Charlotte & Koschka

„Wir wollten unser Leben umkrempeln, von oben bis unten“

Gespräch mit Irma

Irma wurde 1952 in Dortmund geboren und lebt seit 1972 in Bochum, wo sie seither kommunistische Politik macht. Organisiert war sie neun Jahre lang in der Kommunistischen Gruppe Bochum/Essen (KGB/E), die sich als Bestandteil der marxistischleninistischen Bewegung (ML-Bewegung) verstand. Außerdem war Irma in der Zweiten Frauenbewegung aktiv. Kennengelernt haben wir sie im Rahmen überregionaler Diskussionsveranstaltungen und Treffen.

Auf Irmas Wunsch verwenden wir im Interview nur Vornamen, obwohl wir beide sonst Autorinnennamen mit Vor- und Nachnamen gebrauchen. Der Unterschied, den wir damit ausgleichen, geht vermutlich auf das Selbstverständnis verschiedener Generationen feministischer Theoretikerinnen zurück.


1. „Wir kamen mit einem praxisorientierten Politikanspruch und suchten nach einer revolutionären Theorie“

Charlotte: Wo und wann hast du angefangen, dich zu organisieren? Seit wann warst du in der Kommunistischen Gruppe Bochum/Essen und warum bist du da reingegangen?

Irma: Ich bin 1972 von Dortmund nach Bochum gezogen, in die Studentenwohngemeinschaft meiner Schwester. Über sie hatte ich Kontakt mit der Studentenbewegung bekommen und wollte dort mitmachen. Ich war noch in der Ausbildung zur Erzieherin. Mit meiner Schwester und anderen StudentInnen war ich in der Projektgruppe Brelohstraße aktiv, die die BewohnerInnen eines der schlimmsten Obdachlosenasyle im Ruhrgebiet in ihren Forderungen nach angemessenen Mietwohnungen unterstützte. Mit Kindern aus den engagiertesten Familien (hier insbesondere die Mütter, Väter waren meist abwesend) machten wir einmal in der Woche „proletarische Kinderarbeit“. Als unsere Arbeit mit der Auflösung des Obdachlosenasyls endete, sind wir zur Stadtteilarbeit übergegangen und wollten die Gruppe oppositioneller Gewerkschafter in der IGM (GOG) bei Opel unterstützen. Diese Gruppe bei Opel war das Ergebnis einer Betriebsintervention von marxistisch-leninistischen Gruppen und aktiven Vertrauensleuten, die kritisch zur Politik der IG Metall standen. Es gab nach den wilden Streiks von 1969 zahlreiche Konflikte und Streikaktionen bei Opel. Die Sitzungen der oppositionellen Gewerkschafter waren zunächst öffentlich und jede und jeder konnte dazukommen. Weil aber so viele verschiedene linke Gruppen dort auftauchten und agitierten, um Leute für ihre Gruppe abzuwerben, wurde ein Opel- Solidaritätskomitee gegründet, das getrennt von den Opel-Leuten tagte. Im Solidaritätskomitee konnten alle Gruppen mitmachen, Flugblätter der oppositionellen Gewerkschafter tippen, layouten, vor den Werkstoren verteilen; oder Rechtsbeistand für Kollegen organisieren, die wegen ihrer klassenkämpferischen Aktivität entlassen wurden. Hier lernte ich die Kommunistische Gruppe Bochum/Essen kennen. Ihre Arbeit mit den Gewerkschaftern, ihre Argumente haben mich beeindruckt. Sie hat sich wohltuend von den anderen marxistisch-leninistischen Organisationen unterschieden, weil sie inhaltlich die Arbeit unterstützt hat und nicht ständig mit einem absurden Führungsanspruch nervte.

Charlotte: Wart ihr Teil vom Kommunistischen Bund (KB)?

Irma: Nein, wir waren eine lokale kommunistische Gruppe. In den Hochzeiten zählten wir ca. 50 Leute. Wir kamen mit einem praxisorientierten Politikanspruch und suchten nach einer revolutionären Theorie, jenseits bisher erlebter ML-Propaganda. Und wir waren Leute, die in ihrem Beruf politisch arbeiten wollten, z. B. in der Schule oder im öffentlichen Dienst. Anders als heute, ihr seid wahrscheinlich überwiegend theoretisch verbandelt und weniger praktisch. Wir waren eine sehr praktisch arbeitende Gruppe, aber mit dem Anspruch: Hauptseite Theorie.

Charlotte: Was habt ihr praktisch denn so gemacht?

Irma: Wir waren in der Gewerkschaft aktiv, vor allem in der GEW und in der ÖTV (jetzt ver.di), wir waren bei Opel und im Opel-Solidaritätskomitee aktiv, außerdem in der Internationalismusarbeit und in der Frauenbewegung, da gab es die §218-Gruppe und die Frauenhausgruppe.

Alles war in Aufruhr, das Alte zählte nicht mehr und wir wollten was Neues schaffen.

Charlotte: Das heißt, die einzelnen Mitglieder der KGB/E waren jeweils noch in anderen Zusammenhängen?

Irma: Genau, wir waren jeweils noch in andere Aktivitäten verstrickt und haben das dann gemeinsam reflektiert. Wir hatten Kollektive, das Gewerkschafts-, das Opel-, das Frauen-, das Internationalismuskollektiv und da haben wir diskutiert, wie wir in unseren Praxisfeldern vorgehen. Aber wir haben auch viel theoretisch gearbeitet. Wir wählten Mitglieder für eine Theoriekommission, die für die theoretische Zeitung zuständig war. In den letzten Jahren arbeitete die Theoriekommission fast nur noch zum Thema Frauenfrage und Klassenanalyse.

Koschka: Also ihr wolltet praktisch tätig sein, wart euch aber bewusst, dass ihr, um das zu tun, auch theoretische Arbeit leisten müsst? Oder wie habt ihr die beiden Seiten zusammengebracht?

Irma: Damals war es ja so, dass immer der Anspruch bestand, die KommunistInnen alle in einer Partei zusammenzuschließen. Also ich bin gerade die Richtige, die das sagt, ich fand diese Vorstellung vollkommen unrealistisch und immer ganz schrecklich! Aber ich versuch’s trotzdem mal zu erklären. Also wir wollten uns alle irgendwann wieder in einer Partei zusammenschließen, u. a. mit dem Kommunistischen Bund, mit dem Roten Morgen und wie sie alle hießen. Es hatten aber alle sehr unterschiedliche Auffassungen: Es gab Differenzen in Bezug auf die „Gewerkschaftsfrage“ (Eroberung ja oder nein), die Frage der Kriegsgefahr, die „nationale Frage“ usw. Der KB etwa meinte, die BRD marschiere schnurstracks in den Faschismus, der KBW (Kommunistische Bund Westdeutschland) und andere reduzierten die Frauenfrage auf die besondere Ausbeutung der Arbeiterin. Es gab so viele unterschiedliche Theorien, dass wir der Auffassung waren, wenn wir uns nicht mit diesen Differenzen beschäftigen, dann wird das nichts mit der Einigung der ML-Bewegung. Es war im Grunde die Erkenntnis, dass wir uns theoretisch mit den jeweils anderen Auffassungen befassen müssen, um zu neuen Ansätzen zu gelangen. Deswegen diese Herausgabe der Beiträge zur revolutionären Theorie, für die unsere Theoriekommission zuständig war.

Charlotte: Was für ein Titel schon! Super!

Irma: Wenn du dir die theoretischen Hefte mal anguckst, da kriegt erst mal jede kommunistische Gruppe, die es damals gab, ihr Fett weg. Die werden kritisiert und es wird versucht, die für uns damals richtigere Theorie dagegen zu setzen. Das war eher eine sachliche Auseinandersetzung, die allerdings auch nicht auf Polemik verzichtete. Aber auch in der Polemik unterschieden wir uns deutlich von den Organisationen mit Führungs- bzw. Parteianspruch.

Charlotte: Also ihr wolltet mit eurer Theorie erfassen, was die anderen Gruppen falsch denken?

Irma: Mit dieser Zielvorgabe ging es gar nicht anders. Wir haben also geguckt, was sagen die zu Monopolen, zur Faschismusthese, zum demokratischen Kampf, zu Frauen, zur Gewerkschaft.

Charlotte: Das heißt, eure Idee war, dass über eine theoretische Auseinandersetzung eine politische Organisierung wachsen kann?

Irma: Während die anderen ML-Gruppierungen ihre sogenannte richtige Linie durchsetzen wollten, ging es uns darum, eine Debatte über wichtige theoretische Differenzen und offene Fragen zu führen. Das ist uns mit den großen ML-Organisationen nicht gelungen. Wir hatten dann in den letzten Jahren allerdings Kontakt mit verschiedenen örtlichen Zirkeln aus anderen Städten. Als Zeitung, die sich mehr auf praktische Fragen bezog, brachten wir die Bochumer Arbeiterzeitung heraus. Eine monatliche, zusammengeklammerte DIN-A4-Zeitung von sechs bis acht Seiten. Wir hatten den Anspruch, verständlich zu schreiben. Wir haben nicht für die Szene geschrieben, sondern für Leute, die wir kannten, mit denen wir gearbeitet und Praxis gemacht haben.

Koschka: Gearbeitet im Sinne von Lohnarbeit?

Irma: Ja. Wir waren eben nicht SzeneschreiberInnen, sondern Leute, die diese Zeitung für alle gemacht haben. Sie sollte nicht den ML-Sprachgebrauch abbilden.

Charlotte: Und wer hat die so gelesen?

Irma: Wir haben die Zeitung z. B. bei Opel verteilt, und die Opel-Leute von der GOG, die wir unterstützt haben, haben zu uns gesagt: Die Flugblätter von den anderen linken Organisationen kommen in den Müll, aber die Bochumer Arbeiterzeitung wird mit nach Hause genommen. Unsere Zeitung damals hatte keinen theoretischen Anspruch, wie z. B. eure outside the box heute. Ich war ganz beeindruckt von eurem theoretischen Niveau, muss aber gestehen, dass ich manche Texte von euch zwei- bis dreimal lesen muss, weil ich die sonst nicht verstehe.

Charlotte: Das geht mir eigentlich auch so!

Irma: Das beruhigt mich. Ich habe diese Verständnisschwierigkeiten, obwohl ich weiterhin theoretisch aktiv arbeite. Wir haben in Bochum einen kleinen Diskussionskreis von Leuten, die praktisch seit ‘68 aktiv sind, und der sich monatlich trifft. Dort diskutieren wir Bücher oder Texte. Daneben treffe ich mich mit meiner Schwester und wir bearbeiten Bücher, die wir wichtig finden, zum Beispiel Demokratie contra Kapitalismus von Ellen Meiksins- Wood oder Marx und Keynes von Paul Mattick oder Das Kapital entschlüsseln von David Harvey. Wir versuchen auch, die Bücher, die wir lesen, zusammenzufassen und wichtige Dinge aufzuschreiben, um das in unsere politische Argumentation mit aufzunehmen. Aber den zur Zeit sehr verbreiteten akademischen Stil habe ich nie gehabt.

Charlotte: Ich finde auch, man merkt bei euren Texten, da steckt noch etwas anderes dahinter als eine akademische Art zu denken, das ist sehr erfahrungsgesättigt, was nicht heißt, dass es untheoretisch ist. Ich bin dann auch immer sehr beeindruckt von eurem Stil. Ich finde zwar die theoretische Arbeit gut und wichtig, aber gleichzeitig sehe ich in der Art und Weise, wie heute oft Theorie gemacht wird, auch einen Mangel. Der Theorie sieht man häufig an, dass sie so getrennt ist von der Praxis. Damit haben wir sehr zu kämpfen heute.

Irma: Das finde ich aber ganz gut, dass wir theoretische Arbeit machen können in einer Situation, wo die Praxis uns nicht so absorbiert.

Charlotte: Andererseits leidet die Theorie darunter und ich denke, das macht auch unser Gespräch so wertvoll. Denn ich merke schon, dass es viel Verwirrung gibt in der Theorie, weil der Bezug zum Alltags- und Arbeitsleben nicht gemacht wird. Ich denke, das müssen wir erst wieder lernen.

Koschka: Es gibt eben diese Institutionalisierung linker Theorie, die da zu Buche schlägt, ähnlich vielleicht wie mit den Errungenschaften der Frauenbewegung. Der Ausgabe der outside the box zum Thema Arbeit liegt auch zu Grunde, dass alle aus der Redaktion in einem studentischen Milieu waren, Geisteswissenschaften studiert haben und sich ihren Lebensentwurf zusammengebastelt haben, aber noch nicht hauptsächlich lohnarbeiteten. Und dann kam mit der Ausgabe die Zeit, als vielen die Lohnarbeit drohte und Panik ausbrach. Dadurch gab es eine Hinwendung zu einer Auseinandersetzung mit dem wirklichen Leben, das ja hauptsächlich aus der schrecklichen Lohnarbeit besteht. Für mich war das auch eine Umbruchzeit.

2. „Wir wollten eine Steigerung der Lebensqualität haben, und die wollten wir nicht verpassen“

Irma: Es ist auch schwer, die Situationen heute und damals einfach miteinander zu vergleichen. In den Jahren nach ‘68 gab es in der doch sehr breiten Jugendbewegung diese Stimmung, als ob die Revolution vor der Tür steht. Alles war in Aufruhr, das Alte zählte nicht mehr und wir wollten was Neues schaffen. Und das wurde nicht hinterfragt, weil weltweit überall die Jugend revoltierte, die Befreiungsbewegung in den Ländern der Dritten Welt erfolgreich war usw. Die Frauenbewegung war in den westlichen Ländern aktiv, es herrschte Aufbruchstimmung.

Koschka: Ein bisschen gibt es heute vielleicht auch wieder einen kleinen Aufbruch. Mehr Leute, besonders im Feminismus, merken, dass es Handlungsbedarf gibt, dass wieder mehr passiert, Frauen gehen auf die Straße, weil die Themen wieder was bedeuten, weil es die krassen Angriffe von rechts gibt. Weil die Gesellschaft sich gerade wieder ein bisschen bewegt und damit Sachen in Frage gestellt werden, die ein paar Jahrzehnte befriedet waren, zumindest an der Oberfläche.

Irma: Wenn ich überlege, was damals Frauenbewegung war und was heute Frauenbewegung ist, dann fällt mir vor allem auf, dass die Zweite Frauenbewegung eine viel praktischere Angelegenheit war. Ich war in der §218-Beratung aktiv. Wir hatten ein Frauenzentrum und dort kamen die betroffenen Frauen zur Beratung. Und wir haben gefragt: Wie ist die Schwangerschaft passiert? – Ja, Kondom geplatzt. Weil das aber häufig die Standarderklärung war, fragten wir genau nach und merkten auch, dass viele nicht richtig über ihren Körper Bescheid wussten. Das heißt, wir mussten dann auch Verhütungsfragen ansprechen. Manchmal sind Frauen mit Betroffenen zweimal im Monat nach Holland gefahren. Ich erinnere mich noch an einen alten klapprigen VW mit einem großen Schild „Wir fahren nach Holland“. Mehr stand nicht drauf. Aber alle wussten, was das heißt, wenn Frauen nach Holland fahren.

Charlotte: Das Schild haben sie geschrieben, um das Thema öffentlich zu machen?

Irma: Einmal sind Frauen an der Grenze ausgestiegen und haben das Auto geknipst und das Foto kam in die Lokalzeitung. In Holland konntest du bis zum dritten Monat abtreiben, das Gesetz war ja schon ziemlich liberal. Dort praktizierten sie schon die schonende Absaugmethode, während es in Deutschland nur die Ausschabung gab. Deswegen konnten die Frauen am gleichen Tag wieder zurückfahren.

Koschka: In kleinem Rahmen gibt es ja auch wieder eine Organisierung, eine Berliner Frauengruppe, die Fahrten von Polen nach Deutschland organisiert, um hier Abtreibungen zu machen, auch unter selbstorganisierten Vorzeichen. Ein bisschen kommt das schon wieder … und das Thema wird global verhandelt und ist ja auch wieder im Bundestag diskutiert worden.

Irma: Ja, weil es die Paragraphen noch gibt.

Koschka: Das fi nde ich schon abgefahren, dass jetzt wieder ins Bewusstsein gedrungen ist, dass es den §219a gibt. Ich wusste bis vor Kurzem auch nicht, dass es das sogenannte Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche gibt. Das Thema kommt jetzt plötzlich wieder auf die Tagesordnung. Das finde ich schon ziemlich aufregend. Ich glaube, da muss man schon gucken, dass die feministische Vernetzung funktioniert. Weil es ja Kämpfe sind, die in Lateinamerika geführt werden und in Polen und in Deutschland auch, wenn auch auf verschiedene Weise. In Irland ist ja auch gerade das Abtreibungsverbot gelockert worden. Es ist überall aktuell, oder wieder aktuell, das finde ich interessant.

Charlotte: Obwohl man in Deutschland schon sieht, was du sagt: diesen institutionalisierten Charakter von Politik. Selbst jetzt die Bewegung gegen den §219a ist im Großen und Ganzen getragen von offiziellen Organisationen und Parteien.

Irma: Es betrifft ja vor allem Ärzte und Ärztinnen, die abtreiben und die dann auf ihrer Homepage Informationen geben. Eine Bekannte von mir hat auch eine Anzeige bezüglich §219a bekommen. Sie hatte auf ihrer Website Informationen veröffentlicht und ist verklagt worden. Sie musste ein Bußgeld bezahlen und ihre Infos von der Website nehmen. Und später schickte ich ihr einen Zeitungsartikel über die verklagte Ärztin aus Hessen mit der Frage: Hier guck mal, haste das schon gewusst? Dann schreibt sie mir zurück, ja, ich war selbst betroffen. Ich sagte: Wie? Hallo? Warum sagst du mir das nicht? Das wäre vor 30 Jahren nicht passiert. Da wäre sie mit uns zusammen an die Öffentlichkeit gegangen. Ziemlich typisch für die jetzige Zeit, das individuell abzuhandeln. Das hat zum Glück die Ärztin aus Hessen nicht gemacht.

Charlotte: Meinst du, dass die Frauenbewegung vor allem durch diese praktischen Sachen ins Rollen gekommen ist, also durch praktische Themen wie Abtreibung, Hausarbeit, Gewalt?

Irma: Die politischen Anlässe lagen sozusagen auf der Straße, weil das, was die Institutionen und Parteien zum Thema sexuelle Gewalt, häusliche Gewalt zu sagen hatten, hieß, den Frauen die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Deshalb kamen dann auch die von Gewalt betroffenen Frauen ins Frauenzentrum und hofften auf Unterstützung. Auch für uns war das alles Neuland, learning by doing. In Bochum wurde sofort eine Beratung angefangen für geschlagene Frauen, später gab es Verhandlungen mit der Stadt. Wir wollen ein Frauenhaus – sofort praktische Arbeit. Das ist der Unterschied zu heute.

Charlotte: Es hat nicht mehr diese selbstorganisierte Basis.

Irma: Es war eine Mischung von Selbsthilfe und praktischer Unterstützungsarbeit von Frauen für Frauen. Einige dieser Gruppen haben sich später institutionalisiert, arbeiten in Lohnarbeitsverhältnissen und hängen von öffentlichen Geldern ab. Die Frauen in diesen Beratungsstellen mischen sich viel zu wenig in politische Debatten ein, obwohl das Thema physische oder sexuelle Gewalt gegen Frauen nicht erledigt ist. Ich habe vor Kurzem noch mal geschaut: Was machen jetzt die Frauen, die zum Thema sexuelle Gewalt arbeiten, was machen die institutionalisierten Frauengruppen? Sie veranstalten z. B. einen Kongress, und da geht es nur noch um Professionalisierung und überhaupt nicht mehr um Parteilichkeit. Unter Parteilichkeit haben wir damals verstanden, dass du als Frau bei jeder Frage auch immer selbst betroffen bist. Und wenn du das nur als professionelle Arbeit verstanden hast, dann warst du nicht authentisch, also nicht glaubwürdig in der Beratung mit Frauen. Heute arbeiten die Frauenhäuser oder die Frauenberatungsstellen gegen sexuelle Gewalt und sexuellen Missbrauch von Kindern ziemlich unkritisch mit allen Ämtern zusammen. Obwohl die Ämter eine ganz andere Zielsetzung haben, nämlich Familien zu fördern und nicht die Selbstbestimmung der Betroffenen.

Ich denke, die Frauenbewegung war letztendlich ein Modernisierungsschub für Frauen.

Charlotte: Was war die Idee hinter der Parteilichkeit?

Irma: Die Idee war, dass die eigene Betroffenheit dich glaubwürdiger macht, das die Situation von betroffenen Frauen dich selbst auch betrifft. Du stehst als feministische Beraterin eben nicht über anderen Frauen, nur weil sie dich gerade um Hilfe bitten. Also nicht einfach nur: Das habe ich gelernt, ich habe zig Ausbildungen gemacht und Seminare, ich bin jetzt professionell. – Das reichte nicht. Für uns war Professionalität ganz eng mit dieser Parteilichkeit verbunden. Wir mussten aktiv in der feministischen Bewegung sein, uns aktiv für alle Frauen einsetzen, nicht einfach nur Beratung machen und dann nach Hause gehen. Eine Zusammenarbeit mit Jugendamt oder Polizei kam für uns einfach nicht in Frage, weil diese die Situation der Betroffenen häufig verschärften.

Charlotte: Wie genau ging das zusammen? Es gab dann zum Beispiel die Initiativen für den §218, dann habt ihr die Beratung gemacht und gleichzeitig darüber theoretisch diskutiert? Oder war das noch mal in extra Gruppen ausgelagert?

Irma: Die 218-Gruppe hat eigene Beratungszeiten angeboten und hat sich noch extra getroffen, um die Arbeit zu organisieren und zu reflektieren. Außerdem wurden Erfahrungen von überregionalen Gruppentreffen oder Berichte von Frauenkongressen usw. besprochen.

Charlotte: Mich würde noch interessieren, woher die Frauen eigentlich kamen, die sich da organisiert haben. Waren die aus verschiedenen Milieus und Lebenssituationen?

Irma: Da waren natürlich viele Studentinnen, aber auch Angestellte, Frauen, die eine Lehre machten, es war gemischter als heute. Es gab ja nicht nur die StudentInnenbewegung, es gab auch eine SchülerInnenbewegung, eine Auszubildendenbewegung. Die Frauenbewegung war ja Teil der Jugendbewegung. Der Impuls kam aus dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und der Kritik der SDS-Frauen, die haben gesagt: Wir haben die Schnauze voll. Hier wird immer von Revolution und Befreiung geredet, aber wenn wir reden wollen, werden wir mundtot gemacht und unsere Interessen gelten überhaupt nichts. Und so ist das dann passiert, dass dann die Frauen im SDS angefangen haben, Kinderläden zu machen, damit die Kinder versorgt werden. Also auch wieder dieser praktische Ansatz. Dann kam die Stern-Kampagne „Wir haben abgetrieben“, als 370 Frauen aus Kultur, Medien und Film sich geoutet haben. Das gab einen unheimlichen Anstoß, sich zusammenzutun. Daraufhin haben sich Frauenzentren gebildet. Und sobald so ein Zentrum da war, haben sich ganz verschiedene Interessengruppen gebildet. Aus der praktischen Arbeit zum 218 ergaben sich immer wieder neue Fragen, wie z. B. die nach Verhütung, Sexualität und Frauengesundheit. Das regte uns dazu an, Selbstuntersuchung mit einem Spekulum zu machen oder den Mythos vom vaginalen Orgasmus zu lesen.

Koschka: Also war es das Frauenzentrum als Ort, was das so forciert hat?

Irma: Ja, der Ort hat letztlich das blühende Leben unterstützt, das sich eh zeigen wollte.

Charlotte: Und hatten die Frauen, die da kamen, schon was zu tun mit Politik oder waren sie einfach neugierig? Ich frage vor dem Hintergrund unserer Erfahrung. Die Linke, die ich kenne, ist schon eher studentisch, aber in letzter Zeit wird versucht, wieder mehr aus diesem Szene-Ding rauszukommen. Aber das ist sehr schwer, weil diese Trennung sehr groß ist und sich über Jahre aufgebaut hat. Ich habe das Gefühl, es gibt eher eine Politisierung über bestimmte Studiengänge, wie die Geisteswissenschaften, und nicht einfach über die eigene Betroffenheit an Themen. Und ich frage mich, was war die Motivation der Frauen, ins Frauenzentrum zu kommen?

Irma: Also die Situation damals war so verknöchert, so spießig. Du konntest als Jugendliche gar nicht atmen, ich fand es schlimm. Du durftest nichts, du wurdest ständig reglementiert, du musstest immer vor den autoritären Lehrern kuschen, ihr reaktionäres Zeug schlucken. Und wenn du das nicht gemacht hast, dann mussten die Eltern ran. Das Gleiche war an den Unis: Da waren die Professoren eben auch die Götter in Schwarz. Es gab keine Mitbestimmung, keine demokratischen Einflüsse der Studierenden oder der Schülerinnen und Schüler. Gegen diese Beeinflussung wurden dann Gegenseminare organisiert. Zum Beispiel ein Seminar zum Kommunistischen Manifest oder zu Lohn, Preis und Profit. Unter den SchülerInnen war Wilhelm Reich ein Renner.
Das heißt, es war überall etwas los. Wenn Frauen bei den Streik- oder Boykottaktionen an der Uni oder in der Schule mitmachten, war das der erste Schritt, sich weiter zu entwickeln und genauer hinzugucken: Was denn, du hast mich nicht aussprechen lassen? Wie, da reden ja nur Männer? Das geht mir gegen den Strich, ich geh jetzt in ein Frauenzentrum. – Und die Frauen, die kamen, brachten dann ihre Freundinnen mit. Oder eine Frau sagte: Ach ich wollte mal gucken, ob ihr die schlimmen Frauen seid. Über euch wird immer so erzählt, ihr seid Hexen, ihr seid gegen Männer!

Koschka: Und war die Unzufriedenheit mit den verknöcherten Zuständen in deiner Empfindung was anderes als die Ursachen, die dich zur Feministin gemacht haben? Waren das verschiedene Aspekte derselben Unzufriedenheit mit der Welt, wie sie ist, oder waren das verschiedene Stränge?

Irma: Also die Verknöcherung hatte natürlich sehr viel mit der Situation der Frauen zu tun. Ich hab ältere Frauen überwiegend als Hausfrauen kennengelernt. Ich wollte schon als Kind einen Beruf erlernen und habe mich als Sparkassenangestellte gemalt. Ich habe auch noch mal Zahlen von damals angeguckt: Zu meiner Zeit, als ich in eurem Alter war, waren in Westdeutschland 70 % der Frauen Hausfrauen. Und im Ruhrgebiet war es noch schlimmer: In Regionen mit Stahl- und Kohleindustrie war dieses Hausfrausein absolut normal. Da hieß es, meine Frau geht nicht arbeiten, ich verdiene genug. Übersetzt hieß das: Meine Frau darf nicht arbeiten. Und jetzt kamen zum ersten Mal mehr die Arbeiterkinder an die Uni als in den vergangenen Jahren, davor und darunter waren etliche Frauen. Die wollten absolut nicht das Gleiche machen wie ihre Mütter.

Koschka: Hatten die Frauen eine Berufsausbildung?

Irma: Häufi g nicht, meist sind sie einfach nebenbei jobben gegangen. Und dieses: Du heiratest eh, was soll ich für dich ’ne Ausbildung bezahlen. Diesen Spruch hatten alle Frauen gehört. Bei uns in der Familie war es allerdings nicht so. Mein Vater sagte immer: Du machst ’ne Ausbildung und heiratest nicht oder wenn, dann spät. Meine Mutter sagte: Du heiratest nicht, oder wenn, dann einen Arzt.

Koschka: Na, das sind Bedingungen!

Irma: Und ich bin zur Frauenbewegung gekommen wegen der Situation, dass Frauen so in Bedrängnis waren, wenn es um ihre eigene sexuelle Entwicklung und die Frage der Verhütung ging. Das war für mich eine ganz wichtige Frage. Zur damaligen Zeit war es ja so, dass die Sexualität als befreit galt, was hieß, dass Frauen möglichst oft Geschlechtsverkehr haben sollten, mit allen möglichen Männern, und wenn man das nicht hatte, galt man nicht als befreit.

Koschka: Mit vielen Männern schlafen war also mit Anerkennung gepaart?

Irma: Es war eher die Befreiung vom Dogma der Jungfräulichkeit. Ob du jetzt mit jemandem sexuellen Kontakt haben wolltest oder nicht, irgendwie geisterte diese Norm im Kopf herum. Es gab schon einen Gruppenzwang, ich mochte das überhaupt nicht. Aber ich musste mich trotzdem mit der Verhütungsfrage auseinandersetzen, weil Verhütung war ein Fremdwort für die Männer, und Kondome waren zur damaligen Zeit nicht so toll. Heute sind die ja schön dünn und gefühlsecht, wie man so schön sagt. Das konntest du damals nicht behaupten!
Also, das hat mich dahin getrieben, dieses Gefühl: Du sollst sexuell befreit sein, aber eigentlich bin ich das als Frau überhaupt nicht. Ich hab diese und jene Frage zu klären: Verhütung, Schwangerschaft – ja oder nein. Muss man immer Rein-Raus-Sex machen oder gibt es auch etwas anderes? Und da hab ich gesagt: Nee, das will ich jetzt nicht alleine klären.

Charlotte: Und ihr habt euch dann über den Selbsterfahrungsansatz miteinander aufgeklärt?

Irma: Genau, Selbsterfahrungsansatz ist ja ein Betroffenheitsansatz. Du gehst als Betroffene in eine Gruppe und sagst, warum du kommst.

Koschka: Ging das dann gut, dass junge Frauen, die ja recht wenig aufgeklärt waren, schnell einen Draht zueinander bekommen haben? Konntet ihr euch offen über die Themen unterhalten?

Irma: Das Gute war, dass der Markt mit Frauenliteratur überschwemmt wurde. Für jede Frage hattest du sofort die entsprechenden Bücher parat. Wir haben gelesen ohne Ende, das war total wichtig. Das waren auch wieder sehr praktische Bücher, von Brot und Rosen aus Berlin, oder Der Mythos vom vaginalen Orgasmus und die ganzen Selbstuntersuchungen mit Spekulum. Wir haben uns dann auch angeguckt, wie unsere Gebärmutter aussieht.

Koschka: Und das war recht schnell möglich, dass ihr euch gemeinsam mit dem Spekulum hingesetzt habt? Gab es da keine Schamgrenze?

Irma: Ja, es war schon komisch. Die Schamgrenze war schon da. Aber es gab immer Frauen, die das schon mal gemacht hatten und gesagt haben: Du siehst dann das und das, und der Muttermund sieht aus wie ein roter Diamant. Da kam dann die Neugierde und wir dachten, das müssen wir auch sehen!

Charlotte: Und, hast du’s gesehen?

Irma: Ja, er sah so aus! So was von glänzend! Rot und gelb, du hast den Eindruck, du siehst in den Weltraum. Hast du den schon mal angeguckt?

Koschka: Nein, tatsächlich weiß ich es nicht. Aber das macht wirklich neugierig. Wir haben uns auch schon öfter mal darüber unterhalten, dass es irgendwie klar ist, dass wir das nicht miteinander machen würden, also die feministischen Genossinnen untereinander.

Irma: Es ist klar, dass ihr das nicht macht?

Charlotte: Ist das klar, ich dachte, wir wollten das mal machen?

Koschka: Aber wir haben es nicht gemacht.

Charlotte: Vielleicht machen wir es noch. Ich wär’ dabei!

Koschka: Wenn ich mir überlege, wie lange ich mit meinen Freundinnen und Genossinnen z. B. nicht über Masturbation gesprochen habe, finde ich das schon auch ein bisschen merkwürdig. Und das ist, glaube ich, bei uns ganz oft so, dass es diese ganz theoretische Beschäftigung mit den Themen ist, mit der man anfängt, als Feministinnen miteinander ins Gespräch zu kommen. Oder Fragen wie „Hast du einen Orgasmus, wenn du mit deinem Freund schläfst?“ liegen gar nicht so nahe für uns, weniger sogar unter Feministinnen als in anderen Frauenfreundschaften.

Irma: Also, Orgasmus war bei uns absolut Thema! Es wurde sich viel darüber ausgetauscht. Wir haben auch alle in Wohngemeinschaften gewohnt. Unter den Frauen wurde sich auf jeden Fall ausgetauscht, weil das Thema auch für uns so neu war. Wir hatten so ein inneres Bedürfnis, das zu machen, weil wir nichts verpassen wollten. Wir wollten eine Steigerung der Lebensqualität haben, und die wollten wir nicht verpassen.

Koschka: Oh, das klingt sehr schön, als Zielsetzung.

Irma: Wir hatten das Gefühl, wenn wir das nicht machen, verpassen wir was an Selbstentwicklung. Selbstentfaltung war ja auch so ein Schlagwort und dass man die intimsten Dinge anspricht, gehörte zu dieser Selbstentfaltung dazu.

3. „Wir haben immer gesagt, die Gewerkschafter haben ‚die Opel-Brille‘ auf“

Charlotte: Was mich jetzt noch interessiert zur Frauenfrage in der KGB/E: Du hast ja gesagt, du warst in der Opel-Solidarität, und da wiederum habt ihr euch als Frauen zusammengetan und versucht zu zeigen, dass es noch andere Themen gibt als den Facharbeiter.

Irma: Wir haben immer gesagt, die Gewerkschafter haben „die Opel-Brille“ auf. Wenn sie über ihre Ehefrauen sprachen, dann hatten wir den Eindruck, dass ihre Frauen ziemlich verunsichert sind, weil sie nicht wussten, was ihre Männer so machen und mit wem sie zusammenarbeiten. Sie fanden es anscheinend komisch, dass ihnen unbekannte Frauen mit ihren Männern zusammenarbeiten.

Charlotte: Und später hast du ja wahrscheinlich in der KGB/E die feministischen Fragen mit reingebracht bzw. warst immer in beiden Feldern aktiv.

Irma: Anlass für die Organisierung einer neuen Frauengruppe mit den Ehefrauen der Opel-Leute war eine Bemerkung, die uns zu Ohren gekommen ist. Anscheinend konnten sich die Ehefrauen unser Interesse an der politischen Arbeit nur so erklären, dass wir hinter ihren Männern her waren, um mit ihnen Sex zu haben.

Koschka: Was, die Ehefrauen der Opel-Männer waren eifersüchtig?

Irma: Jaja, angeblich dachten die Ehefrauen der Opel-Männer, die Frauen vom Solidaritätskomitee machen das nur, um mit ihren Männern zu schlafen. Wahrscheinlich war das aber wohl eine Phantasie der Männer.
Und dann haben einige Frauen gesagt, unter anderem ich: Nee, das lassen wir nicht auf uns sitzen! Die haben so reaktionäres Zeug über den Alltag und über Frauen im Kopf. Da dachten wir: So, wir laden jetzt die Ehefrauen der Opel-Männer ein, die gewerkschaftlich aktiv sind, und machen eine Frauengruppe.

Koschka: Wow, ihr habt denen mitgeteilt, dass ihr jetzt eine Frauengruppe macht?

Irma: Ja, wir laden die jetzt ein, wir wollten die kennenlernen und die sollten uns kennenlernen und sollten zu uns Vertrauen kriegen, dass wir nicht deswegen mit den Männern arbeiten, weil wir mit denen Sex haben wollen, sondern weil wir politische Frauen sind und die Gewerkschaftsarbeit unterstützen. Schließlich waren dann in der Frauengruppe sechs Frauen vom Opel-Solidaritätskomitee und sechs Frauen von den Opel-Arbeitern. Später waren es dann nur noch vier Frauen.

Charlotte: Und was habt ihr dann gemacht?

Irma: Wir tauschten Alltagserfahrungen aus, die ja sehr unterschiedlich waren. Hier die Frauen in Wohngemeinschaften, da die Frauen in Familie oder Ehe. Es wurde viel über Konflikte zwischen Männern und Frauen gesprochen, auch über Sexualität. Da ist mir zum Beispiel noch mal ein Licht aufgegangen, dass Sexualität für Männer auch eine Abreaktion von Stress sein kann. Da erzählten Frauen, ihre Männer kommen von der Mittagsschicht nach Hause und wollen sofort Sex. Und das geht dann unheimlich schnell und danach sind die Männer entspannt und können sich zum Schlafen hinlegen. Das wusste ich bis dahin nicht, dass es so was gibt. Die Frauen, die sich an der Frauengruppe beteiligt haben, vor denen habe ich hohen Respekt, dass die das so mitgemacht haben.

Koschka: Ja, das erstaunt mich auch sehr.

Irma: Zwei Frauen kenne ich, die immer noch sagen, dass die Frauengruppe eine wichtige Erfahrung in ihrem Leben war. Die zwei haben danach noch eine Ausbildung gemacht. Das waren Frauen, die vorher in anderen Haushalten gegen Geld putzten oder bügelten und dann noch berufstätig geworden sind. Beide haben eine Altenpflegeausbildung gemacht.

Charlotte: Und hat die Arbeit der Gruppe was an der Zusammenarbeit mit den Opel-Männern geändert?

Irma: Ja, das hat was geändert, z. B. dass die sich plötzlich auch für Fragen der Kindererziehung oder für Schulfragen interessiert haben.

Charlotte: Und wie war eigentlich die Vermittlung?

Irma: Die Vermittlung ging anscheinend sehr stark über die Frauen, die dann nach Hause kamen. Uns wurde berichtet, dass nach den Treffen immer viel untereinander geredet wurde. Also wir haben den Männern nichts gesagt. Die Männer hatten natürlich ein bisschen Schiss, weil sie dachten, wir würden die Frauen gegen sie aufhetzen. Das war aber nicht der Fall. Wir haben eigentlich gar nicht über Männer, sondern über Frauen geredet, über den Mythos des vaginalen Orgasmus, wie die Hausarbeit organisiert wird, ganz viel über Kinder – typische Frauenthemen! Aber die Frauen dachten dann immer, wir wüssten so viel, weil wir Intellektuelle sind. Wir haben dann immer gesagt: Nein, wir wissen so viel, weil wir politische Frauen sind! Wir mussten uns das auch alles selber aneignen. Das haben wir nicht im Studium oder in der Schule gelernt. Aber das haben die nicht auseinandergekriegt, das war identisch für die.

Koschka: Und wie waren diese Treffen strukturiert? Habt ihr bestimmte Themen vorbereitet und überlegt, was ihr vermitteln wollt, oder wie lief das?

Irma: Also wir haben uns alle zwei Wochen getroffen und ein Thema ergab sich dann spontan. Aus dem Gespräch heraus, ja, lass uns doch mal das machen, oder lass uns doch mal über die Pille reden. Oder lass uns doch mal über Sexualität sprechen. Oder über Schule und über die Lehrer, was die mit den Schülern machen.

Charlotte: Also die Themen waren sehr nah am Alltag dran?

Irma: Genau, das ist Selbsterfahrung: nah am Alltag.

4. „Der blinde Fleck in der Kritik der politischen Ökonomie war uns nicht wurscht“

Charlotte: Und neben diesen praktischen Dingen hast du Theorie gemacht, bei der KGB/E, stimmt’s?

Irma: Ich habe mich damals mit Theorien zur Hausarbeit beschäftigt, und mit der Entstehung der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Anstoß zu dieser Auseinandersetzung waren die Bücher: Mann, Marx spricht nicht über Hausarbeit und Die Märchenonkel der Frauenfrage von Friedrich Engels und August Bebel. Wir waren damals entgegen der vorherrschenden Meinung der ML-Gruppierungen der Auffassung, dass die geschlechtliche Arbeitsteilung sich durch alle Klassen hindurchzieht. Das hat uns schon von allen anderen linken Gruppen unterschieden. Die Themen Hausarbeit und Erziehung nahmen wir auf, weil wir diese in ihrer ökonomischen Bedeutung erfassen wollten. Der blinde Fleck in der Kritik der politischen Ökonomie war uns also nicht wurscht. Aber wenn du die Sachen liest, dann siehst du, da schreiben Leute, die praktisch arbeiten. Das habe ich ja schon mal gesagt. Und wenn ich eure Sachen lese, die outside the box, dann sind das weniger Alltagsthemen, außer dieses Interview mit den §218-Frauen. Das fand ich total interessant. Das fand ich eine der besten Sachen, die ich gelesen habe. Und das Interview mit der Mama, die sagt, wieso fragst du mich das jetzt? Das fand ich auch sehr interessant.

Charlotte: Weil das so nah dran war an den Lebens- und Arbeitsrealitäten der Frauen?

Irma: Ja. Was ich immer ganz toll finde ist, wenn theoretisch arbeitende Frauen sich mit praktischen Fragen auseinanderset - zen. Die können manchmal unglaublich gute Fragen stellen. Häufig trifft die Frage schon den Punkt, auf den es hinausläuft. Das finde ich manchmal sehr faszinierend bei euch. Eure Fragen sind gut gestellt. Ich denke, das hat was mit eurem theoretischen Hintergrund zu tun. So gut konnten wir das nicht. Wir haben uns das zusammengestückelt. Wenn du die Frauensachen liest, dann merkst du, wir kommen nicht richtig weg von dieser Gleichsetzung: Fraueninteressen sind Arbeiterinteressen. Wir betonten zwar immer die geschlechtliche Arbeitsteilung, dass sich das durch alle Klassen zieht, und die gleichen Interessen aller Frauen. Aber die Arbeiterinnen, die waren uns dann als eine besondere Gruppe sehr nah.

Charlotte: Was meinst du damit, dass ihr Frauen- und Arbeiterinteressen gleichgesetzt habt?

Irma: Es gab die Tendenz, besonders die Situation der Arbeiterin in der Industrie hervorzuheben. An ihrem Beispiel ließ sich am besten aufzeigen, wie bedrückend die Mehrwertproduktion ist, wie wenig disponibel Zeit zur Verfügung steht, wenn auch noch die Familie zu Hause wartet. In dieser Figur fließt die Frage der Aufhebung der Lohnarbeit und die Aufhebung von Haus- und Erziehungsarbeit zusammen. Unter Arbeiterklasse war immer das Industrieproletariat gemeint. Heute macht dieses Industrieproletariat nur noch ca. 20 % aller Beschäftigten aus, d. h. wir sprechen hier von einer Minderheit. Die industrielle Klasse hat sich also aufgelöst in eine große Masse von LohnarbeiterInnen, die eine immer schneller wachsende Masse an Geld, Ware, Infrastruktur, Logistik, Energie organisiert und verwaltet; oder die im sogenannten Care- oder Bildungsbereich arbeiten. Ohne Kapital kann sich niemand mehr Leben vorstellen. Hausarbeit und Erziehung sind ohne Waren und Dienstleistungen über den Markt nicht vorstellbar. Die Lohneinkommen sind vollständig in den Kapitalkreislauf integriert. Die Fraueninteressen beziehen sich nicht nur auf die Aneignung der gesellschaftlichen Produktivkraft in demokratischer Selbstorganisation, sondern gleichfalls auf eine neue Verteilung von Care-Arbeit.
Hier sehe ich Überschneidungen von marxistischen und feministischen Politikfeldern. Allerdings muss der Kampf darum geführt werden, was ja auch teilweise schon geschieht, und das geht nicht ohne eigenständige feministische Organisationsansätze.

Charlotte: Und wie würdest du das heute sehen?

Irma: Die Klassenfrage spielt ja zur Zeit gar keine Rolle in der Frauenbewegung.

Koschka: Aber ein bisschen kommt sie ja wieder.

Irma: Sag mal, wie kommt sie denn wieder?

Koschka: Ich hab schon den Eindruck, dass es wieder mehr um die ökonomischen Bedingungen von Weiblichkeit geht. Also, in der Linken sehe ich, dass Leute wieder anfangen, sich mit Klassentheorie oder materialistischen Fragestellungen zu beschäftigen.

Irma: Unter Klassenfrage verstehe ich auch was sehr Praktisches. Da würde ich zum Beispiel die Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen in den Mittelpunkt stellen. Du sagst, dass das als theoretische Frage wieder in den Mittelpunkt rückt. So hab ich dich verstanden: Welche Rolle hat die Klassenfrage für die Weiblichkeit?

Charlotte: Da sind wir wieder bei dem Punkt, dass wir eher von einer theoretischen Ebene ausgehen und das Praktische etwas zu kurz kommt. Ich würde dir auch Recht geben, Koschka, dass da was passiert, aber doch anders, als du es beschreibst, Irma. Meine Erfahrung ist auch, dass ich vor ein paar Jahren noch sehr abstrakt gedacht habe. Nach und nach wurde das dann wieder konkreter und jetzt arbeite ich in einem Solibündnis für Pflegekräfte. Und da bin ich einen sehr weiten Weg gegangen, bis ich in diesem konkreten Zusammenhang gelandet bin. Und letztens habe ich in einem Sammelband, den Koschka herausgegeben hat, versucht, die Fragen von Feminismus und Klassentheorie zusammenzubringen. Da bin ich auch zu dem Punkt gekommen, dass es darum gehen müsste, sich die konkreten Lebensbedingungen anzuschauen. Ich denke, das ist schon eine allgemeine Tendenz, sich den konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen wieder mehr zuzuwenden.

Irma: Ja, das wäre super! Da würde ich mich freuen!

Charlotte: Wo ich das auch sehe, ist zum Beispiel in der Care- Diskussion, da gibt es auch sehr viele praktische Prozesse. Zum Beispiel gab es im Kita-Streik auch Solibündnisse aus der Linken heraus. Das sind vielleicht neue Ansätze.

Koschka: Oder dass auch klassisch patriarchale Ausbeutungsverhältnisse wie Prostitution überhaupt wieder diskutiert werden. Da gibt es ja diesen Grabenkampf zwischen der einen Position: Sexarbeit ist Arbeit und alles, was Frauen und anderen Individuen darin Schlimmes passiert, ist die Stigmatisierung der Sexarbeit, aber es liegt nicht an der Prostitution als gesellschaftlichem Verhältnis. Und dann gibt es die andere Position, die die kapitalistische Ausbeutung der weiblichen Sexualität und des weiblichen Körpers thematisiert. Dass das überhaupt mal wieder diskutiert wird, finde ich, ist auch ein Ringen um die Auseinandersetzung mit realen Verhältnissen. Wo deine Erzählungen für mich auch sehr an Aktualität gewinnen, ist die Auseinandersetzung mit der Frauenfrage in autoritären Regimes, wo die Unterdrückungsverhältnisse viel klarer als hierzulande sind. Die Themen, mit denen sich Frauen in der Türkei oder im Iran beschäftigen, Verhüllung der Frau, rechtliche Entmündigung, sind vielleicht so ein Zerrspiegel von Verhältnissen, die denen von hier vor 1968 ähneln, dieses klassische Patriarchat. Die Stimmen von vielen liberalen muslimischen oder ehemals muslimischen Feministinnen haben auch diese Klarheit und Prägnanz der Zweiten Frauenbewegung, sie sind sehr konkret auf den Alltag bezogen. Da finde ich es sehr fruchtbar, die Erkenntnisse der Zweiten Frauenbewegung hinsichtlich Kollektivierung, Organisierung, Wissensvermittlung aufzuarbeiten.

5. „Ich denke, die Frauenbewegung war letztendlich ein Modernisierungsschub für Frauen“

Irma: Eigentlich gehör ich eher zu den pessimistischen Frauen, die einmal festgestellt haben: wir kriegen keinen Nachwuchs. Das heißt, hinter uns kommen keine neuen Feministinnen mehr, es hat sich hinter uns wie ein Loch aufgetan. Zum Beispiel wurden die Kinder, die wir alle großgezogen haben, überhaupt keine Feministinnen. Das war eine unglaubliche Enttäuschung, dass unsere eigenen Wohngemeinschaftskinder nichts von dem wissen wollten, was wir gemacht haben.

Charlotte: Was denkst du, sind die Gründe dafür? Ich hab das Gefühl, wir haben heute noch an dieser Lücke zu knabbern.

Irma: Ich denke, die Frauenbewegung war letztendlich ein Modernisierungsschub für Frauen: rein in den Arbeitsmarkt, wobei sie sich ja da auch noch größtenteils in den zehn typischen Frauenberufen tummeln. Natürlich sind Frauen in Rechtsberufen, Medizin, Medien und Informatik heute auch präsent. Um einiges war uns die DDR voraus, aber glücklich waren die Frauen da auch nicht, auch wenn sie berufstätig sein mussten. Dieser Modernisierungsschub, der durch die westdeutsche Bewegung gegangen ist, hatte zur Konsequenz, dass Frauen jetzt doppelt arbeiteten, im Haushalt und im Beruf. Immerhin hat sich im Haushalt einiges verändert, du kannst deine Spülmaschine und Waschmaschine heute parallel laufen lassen. Wenn du in den 1960er Jahren Hausfrauen gefragt hast, wie viele Stunden sie wöchentlich im Haushalt gearbeitet haben, dann sagten sie: 30 Stunden. Und wenn du Frauen heute fragst, dann sagen sie: drei Stunden, ohne Kinder. Und ich kann das nachvollziehen, ich hab damals weniger als drei Stunden im Haushalt gemacht, auch weil ich gar keinen Bock hatte. Hausarbeit und Erziehung füllen auf jeden Fall weniger Zeit aus und die Berufstätigkeit mehr. Frauen als reine Hausfrauen, das gibt es eigentlich nur noch als „Lebensabschnittsphase“ oder?

Koschka: Naja, meine Cousine ist kürzlich nach Kassel aufs Dorf gezogen und zu ihrer ersten Tupper-Party eingeladen worden. Das war der Alptraum unserer Kindheit, dieses Dasein. Das sind schon Frauen, die eine Berufsausbildung haben, aber zu Hause sind, bis das Kind mindestens fünf ist. Und die haben dann noch einen kleinen Zuverdienst oder ein Ehrenamt. Das klingt gar nicht so anders, als das, was du berichtest, so kleine Hilfsarbeiten und etwas, was sich sinnvoll anfühlt. Da scheint mir das auf irritierende Weise aktuell zu sein, diese weibliche Existenzform.

Charlotte: Das ist dann aber schon im Zusammenhang mit kleinen Kindern?

Koschka: Ja, genau!

Irma: Ja, mit den Kindern verfestigt sich die geschlechtliche Arbeitsteilung enorm, vorher ist es immer noch ein bisschen lockerer, aber wenn die Kinder da sind, denken die Frauen, wir machen das nicht für den Mann, sondern für die Kinder. Da wird sich dann nicht mehr viel darüber auseinandergesetzt. Das bricht dann erst wieder auf, wenn die Frau wieder lohnarbeiten geht.

6. „Und ich sage mal, der Mensch ist ein soziales Wesen, der hängt nicht an Einzelnen, sondern immer an einem Kollektiv”

Koschka: Wovon hast du eigentlich beruflich gelebt?

Irma: Beruflich war ich Sozialpädagogin an der Schule und habe da bis zum Schluss feministische Mädchenarbeit gemacht.

Koschka: Und wie viel hast du gearbeitet?

Irma: 10 Jahre eine halbe Stelle, danach Vollzeit.

Koschka: Wow, und daneben noch die politischen Sachen?

Irma: Ja. Bevor ich studiert habe, leitete ich fast zwei Jahre einen Kinderladen. Das waren alles Kinder aus der gehobenen Mittelschicht, von Lehrern, Rechtsanwälten. Und mit denen habe ich „proletarische Erziehung“ gemacht.

Charlotte: Wolltest du selber Kinder haben?

Irma: Ja, ich hätte gerne Kinder gehabt, aber ich konnte nicht schwanger werden aufgrund einer Autoimmunerkrankung. Den Grund wusste ich aber erst später.

Charlotte: Was meintest du damit, dass ihr Kinder zusammen großgezogen habt?

Irma: Das fand in Wohngemeinschaften statt. Wir hatten einen richtigen Kinderdienst.

Charlotte: Und das hat gut funktioniert?

Irma: Ziemlich gut und verlässlich. Die Kurzen kamen mit drei Monaten in einen selbstorganisierten Kinderladen, die waren da auch ganz glücklich. Am Wochenende haben die sogar trouble gemacht, weil sie in den Kinderladen zu ihren Freunden und Freundinnen wollten, obwohl sie noch so jung waren. Das fanden wir sehr interessant. Also, dass das nicht gut wäre für die Kinder, entspricht gar nicht meinen Erfahrungen.

Koschka: Wurden die Kinder ab dem dritten Monat auch nicht mehr gestillt?

Irma: Doch, nachts, morgens oder die Milch wurde in Fläschchen abgepumpt für die Zwischenmahlzeiten.

Koschka: Das ist ein krasser Kontrast zu heute!

Irma: Ja, das denke ich auch.

Charlotte: Heute hab ich eher das Gefühl, ist dieser Gedanke sehr vorherrschend, die Erziehung von Kleinkindern auf wenig Leute zu beschränken.

Irma: Wie viele Leute denn, Vater, Mutter?

Charlotte: Ja, vielleicht. Ich wäre ja fürs Kollektivieren, aber es gibt wenig Erfahrung in dieser Richtung. Bei den Leuten, die ich kenne, ist das Kind zumindest im ersten Jahr sehr nah an den Eltern dran.

Irma: Es gab damals keine lange Elternzeit, nach drei Monaten mussten die Frauen wieder arbeiten gehen – wenigstens die Frauen, die ich kannte und die in Wohngemeinschaften lebten. Und ich sage mal, der Mensch ist ein soziales Wesen, der hängt nicht an Einzelnen, sondern immer an einem Kollektiv. Und wenn er an Einzelnen hängt, dann weil die Gesellschaft diese Einzelnen hervorbringt. Aber die psychologische Begründung, dass Kinder angeblich nur mit ein oder zwei Personen können, das ist ein Konstrukt und ein Märchen, um die jetzige Situation zu rechtfertigen. Wenn du die Kinder in einer Gruppe erlebst, wenn sie drei Monate sind, dann siehst du, sie nehmen Kontakt auf zu drei Kindern in der Gruppe. Wenn die fünf Monate alt sind, dann nehmen sie zu fünf Leuten Kontakt auf. Wenn sie acht sind, mit acht Leuten usw.

Koschka: Das ist die Faustregel?

Irma: Na ja, das war unsere eigene Regel. Die Kinder organisieren sich selber und schaffen sich ihren sozialen Raum. Und das wird den Kindern heute abgesprochen. Dann wird gesagt, Kinder brauchen zwei Bezugspersonen. Das stimmt vielleicht für die ersten zwei Monate, aber danach nicht mehr. Bei uns saßen die Kinder beim Essen mitten auf dem WG-Tisch in Wippstühlchen. Und wenn wir geredet haben, dann hat das Kind, obwohl es nicht sprechen konnte, immer mitgeredet – mit den Händen. Ich denke, weil die Leute nicht mehr in diesen Situationen leben, sehen sie auch nicht mehr diese Potenzen von Kindern. Und daraus kommt dann die Ideologie, Kinder seien so eingeschränkt. Aber Kinder sind nicht eingeschränkt, sie leben so eingeschränkt.

Charlotte: Das ist wirklich sehr verschüttet. Wir sind ja heute nicht gegen kollektiveres Zusammenwohnen, aber es scheint wie eine sehr große Hürde. Wo das noch geht, ist in Hausprojekten. Dabei klingt es eigentlich ziemlich einfach, wenn du davon erzählst.

Koschka: Die meisten Mütter, die ich kenne, sind auch mit dem Vater zusammengezogen und es wird die klassische Kleinfamilie praktiziert. Die Einzelne fühlt sich dann meistens sehr auf sich alleine gestellt und führt einen großen Kampf. Sie sind meistens ziemlich an der Grenze. Ich denke mir dann, dass ich unter keinen Umständen ein Kind in die Welt setzen werde. Weil es alles, was ich versucht habe, mir aufzubauen, umschmeißen würde – das Opfer wäre mir zu groß. Aber ich finde es sehr traurig, dass es so ist.

Irma: Ja, das finde ich auch. Das ist eine schlimme Entwicklung, zu denken, ein Kind passt nicht in mein Leben, obwohl es eigentlich klasse wäre. Das hört sich nach Gebärstreik an. Ist es für euch keine Möglichkeit, sich mit anderen zusammenzutun und ein Kind großzuziehen?

Charlotte: Doch, ich würde das schon anstreben. Ich glaub, es ist nicht einfach, weil es wenig praktiziert wird. Ich möchte kein eigenes Kind, würde aber gern eins mit großziehen. Da muss man dann erst mal die Leute finden, die auch darauf Lust haben.

Irma: Der Unterschied ist, wir wollten unser Leben umkrempeln, von oben bis unten. Wir haben ja auch unser ganzes Geld in den Wohngemeinschaften in einen Topf geworfen, und dann wurde einmal umgerührt und verteilt. Wenn Leute weniger Geld hatten, war das kein Problem. Heute wohnen Leute ja eher zusammen, weil die Wohnungen zu teuer sind. Das sind ja nur ökonomische Gründe, bei uns waren es politische Gründe. Wir wollten ein neues, anderes Leben haben.

7. „Die Lohnarbeit veränderte die eigenen Bedürfnisse. nach mehr Ruhe, freier Zeit, sportlicher Betätigung, Reise, Geld ausgeben“

Charlotte: Mit Blick auf die Modernisierungsthese von vorhin kann man ja sagen, es ging eigentlich um viel mehr damals, als Frauen in die Lohnarbeit zu bringen. Wo ist dieses Mehr denn hingekommen? Was ist passiert mit den Leuten und wie hast du’s gemacht, dass du über die ganze Zeit noch weiter politisch aktiv warst?

Irma: Naja, der Nachwuchs kam nicht, weil die neue Frauengeneration dachte, es wäre jetzt gut, wir brauchen keine Frauenbewegung mehr. Wir haben Frauenhäuser, wir haben Frauen, die sich um Gewalt kümmern, usw. Und jetzt leben wir mal das Leben, das ihr uns vorbereitet habt. So habe ich das von Frauen gehört. Wir machen jetzt schöne Reisen, wir stylen uns, wir diskutieren, was wir für eine Identität entwickeln, wir machen große Feten und leben das, was ihr versprochen habt. Das, was letztendlich in den 1970er Jahren noch gar nicht so möglich war: einfach so leben und so frei sein, wie wir wollten. Ich habe oft von jungen Frauen gehört, dass der Kampf doch gekämpft ist. Wir sind doch jetzt gleichberechtigt.

Charlotte: Noch mal zur Modernisierung: Warum würdest du sagen, ist es so schwer, das aufzubrechen, dass Frauen für die Kindererziehung zuständig sind? Es gab ja schon eine große Auseinandersetzung darum. Und trotzdem hat die Modernisierung an dieser Zuständigkeit gar nicht so viel geändert. Woher kommt da diese Hartnäckigkeit?

Irma: Wenn Frauen diese hartnäckige Arbeitsteilung aufbrechen wollen heute, dann geht das nur in Wohngemeinschaften und mit Kindertagesstätten. Die Arbeit wird auf mehrere Schultern verteilt. Die Lohnarbeit hat aber viele Frauen dazu gebracht, sich eine Privatsphäre zu wünschen, wo keine Auseinandersetzungen mehr über Schutzgrenzen, Kindererziehung, Bedürfnisse und Probleme anderer usw. geführt werden müssen. Die Lohnarbeit veränderte die eigenen Bedürfnisse: nach mehr Ruhe, freier Zeit, sportlicher Betätigung, Reise, Geld ausgeben. Die Privatsphäre versprach, sich von den Verpfl ichtungen der Wohngemeinschaften zu befreien. Und wenn im neuen Heim eine Putzfrau – häufig Migrantin – angestellt wurde, ein Thema, das auch in die feministische Literatur Einzug hielt, dann schaffte frau sich eine Menge Hausarbeit vom Hals. Frau erinnerte sich auch an ihre Mutter oder Schwiegermutter und nahm diese Dienste gern in Anspruch – für uns in den Wohngemeinschaften damals undenkbar.

Charlotte: Vor dem Interview hast du in deiner Mail von der Spaltung der Arbeiterklasse geschrieben, meinst du damit diese geschlechtliche Arbeitsteilung?

Irma: Ja, genau. Bei Frauen ist die Ware Arbeitskraft nicht ganz frei, weil sie noch Kinder gebären können. Ich sag immer, sie hat einen sogenannten Arbeitsmarktabzug, weil der Gebrauchswert der weiblichen Arbeitskraft nicht vollständig zur Verfügung steht. Das hat sich bis heute nicht geändert. Wir kommen ja als Waren mit unserer Arbeitskraft auf den Markt, zwar vereinzelt, aber immer im Vergleich mit anderen Arbeitskräften, also in Konkurrenz. Wenn du jetzt sagst, du stehst dem Arbeitsmarkt 100 % zur Verfügung, weil du keine Kinder willst, dann interessiert das nicht. Wir werden ja immer mit anderen Arbeitskräften verglichen und dann ist klar, Frauen haben Kinder und stehen nicht allzeit bereit, weil die nicht frei von ihrer Gebärfähigkeit sind, die unseren Gebrauchswert als Ware Arbeitskraft einschränkt.
Die Spaltung bestand auch darin, dass die Gewerkschafter gesagt haben, Schule, Erziehung und Hausarbeit sind nicht unser Thema. Überstunden, Sonderschichten, darüber wurde häufi g gestritten. Es wäre eine kleine Revolution gewesen, wenn Männer zum Meister gesagt hätten: Ich mache keine Überstunden, weil ich mein Kind von der Schule holen will, oder weil ich heute Abend zum Elternabend gehe oder weil ich meine Frau nicht alleine die Hausarbeit machen lasse. Solche Sachen meinten wir mit Spaltung.

Charlotte: Das heißt, du denkst, es gehört alles zusammen?

Irma: Genau, das sind alles Alltagsfragen. Wenn du politisch arbeitest, und dich nur auf diese betriebsbornierten Fragen beschränkst, dann schränkst du dich auch in deiner persönlichen Entwicklung ein. Und das war unser Ziel, dass wir jetzt leben; die persönliche Entwicklung sollte im Vordergrund stehen, und deshalb begehrten die Frauen auf. Das Denken, ich mache Betriebsarbeit, ich will die Ausbeutung abschaffen, aber zu Hause bin ich Pascha, das wollten wir aufbrechen. Letztlich ging es um den Lebensgenuss für alle.

Charlotte: Wenn du auf deine Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zurückblickst, was würdest du Feministinnen jüngerer Generationen raten? Was denkst du, sind heute wichtige Felder der Auseinandersetzung?

Irma: Wir haben so ziemlich die Grenzen der individuellen Selbstbefreiung erreicht, die die bürgerliche Gesellschaft, die allgemeine Warenproduktion möglich macht. Ich hoffe, dass die junge Generation dahinterkommt und merkt, dass das ganze Gerede von Selbstbestimmung immer mehr zum Flop wird. Eine gute Ausgangsbedingung ist, dass diese Generation auf die klassischen Arbeiterorganisationen und Parteien pfeift. Wenn es aber nur beim Pfeifen bleibt, dann droht ihnen ein prekäres Lohnarbeitsverhältnis und eine mickrige Rente. Ihre Fähigkeiten, etwas zu organisieren und die sozialen Netzwerke zu benutzen, sind enorm. Das spricht für sie. Neue Organisationsformen im Sinne einer Vernetzung sind den hierarchischen alten Organisationen unbedingt vorzuziehen.
Ein wichtiges Feld der Auseinandersetzung sehe ich in der Rücknahme der „Privatisierung des Sozialen“. Das Soziale muss aus dem Marktzusammenhang rausgenommen und in demokratische Selbstverwaltung von Kommunen, Genossenschaften, Basisgruppen gestellt werden. Das geht von Kranken- und Kinderpflege, Bildung- und Sozialversicherungen bis hin zur Wasser- und Energieversorgung und dem Verkehr. Hier hätten wir dann Selbstbestimmung nicht als Flop, sondern als praktischen Lebenszusammenhang. Demokratie wird zum selbstverständlichen Bestandteil des Alltags. Ich glaube, dass hier das Schwergewicht des Kampfes um Veränderung im Sinne von sozialer Emanzipation liegen wird.

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