Das Dilemma von Köln
Oder: Welchen politischen Raum haben rassifizierte Frauen?
Der „Burkini“-Sommer, das angebliche Zutrittsverbot für Frauen in einer Bar in Sevran (einem Vorort von Paris), der Pariser Stadtteil La Chapelle als „No-Go-Area“ für Frauen… Die öffentliche Debatte vermengt munter instrumentalisierten Feminismus und ungehemmten Rassismus. Zwischen Pest und Cholera: Welchen politischen Raum haben rassifizierte Frauen?
Ich erinnere mich nicht an den Tag, an dem ich erkannt habe, dass ich eine Frau bin. Oder besser gesagt, erkannt habe, was eine Frau ist. Eine Frau ist nicht einfach eine Person, die Kleider trägt, lange Haare hat, eines Tages Brüste bekommt und vielleicht Mutter wird. Nein, als ich erkannt habe, dass ich eine Frau bin, habe ich verstanden, dass Frausein heißt, minderwertig zu sein. Es gab keinen Aha-Moment, keine Offenbarung, keine Erkenntnis von heute auf morgen. Es war eher eine Reihe von wiederkehrenden kleinen Enttäuschungen, Missverständnissen, kleinen Ärgernissen. Die erschreckenden Erkenntnisse sind seltener: Im Französischunterricht lasen wir den Roman Paul und Virginie, an dessen Ende Virginie 1 es vorzieht zu ertrinken, anstatt ihr schweres Kleid auszuziehen, das sie töten wird. Als die Lehrerin die moralische Botschaft dieser Geschichte deutete, wurde mir flau im Magen. Ein paar Jahre zuvor hatte es mich allerdings nicht sonderlich schockiert zu sehen, dass sich die Schöne an das Biest verkaufte, um die Würde ihres Vaters zu retten – niedlich-schreckliche Bilder, die kleinen Mädchen gezeigt werden und die, wie ich glaube, direkt in Fleisch und Blut übergehen und so das Verhalten viel besser steuern als Erziehungsmaßnahmen oder Benimmregeln. Ich erinnere mich auch nicht, mich als rassifiziert [Original: „racisée“] 2 erkannt zu haben. Wir waren Algerier: Wir sprachen zuhause Algerisch, Algerisch war die Farbe des zweiten Passes, Algerisch waren vertraute Gewohnheiten. Es war aber auch dieser absurde Vermerk, der auf meiner Einladung zu den Realschulprüfungen stand: „Ausländische Nationalität“, der korrigiert werden musste; Algerien war ein Land, das von anderen als „mein anderes Zuhause“ phantasiert wurde. Ich denke, es hat mich nicht allzu sehr gestört, einen Urlaubsstrand als zweites Zuhause zu haben. Es gab aber noch andere, weniger angenehme Dinge: Ich war ein Kind, als das stereotype Bild des arabischen Diebes von dem des arabischen Terroristen abgelöst wurde. 3
An jenem Tag war ich traurig, weil ich im Spiegel nicht aussah wie die Vorbilder der Mädchen und Frauen, denen wir zu folgen gelernt hatten; und ich sah nicht so aus, weil ich arabisch war.
Ich habe jedoch nicht vergessen, wie mich die Ungerechtigkeit, die damit verbunden ist, getroffen hat, und es waren nicht nur Kindersorgen. Ich war fünf, vielleicht sechs Jahre alt und machte zusammen mit meiner Cousine vor dem großen Flurspiegel meiner Großmutter Grimassen. Sie warf ihre langen, glatten und hellen Haare zurück. Egal, wie sehr ich mich anstrengte und meinen Kopf schüttelte, meine Haare, die oben auf meinem Kopf, mit Kräuseln gekrönt, fest geflochten waren, blieben vollkommen starr. Ich brach auf dem Schoß meiner Mutter in Tränen aus – warum bewegen sich meine Haare nicht? Warum habe ich kein Recht auf Glanz, auf strahlende Reflexe? Warum musste man sie über Nacht in einen Kordon wickeln und sie am Tag zusammen binden? Ich habe geweint, ich mochte diese Haare nie. Einige Zeit habe ich sie malträtiert, jetzt genießen sie diskrete Ruhe. Als Kind wollte ich, dass sie sich bewegen. Mittlerweile trage ich sie zusammen gebunden – zu viele, zu lockig, zu auffällig. An jenem Tag war ich traurig, weil ich im Spiegel nicht aussah wie die Vorbilder der Mädchen und Frauen, denen wir zu folgen gelernt hatten; und ich sah nicht so aus, weil ich arabisch war. Die Frage nach meinem eigenen Bezug zu meinem Körper und meiner Weiblichkeit war immer auch die nach meiner Rassifizierung [„racisation“]. So, wie er von anderen immer schon durch dieses rassistische Prisma gesehen wurde: meine Frauenhaare, meine Frauenhaut, mein Frauenkörper, er ist ein arabischer Körper.
Geometrie oder Leben
Ich bin irritiert, wenn einige sagen: „Ich fühle mich arabisch, ich fühle mich schwarz, noch bevor ich mich wie eine Frau fühle.“ Ich verstehe sehr gut, was sie sagen wollen, die Narration und den politischen Impuls, der in dieser Aussage steckt. Aber mir gelingt es nicht etwas Ähnliches zu fühlen. Man fragt sich jedoch selten, was mit denjenigen Frauen ist, die nur Frauen sind, die vergessen haben oder nicht wissen, dass sie auch weiß sind. Diese fest gestrickte Zwangsjacke der Frau wird eins mit mir und sobald ich sie bemerke, juckt sie schrecklich, ich spüre sie jeden Tag. Ihre Maschen sind verwoben mit den Fäden der Rassifizierung und niemals vermag meine konkrete Erfahrung diese enge Verstrickung zu entwirren. Ich glaube, diese doppelte soziale Zugehörigkeit ist im Individuum verkörpert, als untrennbare Einheit. Es gibt kein Geschlechterverhältnis [„rapports sociaux de genre“], das nicht durch rassistische Strukturen [„rapports sociaux de race“] vermittelt wäre; Es gibt keine rassistischen Strukturen, die nicht durch Geschlecht vermittelt wären. Eine Frau ist nie nur eine Frau: Sie ist eine arabische Frau, eine weiße Frau, eine arme Frau; und damit ist „Frau“ nicht mehr genau dasselbe.
Der intersektionale Ansatz birgt ein Risiko in sich: Die Ansicht, dass diese Verschränkungen nur manche Gruppen beträfen, nämlich die Minderheiten unter den Minderheiten.
Der Begriff der Intersektionalität hat sich in den letzten Jahren sowohl in der Sprache der AktivistInnen etabliert als auch das akademische Interesse geweckt. In den politischen und wissenschaftlichen Bereichen in Frankreich war es zuvor eher gängig, die Verhältnisse zwischen Klasse und Geschlecht zu hinterfragen, als zu den rassistischen Strukturen zu arbeiten. In ihrer zunehmenden Verbreitung und steigenden Bedeutung kann Intersektionalität gefasst werden als die Auseinandersetzung mit den sozialen Positionen an den Schnittstellen verschiedener Herrschaftsverhältnisse. Innerhalb der unterdrückten Gruppen geht es daher darum, den Blick auf die marginalen gesellschaftlichen Positionen zu lenken, die nicht ihren archetypischen Darstellungen entsprechen: Die weiblichen Opfer des Sexismus sind nicht alle weiß und die rassifizierten Opfer des Rassismus sind nicht ausschließlich Männer. Vor diesem Hintergrund bietet die Idee der Intersektionalität einen politischen Ansatz gegen den Ausschluss bestimmter marginalisierter Gruppen und der politischen Agenda der aktivistischen Minderheit. Die Umsetzung dessen, so scheint es heute, soll entweder durch die Organisation autonomer Bewegungen, die aus diesen Gruppen hervorgehen, geschehen oder durch das Bemühen um „Inklusion“, die von den eher traditionelleren Bewegungen bestärkt wird.
Der intersektionale Ansatz birgt ein Risiko in sich: Die Ansicht, dass diese Verschränkungen nur manche Gruppen beträfen, nämlich die Minderheiten unter den Minderheiten. Rassifizierte Frauen, die sich an der Schnittstelle von Geschlechterverhältnis und rassistischen Strukturen befinden, seien patriarchaler Herrschaft und rassistischer Herrschaft unterworfen, als könnten gleichermaßen weitere Unterdrückungsformen hinzugefügt werden. Weiße Frauen hingegen litten nur – die Grammatik nötigt zu diesen dummen Euphemismen – unter Sexismus: Sie seien nur Frauen, während andere Frauen und arabisch seien; Frauen und schwarz. Diese Idee, dass einige Schnittstellen intersektionaler seien als andere, verstärkt die Schieflage, die dieses Paradigma eigentlich umkehren will. Indem die Spezifik der Herrschaftsposition ausgeblendet, der enorme Einfluss des Weißseins und der Männlichkeit auf die Individuen verschwiegen wird, denkt man nicht an die komplexen Verflechtungen von Herrschaftsstrukturen. Als gäbe es Situationen, die an sich einfach wären: Der Mann als der Eroberer und die Frau/die Araberin als seine Untergebenen – wohingegen andere Situationen komplex wären, sowohl sozial als auch politisch.
Das Bedürfnis, eine Symmetrie in der politischen Analyse zwischen diesen verschiedenen gesellschaftlichen Positionen, die in einer Vielzahl von Herrschaftsstrukturen eingebettet sind, wiederherzustellen, darf jedoch nicht zu einem kumulativen Verständnis der Verflechtung führen. Dies würde dazu beitragen, zu glauben, rassifizierte Männer würden sowohl die „Privilegien“ genießen, die mit ihrem Geschlecht verbunden sind, als auch völlig unabhängig davon rassistische Diskriminierungen erfahren. Dieser vereinfachende Ansatz kann die realen Lebensbedingungen der Individuen nicht erfassen: So stoßen rassifizierte Frauen aus benachteiligten Stadtvierteln auf weniger Zugangsbarrieren zum Arbeitsmarkt als rassifizierte Männer aus der gleichen sozialen Schicht. Aber die Bereiche, in denen die Frauen zum großen Teil arbeiten, sind durch und durch weiblich: diejenigen des Haushalts, der Care-Arbeit. Auf dieselbe Weise können weiße Frauen nicht unabhängig voneinander als einerseits unterdrückte und anderseits herrschende Frauen angesehen werden: Ihre Zugehörigkeit zur weißen Gruppe ist unwiderruflich mit ihrer untergeordneten Geschlechtszugehörigkeit vermittelt. Sie sind insofern weiß, als dass sie als Objekt der Begierde zu den Männern der herrschenden Gruppe gehören, dem beigebracht wird, den rassifizierten Mann zu fürchten.
Im Kreuzfeuer
Rassifizierte Frauen werden als Minderheit unter den Minderheiten marginalisiert und damit weiterhin partikularisiert, indem sie als die Inkarnation des Zusammenhangs zwischen Geschlecht und Rassifizierung betrachtet werden – obwohl eigentlich kein Individuum diesem verwobenen Zugriff entkommt. Angenommen, man kumuliert zwei unterschiedliche Herrschaftsformen: Dann stünden rassifizierte Frauen vor einem Dilemma und damit auch vor der Wahl zwischen zwei Gruppenzugehörigkeiten, zwei Gründen für den Kampf, zwei Interessensgruppen – die oft verschieden, manchmal unvereinbar sind. Als ob Sexismus und Rassismus getrennt voneinander bestehen würden: Die Gesamtsumme aller Unterdrückungen wird verrechnet mit der Gesamtsumme aller Gewalt, als ob es möglich wäre sie auszugleichen, als ob es möglich wäre, ihre jeweiligen Nachteile bewerten und beurteilen zu können, um dann jeweils die eine Gruppe der anderen oder den feministischen Kampf dem antirassistischen vorzuziehen: (Weiße) Frauen und Rassifizierte (Männer) würden ihren jeweiligen Hauptfeinden gegenüberstehen und ihren Hauptkampf führen, und könnten es sich daher leisten, eine Rolle als Verbündete in einem ähnlichen, zwangsläufig zweitrangigen, Kampf einzunehmen, der sie nicht in besonderer Weise betrifft. Hingegen müssten rassifizierte Frauen, die zwischen zwei starken Gegnern gefangen sind und von zwei Seiten angegriffen werden, sich für einen von beiden entscheiden.
Und über all dem steht der permanente und einhellig geteilte Verdacht, die rassifizierten Frauen seien Verräterinnen an der Sache: entweder als verführte Komplizinnen der weißen Macht oder als willige Sklavinnen des Patriarchats.
Ich spreche hier nicht nur von einer theoretischen Entscheidung, von der strategischen Entwicklung eines aktivistischen Programms oder einer politischen Entscheidung, die zum Ziel hätte, durch effiziente Mobilisierung zur Festlegung auf ein Motto, einen Feind, einen Kampf zu drängen. Ich spreche davon, dass rassifizierte Frauen bei jeder Mobilisierung, in jeder Empörung, bei jedem Ereignis, bei dem Sexismus und Rassismus miteinander verschränkt auftreten, von aufdringlichen politischen Verbündeten ständig und systematisch in die Pflicht genommen werden. Einerseits die rassistische Instrumentalisierung des Feminismus durch jene, die ihn als Deckmantel benutzen und behaupten, unsere Frauenrechte vor den rassifizierten Männern, die diese Rechte missachten, schützen zu müssen; andererseits die opportunistische Aufforderung zur Einigkeit und zur Solidarität vonseiten derer, die uns davon zu überzeugen versuchen, dass wir unsere Notlagen nach Dringlichkeit gewichten sollten. Und über all dem steht der permanente und einhellig geteilte Verdacht, die rassifizierten Frauen seien Verräterinnen an der Sache: entweder als verführte Komplizinnen der weißen Macht oder als willige Sklavinnen des Patriarchats.
Wenn man einen Namen dafür finden müsste, könnte man es „das Dilemma von Köln“ nennen – nach einem sexistischen Verbrechen von enormem Ausmaß, das zu heftigen rassistischen Denunziationen führte.4 Im Kreuzfeuer gibt es für uns kaum Lösungen, außer zu schweigen, Zugeständnisse zu machen oder vorsichtig zu versuchen, die Dinge voneinander zu trennen. Aber im Schrecken fällt es oft schwer die Dinge differenziert zu betrachten, und diejenigen, die es riskieren, ihre Meinung zu äußern, scheinen oft dazu verurteilt zu sein, im Getöse zwischen den Fronten unterzugehen. Der Fall von Köln hat mich erstarren lassen: Entsetzt darüber, dass ein solches Verbrechen möglich ist – dessen tatsächliches Ausmaß bis heute noch unaufgeklärt ist – habe ich Daoud 5 verflucht und letztlich keine Analyse mehr gelesen, weil mich alle nur wütend gemacht haben.
Und dann gab es auch noch den Fall von Sevran, die erfundene Geschichte einer PMU-Bar, zu der Frauen angeblich keinen Zutritt hätten.
Und dann gab es auch noch den Fall von Sevran, die erfundene Geschichte einer PMU-Bar 6, zu der Frauen angeblich keinen Zutritt hätten.7 Eigentlich ist in Sevran nichts passiert. Der Vorfall stellte sich als eine weitere rassistische Manipulation der Medien heraus, da die Bar Frauen nicht wirklich den Zutritt verwehrt und Frauen dort täglich ein- und ausgehen. Aber letztlich ist es fast unwesentlich ob nun etwas passiert ist oder nicht – die Reaktionen darauf sind es, die so interessant sind, da sie die doppelte und widersprüchliche Herrschaftsordnung freilegen, die nur in erzwungenes oder strategisches Schweigen münden kann. Dabei wirft der Fall von Sevran die Frage auf, ob es möglich ist, einen antirassistischen und feministischen Diskurs unnachgiebig und kohärent miteinander zu verbinden. Gerade deshalb, weil es nicht hinnehmbar ist, dass die feministische Forderung des Zugangs für Frauen zum öffentlichen Raum im Dienste einer rassistischen Agenda manipuliert werden kann: Der Ansatz dieser Fernsehreportage über Sevran, ihre Konzeption, ihr Ziel, ihre journalistische Aufbereitung und die von ihr hervorgerufenen politischen Reaktionen sind ohne Zweifel Teil eines rassistischen und islamophoben Kontextes – eines Kontextes, der die Vorstellung eines spezifischen Patriarchats arabischer oder schwarzer Männer aufrechterhält, das seine Macht bis in die Peripherien der Republik ausweite. Dieses Patriarchat sei eng verbunden nicht mit religiösen Praktiken (denn schließlich trinkt man in einer Bar ja Alkohol), sondern mit einer muslimischen Kultur, einem muslimischen Geist, der nach und nach die „verlorenen Gebiete“ verschlingen würde. Diese Vorstellung bleibt allerdings absolut empörend, wenn man bedenkt, dass nach wie vor ohnehin Räume existieren, die für Frauen nicht zugänglich sind. Wir alle wissen, wie viele dieser Orte existieren, selbst wenn uns der Zugang dort nicht ausdrücklich gesetzlich verboten ist, aber das muss er auch nicht sein – überhaupt ist uns ja eigentlich nichts mehr verboten, stimmt’s? Wir alle kennen die Verlegenheit, das Zögern, das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, wenn wir einen männlichen Raum betreten. Solche Räume sind männlich durch die dort Anwesenden, männlich durch die dort stattfindenden Aktivitäten, männlich durch ihre Selbstverständlichkeit. Ob in einer PMU-Bar, in nächtlichen U-Bahnen, in Versammlungsräumen: Es sind die Blicke dort, die uns beschämen und uns dazu bringen, den eigenen sofort zu senken ob der bloßen Tatsache, an diesem Ort zu sein.
Ich weiß nicht, wie man mich empfangen würde, würde ich dort ein kleines Bier bestellen.
Einige haben den Fall zum Anlass genommen zu versuchen, die rassistische Manipulation aufzudecken, ohne dabei einen feministischen Blick aufzugeben. Die meisten dieser Versuche haben bei mir einen bitteren Geschmack hinterlassen. Über die historischen Vergleiche anhand vergilbter Fotos von Arbeitercafés, die herausgekramt wurden, um zu zeigen, dass es damals in den Cafés ja auch keine Frauen gab, und den Bildern von Frauen in den ersten skandalerregend hautengen und kniefreien Badeanzügen aus den Goldenen Zwanzigern, die den „Burkini-Sommer“ begleiteten, konnte ich nur den Kopf schütteln. „Praktiken eines anderen Jahrhunderts“ haben noch nie jemanden getröstet. Sie halten nur die evolutionistische Vorstellung aufrecht, dass „diese Leute“ der Zivilisation hinterherhängen, und dass „deren Frauen“ nichts anderes übrig bliebe, als sich noch ein wenig in Geduld zu üben. Andere haben versucht, die Manipulation aufzudecken, indem sie behaupteten, dass die Bar sehr wohl von beiden Geschlechtern besucht werde – wie Clementine Autain8, die ein Foto von sich am Tresen der Bar in Sevran machen ließ. Ich nehme an, das war als Beweis dafür gedacht, dass jede Frau dort am Tresen stehen kann. Aber leider beweist es das nicht. Denn wenn sich Autain an diesen Tresen lehnt, weiß ich nur, dass sich eine weiße Frau – und auch nicht irgendeine weiße Frau – an diesen Tresen lehnen kann. Ich weiß nicht, wie man mich empfangen würde, würde ich dort ein kleines Bier bestellen. Dieses Bild, das dem Rassismusvorwurf entgegenwirken wirken soll, macht aus Autain eine universelle Frau, macht sie zum Symbol eines entschlossenen antirassistischen Feminismus, der fähig ist, hinter die Manipulation zu schauen und falsche Widersprüche zu überwinden.
Auf diese Weise gibt es sie nicht mehr, die rassifizierten Frauen. Aber was soll’s, es ist wohl zu ihrem Besten, wenn es sie nicht mehr gibt: Zu ihrem Besten als Frauen und („und“ meint hier kein einendes, sondern ein separierendes „und“) zu ihrem Besten als Rassifizierte – wofür sie mit eben dieser, ihrer Gesamtheit bezahlen.
Podium und Prüfstand
Weil ich diese bitteren Erfahrungen zukünftig vermeiden will, glaube ich, dass unsere angenommenen Loyalitäten uns weder zu Zurückhaltung noch zu Kompromissen zwingen sollten. Ich denke, die Gefahr, dass unsere Aussagen vereinnahmt oder verdreht werden könnten, sollte uns nicht dazu veranlassen, denjenigen den Raum zu überlassen, die ganz und gar mit ihrem Hauptkampf beschäftigt sind: den Frauen, die außerdem weiß sind, und den Rassifizierten, die außerdem Männer sind. Weil es in unserem Interesse liegt, feministische und antirassistische Ansprüche in Einklang zu bringen, die uns nicht widersprüchlich erscheinen sollten, nur weil sie denjenigen, die die Diskurse bestimmen, widersprüchlich erscheinen. Weil Männlichkeit für rassifizierte Männer sowie Weißsein für weiße Frauen kein Luxus ist, den man einfach vernachlässigen könnte.
Ich glaube, dass rassifizierte Frauen so lange nicht als echte politische Akteurinnen betrachtet werden, so lange man uns zwar ein Podium bietet, dabei aber vermeidet, uns auch auf den Prüfstand zu stellen.
Diese Vermittlungsarbeit ist sowohl eine politische Anforderung an uns selbst als auch an unsere selbsterklärten Verbündeten. Zuallererst müssen wir die naive Vorstellung aufgeben, dass die Diskurse der Unterdrückten immer schon politisch richtig seien – dass sie also notwendigerweise kohärent sind mit dem Anliegen, die unterdrückten Gruppen von ihrem untergeordneten Status zu befreien. Welche Infantilisierung, welche Herablassung in dieser Sonderbehandlung der Aussagen rassifizierter Frauen steckt. Sie entzieht diese Aussagen einer rigorosen politischen Analyse und verurteilt die rassifizierten Frauen dazu, unmündig zu bleiben. Ich glaube, dass rassifizierte Frauen so lange nicht als echte politische Akteurinnen betrachtet werden, so lange man uns zwar ein Podium bietet, dabei aber vermeidet, uns auch auf den Prüfstand zu stellen.9
Ich glaube nicht, dass eine Idee feministisch ist, allein aufgrund der Tatsache, dass sie von einer Frau vorgebracht wird. Ich glaube nicht, dass das oberste Ziel des Feminismus darin besteht, dass Frauen Wahlmöglichkeiten haben: Ich denke eher, sein Bestreben bezieht sich auf die Qualität dieser Möglichkeiten, auf die sie natürlich Anspruch haben. Und in der Tat sind wir uns nicht alle einig über diese Möglichkeiten und ihre Qualität – ihre politische Qualität –: denn nur weil uns eine untergeordnete Position gemein ist, führt dies nicht selbstverständlich zu gemeinsamen Interessen, ergibt sich daraus kein offensichtliches gemeinsames Bewusstsein. Aus diesem Grund können wir uns nicht mit selbsternannten RepräsentantInnen zufrieden geben. Das Recht auf politische Meinungsverschiedenheiten, auf politische Pluralität darf uns nicht vorenthalten werden, darf nicht ausschließlich ein Privileg von Mehrheitsgruppen sein.
Aber wenn es darum geht, politische Bündnisse zu schließen, weigere ich mich, die einzige Grundlage dafür in der sozialen Position der Individuen zu sehen.
Es geht nicht darum, die Legitimität einer autonomen feministischen und antirassistischen Bewegung zu bestreiten: Ich möchte, dass wir jede Ecke der Welt erobern und dass alle Frauen überall reden, denken und kämpfen können. Aber wenn es darum geht, politische Bündnisse zu schließen, weigere ich mich, die einzige Grundlage dafür in der sozialen Position der Individuen zu sehen. In den letzten Jahren sind verschiedene aktivistische Bewegungen rassifizierter Frauen entstanden: Sie haben unterschiedliche, teils entgegengesetzte und manchmal inkompatible Forderungen, Ideen und politische Ansichten. Wir müssen gleichzeitig die uneingeschränkte Anerkennung der Legitimität und Bedeutung ihrer Existenz wie auch eine sehr genaue Analyse der von ihnen vorangetriebenen politischen Projekte einfordern. Die Inklusion, für die sich in AktivistInnenkreisen ausgesprochen wird, kann den Anspruch des intersektionalen Paradigmas nicht erfassen: Dieser würde vielmehr in der vollen Anerkennung der rassifizierten Frauen als politische Akteurinnen bestehen – als Akteurinnen, denen man zuhört und die man kritisiert, denen man folgt oder sich entgegenstellt. Die Unabhängigkeit, die die rassifizierten Frauen von den traditionellen feministischen Bewegungen erlangt haben, kann auch kein Grund für die respektvolle – ich würde sogar sagen: gleichgültige – Distanz sein, die viele weiße Feministinnen einnehmen, indem sie sich weigern, über politische Themen zu urteilen, die sie angeblich nicht betreffen. Mit dieser Haltung tragen sie dazu bei, die Existenz einer Fremdheit, eines unüberwindbaren Andersseins zwischen ihnen und uns zu billigen.
Ich glaube, dass die einzige Möglichkeit, nicht länger mit diesem falschen Dilemma konfrontiert zu sein, das Feminismus und Antirassismus als Widerspruch begreift, darin bestehen wird, mit dem alarmierenden Getöse beider Fronten gleichermaßen unnachgiebig umzugehen.
Ich habe oft den Eindruck, dass ich mich nur zwischen Pest und Cholera entscheiden kann – zwischen der gewaltsamen Normalisierung von Rassismus und Islamophobie oder der Konstitution antirassistischer Fronten, die jede feministische Frage ignorieren oder ihren Sinn verdrehen. Ich glaube, dass unter diesen Umständen die einzige Möglichkeit, nicht länger mit diesem falschen Dilemma konfrontiert zu sein, das Feminismus und Antirassismus als Widerspruch begreift, darin bestehen wird, mit dem alarmierenden Getöse beider Fronten gleichermaßen unnachgiebig umzugehen.
Diese Unnachgiebigkeit wünsche ich mir als eine gemeinsame. Meines Erachtens ist sie die notwendige Voraussetzung für ein wirkliches politisches Bündnis zwischen den verschiedenen sozialen Positionen innerhalb der Gruppe der Frauen. Diese Allianz wird zweifellos eine wackelige sein, und wir werden unaufhörlich daran arbeiten müssen, sie vor Paternalismus und rassistischer Unsichtbarmachung zu bewahren.
Dafür wird es notwendig sein, nach Augenmaß, vorsichtig und entschlossen, zwischen zwei Fallstricken zu manövrieren. Aber was uns betrifft verbringen wir sowieso unser ganzes Leben damit, zu lernen, wie man das macht.
Aus dem Französischen von Verena Triesethau.
Herzlichen Dank an Camilla Brenni und Sophia Vogelsberg für die Hilfe bei der Übersetzung.
Der Artikel „Le dilemme de Cologne – Quel espace politique pour les femmes racisées?“ erschien im September 2017 in der ersten Ausgabe von Panthère Première. Panthère Première ist eine unabhängige französischsprachige Zeitschrift für Gesellschaftskritik. Seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe sind bisher drei weitere erscheinen. Die Redaktion von Panthère Première, ein Frauenkollektiv, veröffentlicht Texte verschiedener Formen und künstlerische Beiträge, die Phänomene an der Schnittstelle zwischen Privatem (Familie, Kindheit, Lebensraum, Körper, Krankheit, Sexualität…) und Politischem (Staat, Industrie, Arbeit, Kolonialismus, Geschlechterbeziehungen…) analysieren. Damit soll aufgedeckt werden, was nicht als politisch eingestuft und so der Kritik oder Analyse entzogen wird.
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Während das Boot, auf dem sie reist, untergeht, zieht Virginie es vor zu ertrinken, statt ihr Kleid auszuziehen, das zu schwer ist, um damit zu schwimmen: „(…) Virginie, die den unvermeidlichen Tod vor sich sah, legte die eine Hand auf ihre Kleider, die andere aufs Herz, und während sie heiter die Augen in die Höhe richtete, erschien sie wie ein Engel, der seinen Flug gen Himmel nimmt.“ (Paul und Virginie, Bernardin de Saint-Pierre, 1788). ↩
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Der Begriff „rassifiziert“ („racisé“) bezieht sich auf Personen, die als zu einer rassischen Minderheit gehörend angesehen werden. Rassistische Zuordnung wird damit nicht als eine Eigenschaft des Seins verstanden, sondern als ein systematischer und alltäglicher gesellschaftlicher Prozess. (Die Entscheidung für die Übersetzung des Begriffs „racisé“ mit „rassifiziert“ gründet auf dem dazugehörigen, von Mélusine ebenfalls verwendeten Substantiv „racisation“. Der Begriff „racisation“ wurde 1972 von der französischen Soziologin Colette Guillaumin in den Diskurs eingeführt und wird hauptsächlich mit „Rassifizierung“ übersetzt. Anm. der Übersetzerin) ↩
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Ich schreibe „arabisch“ (wie auch „schwarz“ oder „weiß“) nicht mit Großbuchstaben, weil es hier nicht darum geht, die Mitglieder eines Volkes oder einer Gemeinschaft zu benennen, sondern Individuen durch die ethnische Gruppe, zu der sie objektiv gehören, zu bezeichnen; das heißt, durch ihre soziale Stellung – nicht nur diejenigen, die sich mit dieser Kategorie identifizieren, sondern alle, die ihr zugeordnet werden, unabhängig davon, wie sie sich selbst definieren. ↩
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In der Silvesternacht 2015 ereignete sich eine Welle von sexuellen Übergriffen in der deutschen Stadt Köln. In den folgenden Tagen beschuldigten viele deutsche und europäische Medien und Politiker Flüchtlinge, die Anschläge koordiniert und begangen zu haben, und stellten die Aufnahmebedingungen von Migranten in Frage. Auch wenn bis heute der genaue Verlauf der Ereignisse ungeklärt ist, kann die Theorie eines koordinierten Angriffs von Flüchtlingen als ausgeschlossen gelten. ↩
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Kamel Daoud, ein algerischer Schriftsteller, veröffentlichte am 31. Januar 2016 in Le Monde eine Kolumne mit dem Titel „Köln, Ort der Phantasien“, in der er den arabischen und muslimischen Männern ein „Krankes Verhältnis zu Frauen“ vorwarf. (Online: Cologne, lieu de fantasmes, Anm. der Übersetzerin) ↩
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PMU steht für „Pari Mutuel Urbain“ und meint kleine Bistros für Sportwetten, v. a. für Pferderennen. (Anm. d. Übersetzerin) ↩
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Beitrag in den 20-Uhr-Nachrichten des Fernsehsenders France 2, 7. Dezember 2016. (Der Beitrag trug den Titel: „Lieux publics: Quand les femmes sont indésirables“ [Öffentliche Orte: Wenn Frauen unerwünscht sind] Anm. d. Übersetzerin) ↩
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Clementine Autain ist eine französische Politikerin, Journalistin und Stadträtin der Stadt Sevran. Sie ist seit 2017 Abgeordnete des Bezirks Seine-Saint-Denis und Sprecherin der linkspolitischen Organisation „Ensemble!“. (Anm. d. Übersetzerin) ↩
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Im Original: „Je crois que les femmes racisées ne seront pas considérées comme de vraies actrices politiques tant que l’on continuera de nous proposer la tribune en nous évitant l’échafaud.“ – Durch die Gegenüberstellung von „Schafott“ und „Redetribüne“ stellt Mélusine einen Bezug zur 1791 veröffentlichten „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ der französischen Frauenrechtlerin Olympe de Gouges her, die in Artikel 10 schreibt: „La femme a le droit de monter à l’échafaud; elle doit avoir également celui de monter à la tribune.“ (Die Frau hat das Recht das Schafott zu besteigen, sie muss gleichermaßen das Recht haben die Redetribüne zu besteigen.) Quelle: https://histoireparlesfemmes.com und www.fembio.org (Anm. d. Übersetzerin) ↩