich habe mich auch gefragt, wenn wir ‚Queer-feministisch‘ nicht nur vor uns her tragen möchten, was würde uns das bringen für die Erkenntnis? Uns fiel ziemlich am Ende dann auf, dass bei einigen Filmen und Geschichten diese Dienstmädchen häufig als Jungfern oder lesbisch und gefährlich dargestellt wurden. Einige steckten die Häuser in Brand oder brieten die Kinder. Die Frauen waren wie Horror-Figuren und haben hatten eine ,deviante‘ Sexualität, mit Männern konnten sie nichts anfangen. Das ist schwer zu fassen und ich habe ihnen gesagt, dass es in der Imagination der bürgerlichen Gesellschaft eine Angst vor diesen Frauen gibt, die selbst keinen Privathaushalt haben. Ich glaube also, daran kann man sehen, was man mit ‚Queer‘, mit also noch einer anderen Ebene als der Ebene der geschlechtlichen Arbeitsteilung, fassen könnte. Aber so herum passiert der Gedanke ja leider meistens nicht, sondern eher umgekehrt.
Wir können nicht warten, bis irgendjemand uns befreit, wie die Ritter im Märchen, oder wie Dornröschen, die aus den Hecken geschnitten wird, oder wie alle Märchen so sind.
Frigga: Ich würde diese Sachen fassen mit der Öffnung des marxistischen Denkens um die Dimension des Kulturellen, wie das mit Gramsci, mit Stuart Hall oder ähnlichem hineinkommt. Wenn wir die Dimension des Kulturellen haben, in der sich Herrschaft reproduziert, haben wir doch diese Fragen der Männerfantasien über alleinstehende Frauen geradezu automatisch und aufdringlich darin. Ich weiß immer noch nicht, warum ‚Queer‘ so wichtig ist. In meinen Frauen-Gruppen sagen sie selbstverständlich zwischendurch ‚Queer‘, aber ich kriege nicht raus, was sie zusätzlich meinen, zusätzlich. Dass sie nicht als erstes über Klassen sprechen wollen, diesen Gedanken verstehe ich. Bei Frauen passt es nicht immer, nur über Klasse zu sprechen. Sie können ja die Klasse wechseln durch Heirat oder durch Scheidung, je nachdem, nach oben oder nach unten. Ich habe ein zweites Beispiel: Erinnerungsarbeit ist Spracharbeit, historisch, kulturell, forschend, begrifflich, in Bildern, ungeheuer vielfältig durch mehrere Sprachen, epistemologisch, alles muss darin enthalten sein, und es ist eine wahre Wissenschaft. Dann gibt es diese immer weiter grassierende Idee, wir müssen Sternchen haben und wir nahmen erst ein großes I und dann einen Unterstrich und dann ein Sternchen. Ich denke, es ist die falsche Ebene. Auf dieser Ebene werden wir nicht zu einer Veränderung kommen, sondern eher alles zudecken. Wenn ich zum Beispiel sage: ‚Die Professor*innen betraten den Saal‘, dann sind offensichtlich beide Geschlechter gemeint, aber ich würde sagen: ‚98 % Männer und 2 Frauen aus dem Professorenstand betraten den Saal‘, dann zeige ich gleich, wie die Verhältnisse in unserer Gesellschaft sind. So ist es nicht mehr, inzwischen sind Frauen in Spitzenpositionen in der Wissenschaft schon mehr als 4%, ich glaube sie sind schon 6 %. Also 6 Professorinnen und 94 Professoren betraten als Fakultät den Saal. Kurz, ich kämpfe immer gegen die Sprachkorrektur. Aber vielleicht ist es auch so ein Punkt, der offensichtlich generationsbedingt ist. Keine von meinen Frauen in der Dialektik-Gruppe lässt sich darauf ein, das nicht zu tun. Sie sagen ‚Wir sprechen mit dir nicht mehr darüber.‘
Anne: Zu der Frage nach der Dimension von ‚Queer‘, oder auch nach der Dimension des ,Sichtbar-Machens‘ oder von ,Anerkennung‘ in Sprache möchte ich anfügen, dass für mich die Dimension doch sehr interessant ist. Auf einer Ausdrucksebene muss ganz viel stattfinden und ganz viel ausagiert werden: In der Reflexion darauf sehe ich eine Dimension der Beschreibung der Verhältnisse, Herrschaft und Geschlecht. Der Eingriff setzt auch eine Diskussion frei. Ich sehe darin auch ein Ringen um die Beschreibung unterdrückter Subjektivität und die Frage nach dem Herrschaftsverhältnis, eine Suchbewegung in den Subjekten, kein politischer Entwurf einer Veränderung, also nicht interessant als eine Lösung, aber …
Frigga: Wie findet ihr eigentlich das neue Buch Beziehungsweise Revolution von Bini Adamczak? Ich hatte es zur Besprechung bekommen. Ich habe damit begonnen und bin damit aber immer noch nicht im Reinen mit mir. Ich dachte erst, dass ich es richtig schön und herausstellend besprechen möchte. Aber dann merkte ich, dass ich das nicht kann. Am Ende hat es jemand anderes übernommen, weil ich gesagt habe, dass ich es gerade nicht machen kann. Ich weiß nicht genau, was in diesem Buch passiert, denn ich verstehe nicht, wie man es schafft, so oft Marx zu zitieren und dabei von Marx’ Geist nichts zu übernehmen. Damit meine ich nicht seinen Geist als spirituelles Vergnügen, sondern die Vorstellung, was die Gesellschaft zusammenhält und wo man angreifen müsste, um sie zu verändern. Was eigentlich wir machen müssen, um diese Gesellschaft zu verändern, wenn man Marx folgt. Davon ist nichts in dem Buch zu finden. Marx würde nie auf die Idee kommen, dass die Beziehungsweisen geändert werden müssen, um die Gesellschaft aus den Angeln zu heben. Bei Marx gibt es die Widersprüche um die Produktivkräfte, um die Produktionsverhältnisse und Kapitale und dann die sich formierenden Gegenkräfte und die Kräfteverhältnisse überhaupt, es gibt also einen Spannungsrahmen zum Denken. Marx wird im Buch so zitiert, dass seine umstürzenden, weltweit aufgenommenen, haltbaren und immer noch aktuellen Analysen im Zeitgeist zerspielt sind. Aber was haltet ihr davon?
Anne: Wir haben in Leipzig gerade eine Diskussionsgruppe zu dem Buch. Es wird viel besprochen in unserem Umfeld und mein Eindruck ist, dass es ein Bedürfnis gibt nach den Themen Alltagsleben, Lebenspraxis und der Frage nach Utopie und Veränderung im Hier und Jetzt und der Geschichte von revolutionären Momenten und Bewegungen. Wir diskutierten darüber – warum gibt es da die Aneignung der Produktionsmittel nicht, warum wird da über die Produktionsverhältnisse nicht gesprochen? Denn wir fanden die Aufarbeitung und die ganze historische Arbeit, die Materialien und die daran anknüpfenden Fragestellungen sehr interessant. Aber es wird im Buch überhaupt nicht in Beziehung gesetzt zu den ökonomischen Bedingungen. Ich glaube, es lohnt sich, eine gute Kritik daran zu üben, weil es deshalb auch einen Zeitgeist trifft in der Linken und das Buch damit auch über die Linke spricht.
Kimey: Ich habe Bini Adamczak zuletzt bei dem Symposium zu feministischem Materialismus in Berlin auf einem Podium erlebt. Ich war schon angetan davon, dass Bini Adamczak im Gegensatz zu Eva von Redecker, von der ich nicht den Eindruck hatte, dass sie wirklich eine Transformation der Gesellschaft wollte, schon sehr deutlich gemacht hat, dass es ihr darum geht. Zum Beispiel haben die Studierenden dort gerade die Uni besetzt und es ging um ihren Tarifvertrag. Bini Adamczak sagte, eine mögliche Forderung, die über das Jetzige hinausweist, wäre beispielsweise – in vollem Bewusstsein, dass es nicht klappen wird – zu fordern, dass die Hilfskräfte so viel verdienen wie die Professoren.
Frigga: Dass was?
Kimey: Dass die Hilfskräfte so viel verdienen wie die Professoren. Es zumindest zu fordern, um deutlich zu machen, um was es eigentlich geht, und um etwas Unmögliches zu fordern, um das Jetzige mal ein bisschen …
Frigga: … in Bewegung zu bringen.
Ich habe aber sofort das ungemütliche Gefühl, dass es
a) nicht an den Kern geht und b) die Massen nicht
begeistern wird und c) auch etwas Ungerechtes hat.
Denn zum Beispiel um Professor zu werden, abgesehen
davon, dass du es nicht wirst, am Ende wirst du
berufen oder nicht, aber bis dahin, bis die einzelnen
Stufen erreicht sind, hast du 25 Jahre deines Leben
garantiert studiert und gehungert und Jobs gemacht
und weiter studiert und gelesen und gearbeitet und
eine Prüfung und dann noch eine und dann gedient als Hilfskraft
und dann als Assistent und dann als Mittelbau und dann die Studenten
gelehrt. Kurz: Das sind mindestens 20 Arbeitsjahre dahinter.
Ja, und bei einer Hilfskraft womöglich nicht ein einziges. Also
die Emotionen und die Denkmöglichkeiten und die Utopien, die
man mobilisiert, müssen doch in einem Verhältnis zu dem Leben
der Einzelnen stehen, sonst ist es doch einfach gesponnen, finde
ich.
Gerade in Bezug auf die Geschichte der Linken ist es das, was mich
bei Bini Adamczak besonders ärgert. Ich bin lebensgeschichtlich
in all diesen Bewegungen und Gruppierungen gewesen, von denen
sie schreibt, und ich weiß, wenn ich es lese, dass es in jedem Punkt
irgendwie schief ist: So war es nicht, könnte ich immer hinzufügen.
Ich weiß aber nicht, warum ich es richtigstellen sollte, sagen sollte:
‚Nein, an der Stelle war es doch völlig anders, und ich war ja auch
dabei. Ich kann Euch noch zeigen, wo das Bild ist, wo ich dastehe
und Folgendes sage.‘ Aber dann weiß ich wieder nicht, wofür es
sich lohnt, weil ich bei ihr nicht weiß, warum sie schreibt, wofür
sie sich eigentlich einsetzt.
Wir haben in Eurem Alter sehr viel gelernt von Älteren.
Ich wollte die letzte Frage von Euch wissen, die vorherige hatte ich beantwortet. Dass ich die Fremdheit zwischen mir und der nächsten und übernächsten Generation denke, aber wenn ich sie tatsächlich vor mir sehe, sie sofort anfangen mit mir zu diskutieren, so, wie es mit Euch ist – ich kann doch nicht sagen: ‚Ihr seid fremd und habt völlig andere Erfahrungen‘.
Friggas Lebensgefährte Wolf setzt sich zu uns … Frigga hatte gerade erst eine Lungenentzündung und Wolf erinnert sie liebevoll daran, dass sie sich schonen sollte …
Wolf: Als grober Beobachter würde ich sagen, sie hat es viel leichter als Ihr, Euch mit Eurer Generation zu verständigen.
Anne: Wirklich?
Wolf: Ja! Habt Ihr es noch nie erlebt? Wart Ihr schon mal in einem Saal, wo sie zu Menschen spricht? Wir haben in Eurem Alter sehr viel gelernt von Älteren. Daran könnte man auch einen Moment der Geschichte ablesen. Die Leute, zum Teil die Remigranten, waren sehr wichtig für uns, sie setzten uns auf die Spuren.
Kimey: Wie seid Ihr nach Esslingen gekommen?
Frigga: Das ist Wolfs Elternhaus, er kommt aus Esslingen. Wir sind hierhergekommen, weil ich eine Krebsdiagnose hatte mit einer kurzen Prognose und eine Operation. Es sei denn, dachten wir, ich würde jeden Tag zwei Stunden um den Schlachtensee gehen, immer um den gleichen Schlachtensee. Wir waren gerade im Emeritierungsalter, das heißt, wir verließen gerade sowieso die Universität und da haben wir gesagt: ‚Wieso gehen wir nicht in sein Elternhaus, hier kann man sofort aus der Haustür rausgehen und in den Weinbergen spazieren? Direkt dahinter in den Wäldern und dann noch höher in den Wäldern, und dann können wir in die Schwäbische Alp wandern‘. Und das ist jetzt schon 19 Jahre her. Zwei Jahre war das Maximum, das sie mir noch gaben und das heißt, wir haben es schon um 17 Jahre überschritten. Daran seht Ihr, dass auch die Vier-in-einem-Perspektive oder auch die Erinnerungsarbeit, auch wenn es unmöglich scheint, geht. Es geht vieles, was man nicht für möglich hält. Es geht, wenn man es mit vielen anpackt.
Wir verabschiedeten uns und stiegen den Berg Richtung Bahnhof hinab. Zuerst etwas still und beide den Kopf voll Gedanken. Der verwirrte Blick auf die Uhr: 1½ Stunden. Kam es uns nicht viel länger vor? Im Nachhinein ist der Berg für mich ein sehr treffendes Bild: Einerseits dafür, wie schwierig es zu Beginn war, dieses Gespräch zu vereinbaren, sicherlich der Krankheit und auch den vielen Anfragen an Frigga Haug geschuldet. Andererseits drückt sich in dem Bild des Berges auch aus, wie viele Gemeinsamkeiten und Differenzen, Nähe und Distanz, sich im Gesprochenen zeigen; damit ist dieses Gespräch für uns ein gelungenes Generationen-Gespräch. Auch und vor allem gilt deshalb unser Dank Frigga Haug, für den herzlichen und offenen Empfang und dass sie uns und unseren Fragen so umfangreich und leidenschaftlich begegnete. Auch bedanken wir uns bei Lisa Mangold, die sich sehr für dieses Gespräch einsetzte. Und wir danken Alexandra Ivanova für ihre wichtigen Fragen, Gedanken und ihre Mitarbeit.
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Veröffentlicht in F. Haug (Hrsg.): Frauenformen 1981, als 4. aktualisierte Auflage veröffentlicht unter Erziehung zur Weiblichkeit 1991 und in Der im Gehen erkundete Weg. Marxismus Feminismus, erschienen im Argument Verlag 2015. ↩
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Die unabhängige marxistische Zeitschrift Das Argument – Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften wurde 1959 von Wolfgang Fritz Haug in der BRD gegründet. Das Argument wird 2019 sechzig Jahre alt, seit 2005 vom Berliner Institut für kritische Theorie herausgegeben und erscheint mit sechs Heften pro Jahr im Argument Verlag. ↩
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Das Bild erschien als Titelbild der Zeitschrift Das Argument 329: Marx 200 und Achtundsechzig 50. ↩
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„An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für freie Entwicklung aller ist.“ Marx und Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. ↩
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Dissecting the Mundane: International Perspectives on Memory-Work. University Press Of America, 2008. ↩
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Peter Weiss, 1916 bei Potsdam geboren und 1982 in Stockholm gestorben, war Schriftsteller, Maler und Experimentalfilmer. Seine Werke verhandeln unter anderem Arbeiterbewegung, Faschismus, Holocaust, Exil und Ästhetik. Hier empfehlen wir seinen großartigen Roman in 3 Bänden Die Ästhetik des Widerstands. ↩