„Wie ist die Emanzipation der Frau mit der Beziehung zu einem Mann zu vereinbaren?“
Zu Verena Stefans „Häutungen“
„Eine Frau bekommt ihre Anerkennung vorwiegend über
den Mann. […] Da die meisten Frauen die Männer noch
zur eigenen Definition brauchen, befinden sie sich in einer
zwanghaften Anpassungssituation.“
Brot und Rosen: Frauenhandbuch Nr. 1, 1974
„ich brauchte ihn, weil ich mich nicht hatte.“
Verena Stefan: Häutungen, 1975
„Wie ist die Emanzipation der Frau mit der Beziehung zu einem Mann zu vereinbaren?“
1974 wurde die Frauengruppe Brot und Rosen vom Kursbuch
darum gebeten, einen Artikel zu dieser Frage zu
schreiben. Da die Kapazitäten der Gruppe durch die Aktionen
gegen den Abtreibungsparagrafen 218 StGB beansprucht
waren, kam es nicht zum angefragten Beitrag, aber eine
Brot-und-Rosen-Genossin, Verena Stefan, hatte durch die
Anfrage begonnen, ihre alten Notizbücher zu lesen und
ihre Beziehungen mit Männern aufzuarbeiten. Wie Stefan
2008 bilanzierte, „fiel es [ihr] wie Schuppen von den
Augen: Sie waren das Zeugnis einer einzigen Gehirnwäsche.
Daraus ist das Manuskript entstanden.“
Verena Stefans Häutungen ist eine Erfolgsgeschichte in Bezug auf
die Überwindung der „zwanghaften Anpassungssituation“ der
Frauen an die Männer: Stefans literarisches Ich Veruschka zieht
aus der gemeinsamen Wohnung mit ihrem Freund in eine Frauen-WG, trennt sich von ihm und beginnt eine lesbische Beziehung
mit Fenna, einer Genossin aus ihrer Frauengruppe.
Stefan beschreibt den Prozess der Ablösung von männlicher Anerkennung,
sie schildert, wie das „ganze netz von liebe leidenschaft
und partnerschaft, von sexualität gefühlen und persönlichem
glück bis in die allerfeinsten verästelungen hinein brüchig“ wird1,
wie „sicherheit, geborgenheit und gesellschaftliche anerkennung
zusammensacken.“2
1975 erschienen, wurde der schmale Band schnell zu einem Kultbuch
der Zweiten Frauenbewegung in der Bundesrepublik. Im
ersten Jahr verkaufte er sich über 100.000 Mal, bis heute erreichte
er eine Auflage von über 300.000 Exemplaren und wurde in acht
Sprachen übersetzt. Dabei war die Vorstellung, es handele sich um
Stefans authentische Geschichte, mit ausschlaggebend für den
Erfolg des Buchs. Stefan distanzierte sich allerdings davon, ihre
Autobiografie geschrieben zu haben, ihre Absicht sei nicht gewesen,
„persönliche Erlebnisse mitzuteilen, wohl aber, den Bereich der
Sexualität neu zu untersuchen.“3
Die Schriftstellerin Christa Reinig sah durch Häutungen „die Durststrecke der weiblichen Ichlosigkeit“4 überwunden, viele Frauen fanden sich in den geschilderten Erfahrungen wieder und viele wurden dazu inspiriert, Worte für eigene Erfahrungen zu finden, sie zu verschriftlichen und auch zu veröffentlichen. Mitte der 1970er Jahre entstand in der BRD eine regelrechte Frauenschreibbewegung, große Verlage eröffneten Frauenreihen, Frauenverlage wie die Frauenoffensive, die Häutungen verlegte, wurden wirtschaftlich unabhängig.
Häutungen löste und löst Euphorie und Unbehagen aus, weil es Leserinnen mit der Frage nach dem besseren Leben konfrontiert, und diese nicht auf ein abstraktes Irgendwann verschiebt. Verena Stefan konstatiert, „daß ein einzelnes, anders geführtes leben für den umsturz der ganzen gesellschaft wichtig ist, ein einzelnes leben, das lange vor dem ‚tag x‘ / was ist der ‚tag x‘ gelebt wird, das ihn vielleicht nicht erreicht, aber beeinflusst“.5
Dabei gilt Stefans Fokus einerseits den gesellschaftlichen Strukturen,
die ein besseres Leben verhindern, und andererseits dem Willen
der Protagonistin, sich zu verändern, ihre verkümmerte Subjektivität
eigenmächtig, durch Entzug, Reflexion und den Aufbau
anderer Strukturen, zu transformieren.
Anfangs hadert Veruschka mit sich, sie will es schaffen, von Männern
anerkannt zu werden, führt Liebesbeziehungen mit Männern,
doch das bringt nicht das erhoffte Glück. Sie liest feministische
Bücher und lernt feministische Frauen kennen, engagiert sich
in der Frauenbewegung, will die patriarchalen Strukturen erkennen und verändern, will das Recht auf Abtreibung und auf nichtgesundheitsgefährdende Verhütungsmittel erkämpfen und fängt
an, ihr Leben und ihre eigene Abhängigkeit von männlicher Anerkennung
zu hinterfragen. Die Veränderung der Gesellschaft ist zäh
und mühsam, sie aber will „vorwärts preschen“6. Das Private zu
politisieren erweist sich als so schwierig, dass Veruschka sich
schließlich ein politisch möglichst widerspruchsfreies Privates
aufzubauen versucht – zunächst in der Frauen-Wohngemeinschaft,
mit dem Ziel, aufs Land zu ziehen.
Das literarische Ich sucht nach sich selbst, nach einem authentischen
Kern. Sie will den Zugang zu sich selbst finden, der aber
durch die gesellschaftliche „gehirnwäsche“ verstellt ist. Sie will
„die fälschung [ihrer] eigenen geschichte korrigieren.“7 Doch was
bleibt übrig, nachdem man sich von allen „gehirngewaschenen“
Häuten getrennt hat, nachdem man die Prägung durch die
schlechte Gesellschaft so vollständig wie möglich zurückgewiesen
hat? Denkt man an eine Zwiebel, die ganz und gar aus Häuten
besteht, bleibt nichts übrig. So führt die Zurückweisung von als
nicht authentisch erlebten Verhaltensweisen dazu, dass die Protagonistin
sich irgendwann gar nicht mehr verhalten kann. Am Ende
des Buchs hat sie Schwierigkeiten, ihren Alltag zu bewältigen, sie
ist „nicht mehr in der lage, sich […] auf jemanden zu beziehen“.8
Eindrücklich wird der Zustand der Hauptfi gur im letzten Kapitel
beschrieben: „näherten sich schritte ihrer zimmertüre, zog sie die
schulterblätter zusammen und hielt den atem an – wenn bloss
niemand anklopfen wolle. Saß jemand im gemeinschaftszimmer,
war es ihr kaum mehr möglich, den raum zu durchqueren. Sie
fühlte sich umklammert von erwartungen auf einen blick, eine
wahrnehmung, ein gespräch.“9
Immer wieder betont Veruschka den Zwang und den Willen, autonom
zu sein: Die Erfahrung habe ihr gezeigt, dass sie sich „auf
nichts und auf niemanden außerhalb von [ihr] verlassen könnte.“10
Es gehe darum, „dass frau nicht mehr einen anderen menschen
braucht, um sich überhaupt als ganzen menschen zu fühlen.“11
Sexualität und Liebe, auch die mit und zu einer anderen Frau, bedrohen
diese Autonomie: „stets kam die angst zur sprache, ob wir
überhaupt wollten, dass ein anderer mensch in unserem leben
wichtig würde. Die gefahr, daß gefühle uns als unkontrollierbare
sehnsüchte schmerzen und katastrophen heimsuchten, war zu
bedrohlich.“12
Sexualität zwischen Frauen und Männern funktioniere über durch
Bücher und Filme vermitteltes Wissen. Dass „alle anweisungen
bekannt“13 seien, erschwere es aber „nicht nur die bekannten linien des anders geschlechtlichen körpers nachzuziehen, sondern
wirklich beim menschen dahinter anzugelangen.“14 Das Fehlen
von Vorbildern ist in Häutungen Hürde, aber auch Potential der
lesbischen Sexualität. Potential sieht die Ich-Erzählerin vor allem
darin, „die fäden in der hand zu haben, nicht in vorgeformtes hineingezogen,
nicht von undurchschaubaren handlungsabläufen
und reaktionen gegängelt zu werden, sondern bei vollem bewusstsein
selber die fäden zu spinnen.“15
Der Wille, alles eigenständig, bewusst und ohne Vorbilder zu entscheiden,
erschwert es Veruschka und Fenna, überhaupt etwas zu
tun. Gemeinsam mit anderen Frauen verbringen sie eine Woche
auf einem Bauernhof an der Nordsee. Von den kleinsten Störungen,
z.B. dem Geschrei einer Katze, lassen sie sich in ihren sexuellen
Annäherungsversuchen unterbrechen. Immer deutlicher tritt die
Spannung zwischen Autonomie und dem Bezogensein auf Andere
zutage. Das vorletzte Kapitel endet mit einem Brief von Veruschka
an Fenna, in dem sie versucht, „die tragik der beschränkten mitteilungen“16 zwischen ihnen zu fassen. „Nun, da es sich zu zeigen
scheint, dass wir uns nicht vereinnahmen obwohl die vertrautheit
gewachsen dass die gefahren einer liebes geschichte zu zweit / zwar
nicht gebannt sind / doch bis jetzt in schach gehalten werden / merken
wir, dass wir nichts richtig tun können.“ Wenn Veruschka mit
dem Wunsch aufgebrochen ist, Autonomie und romantische Liebe
in der lesbischen Beziehung zu verwirklichen, so scheitert sie daran,
zumindest vorerst.
Verena Stefan lässt die Leserin teilhaben an einem faszinierenden
Selbstversuch, der gnadenlos und ohne jegliche Ironie geschildert
wird und Fragen aufwühlt. Wie führen theoretische Erkenntnisse
nicht nur zu Veränderung des Verhaltens, sondern auch des Fühlens?
Wie können libidinöse Bindungen an Strukturen, die einer
befreiten Gesellschaft im Weg stehen, aufgebrochen werden? Wie
weit kann man sich von der Normalität entfernen, die einen umgibt, und was für Auswirkungen hat das auf das eigene
Leben? Stefan verhandelt dies in Bezug auf das Sich-
Unabhängig-Machen von Frauen, die zuvor Männern
gefallen wollten, auch wenn sie sich erniedrigt und
unwohl dabei fühlten.
Veruschka sucht Antworten in neuen Erfahrungen
und dem Verweigern der alten Bezugspunkte. Andere
Erfahrungen, die Möglichkeiten eines besseren Lebens
aufscheinen lassen, sind von großer individueller und
auch gesellschaftlicher Bedeutung. Der Verbleib auf
der Ebene von Erfahrung führt aber oft, in Häutungen
wie in der Realität, über Selbstzerfl eischung zu Resignation
und Rückzug.17 Ein gänzlich anderes In-Beziehung-
Treten hat Vor aussetzungen, die erst zu schaffen
sind. Beispielsweise wären romantische Beziehungen
gar nicht so überladen, wenn hier nicht mehr alles, was
einem in der kapitalistischen Gesellschaftsorganisation
ansonsten verwehrt wird, unterkommen müsste: unersetzbar
und einzigartig zu sein, verletzlich und abhängig
sein zu dürfen.
Solange Männlichkeit und Weiblichkeit gesellschaftlich
wirkmächtige Wirklichkeiten sind, sollten sie analysiert, kritisiert
und auch praktisch verhandelt werden. Das tut Verena
Stefan in Häutungen. Die dort geschilderte und von einigen
Frauen in der Zweiten Frauenbewegung praktizierte Weigerung,
Liebesbeziehungen mit Männern einzugehen und stattdessen
emotionale und sexuelle Nähe zu Frauen zu suchen, stellte die
geltende heterosexuelle Norm in Frage und ermöglichte vermutlich
einigen Frauen ein glücklicheres Leben. Doch Veruschka findet
weder in der hetero- noch in der homosexuellen Liebe ihr
Glück, sondern endet – wobei das Ende des Buchs ja nicht das
Ende ihres Lebens ist – in der Beziehungslosigkeit. Heißt das,
wenn man dort nicht enden will, dass Veruschka einem kein Vorbild
sein kann? Führt es notwendig in die Einsamkeit, zu sich zu
stehen und Handlungen, die sich falsch anfühlen, zu verweigern?
Nein, aber man muss sich zwei Spannungsverhältnissen stellen:
Sollen Beziehungen nicht von Macht und Unterwerfung geprägt
sein, muss ausgehalten werden, dass die Beteiligten voneinander
abhängig sind, ohne einander kontrollieren zu können. Veruschka
hält diese Spannung nicht aus: Sie entgeht ihr in ihren Beziehungen
mit Männern, indem sie sich unterwirft, nicht als eigenständiges
Subjekt mit eigenem Willen auftritt, sondern sich den Wünschen
des geliebten Mannes anpasst; und in der Beziehung mit
Fenna, indem sie ihre Abhängigkeit abwehrt, aus Angst, ihre Autonomie
zu verlieren und von Fenna kontrolliert zu werden.
Das zweite Spannungsverhältnis besteht zwischen den versagenden
Strukturen, die nicht so sind, wie wir sie brauchen und uns
wünschen, und dem Festhalten am Wunsch nach solidarischen
Strukturen und Beziehungen. Die schwierige Aufgabe liegt darin,
auszuhalten, einerseits für sein Glück im Hier und Jetzt zu kämpfen,
für die Berechtigung und die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse,
und dabei andererseits nicht zu vergessen, dass das eigene
Glück durch die kapitalistischen und patriarchalen Strukturen
begrenzt bleiben wird, für deren Änderung gestritten werden muss.
Elisa Paulus lebt in Leipzig und ist Teil des feministischen Lese- und Arbeitskreises AK.Unbehagen. Sie schrieb ihre Bachelorarbeit über Häutungen, individuelle Autonomie, romantische Liebe und polarisierte Geschlechtscharaktere.
-
Stefan, Verena: Häutungen. Autobiografi sche Aufzeichnungen, Gedichte, Träume, Analysen. München 1975. S. 74f. ↩
-
Ebd., S. 75. ↩
-
Zitiert nach Reinig, Christa: Das weibliche Ich. In: Brenner, Hildegard (Hrsg.): Alternative 108/109. Das Lächeln der Medusa. Frauenbewegung, Sprache, Psychoanalyse. Berlin Juni/August 1976. S. 119. ↩
-
Ebd. ↩
-
Stefan, Verena: Häutungen, S. 73. ↩
-
Ebd., S. 57. ↩
-
Ebd. ↩
-
Ebd., S. 120. ↩
-
Ebd. ↩
-
Ebd., S. 77. ↩
-
Ebd., S. 84. ↩
-
Ebd., S. 99. ↩
-
Ebd., S. 47. ↩
-
Ebd., S. 45. ↩
-
Ebd., S. 94. ↩
-
Ebd., S. 117. ↩
-
Siehe auch den Text von Katharina Lux in diesem Heft, den den Stellenwert von Selbsterfahrung und Erfahrungsaustausch in der Zweiten Frauenbewegung verhandelt. ↩