Torre Bela
Eine Reflexion
Gesetzt aus der Schrift Utopia. Natürlich ist das, was ich höre, im Wesentlichen völlig unbrauchbar und kein Vergleich zu dem, was ich sehe. Grândola, Vila Morena. Grândola, braungebrannte Stadt. Statt heute lieber morgen und wenn wir jetzt schon da sind, bleiben wir auch hier. Die Kamera blickt euch an, blickt uns nicht an. Ihr blickt sie nicht an, seid ihr da wirklich sicher? Torre Bela. Ein Landgut. Ein Olivenhain. Ausgetrocknet. Eine Landkommune. Der Revolutionsrat. Die Frau mit den Oliven.
- Zeit: 1975
- Ort: Portugal
- Personen: Thomas Harlan, Filmemacher, Schriftsteller, Aktenleser.
- Soldat. Plural.
- Frau mit Oliven.
- Alte Frau.
- Charismatischer junger Mann.
- Diverse Männer mit offenen Hemden, verschwitzt.
- Soundtrack: Grândola, Vila Morena.
- Requisiten: Rote Nelken, Filmkamera.
Wir hatten Nelken für euch. Rote Nelken. Als ihr in die Stadt gekommen seid, gaben wir euch Nelken und steckten sie in eure Gewehrläufe. Grândola, Vila Morena. Wir werden kommen und auf die Straße gehen, wenn dieses Lied im Radio ertönt. Wir haben Nelken und wir werden sie benutzen. Mit den Soldaten fängt es an. Ein Putsch? Nach mehr als 50 Jahren Diktatur. Salazar ist auf seiner Terrasse eingeschlafen. Und die portugiesischen Kolonien? Zum Scheitern verurteilte Kolonialkriege.
Torre Bela, ein Nicht-Ort, verdorrt, erst als die alte Frau, die Frau mit Oliven, der charismatische junge Mann und die Männer mit offenen Hemden kommen und das Landgut besetzten, blüht es auf. Thomas Harlan folgt ihnen auf den Spuren, sie vergessen ihn, vergessen sich im Streit, im Gefühl. Vertuschelung?
Torre Bela. Gibt es diesen Ort überhaupt? Gab es ihn vorher? Was sieht die Kamera? Gibt es diesen Ort nur, weil Thomas Harlan ihn auf Zelluloid aufgenommen hat? Seht ihr die Kamera? Ich sehe sie, aber ich weiß auch, dass sie da ist. Wenn man sich hinter einem Handtuch versteckt, dann weiß die andere Person nicht, dass du da bist. Wir sehen was, was du nicht siehst.
Torre Bela: Der schöne Turm. Dornröschenturm. Frei übersetzt ohne Portugiesischkenntnisse.
Später sitzt er da, sein Hemd ist offen, überhaupt sind von den vielen Männern viele Hemden offen, oder gleich kein Hemd da. Er erklärt, dass sie jetzt alles gemeinsam bestimmen können, bestimmen müssen. Dass es keinen gibt, der etwas zu sagen hat, der über die anderen bestimmt. Wir sind kein Kollektiv. Wir sind kooperativ. Ein Fremder, er ist neu, noch nicht von Anfang an dabei wie er. Ein Fremder fragt ihn, ob er morgen arbeiten darf und ob er noch am gleichen Abend seinen Lohn erhält, und er sagt, es gibt keine Anführer, aber er kann nun mal so gut reden und er ist so charismatisch. Hier können 33,3 Prozent der Menschen nicht lesen und schreiben. Nur wenige unter ihnen scheinen es zu können, zumindest dem nach, was sie sagen. Der Charismatische sagt: Die Arbeiterschaft muss sich endlich über die Bourgeoisie erheben! Die Arbeiter müssen sich die Produktionsmittel aneignen. Kein Ausrufezeichen, nach diesem Satz. Eine Feststellung. Keine Parole. Kein Imperativ.
Zwischen den Männern mit offenen Hemden, steht die alte Frau. Ich stehe neben ihr und sie sieht mich nicht, sieht nicht, wie ich sie sehe. In keinem Alter, werde ich so jung sein wie sie. Planung, Kooperation, Streit. Die alte Frau ruft: Nieder mit dem Faschismus. Parolen sind immer noch besser als keine, auch wenn sie nichts zur Sache beitragen. Die Männer mit offenen Hemden sind verschwitzt und hören der alten Frau nicht zu, als sie wieder ruft: Nieder mit dem Faschismus. Sie zünden sich eine Zigarette an. Hashtag: #remembranceofthingspast
Thomas Harlan folgt ihnen, als sie in das Landgut gehen. Haben sie vergessen, dass er da ist? Ist das plündern? Ja, nein. Vielleicht. Ich habe noch nie diesen Mantel gesehen, ich habe noch nie diese Schuhe getragen und dieser heilige Katholizismus ist mir suspekt. Ist das plündern? Ist das plündern, was ihr tut? Hat euch Thomas die Tür aufgemacht? Warum spielt ihr Klavier, wenn ihr es nicht könnt? Warum nehmt ihr die Bücher aus dem Regal, wenn ihr sie nicht lesen könnt? Ein Riss läuft durch die Wand. Der Putz bröckelt hinunter.
Die Kamera hat sich mittlerweile versteckt. Am Anfang, als sie am Himmel noch wie ein Vogel kreiste, sahen die Menschen auf, als sie landete. Jetzt ist die Kamera ein Teil von uns, sie streitet mit uns. Das Streiten wird zur Arbeitskultur. Alltag. Wer kocht heute? Die Frauen. Jeder Tag ist Tag des Mannes.
Diese Soldaten sind unsere Freunde und auf einer Versammlung erzählt sie wieder, es war so ein eindringliches Erlebnis, die Kamera kennt die Geschichte bereits. Die Soldaten vergruben die Oliven im Boden. Sie wollten sie der Frau nicht geben. Sie vergruben sie lieber im Boden, bevor sie ihr die Oliven gegeben hätten. Die Frau fing an, sie einzusammeln, denn was könnte man aus den Oliven nicht alles machen? Öl? Sie sammelte die Oliven auf und die anderen liefen weg, warum, weiß sie nicht mehr, die Kamera war nicht dabei, erkennt nur die Geschichte wieder. Die anderen liefen weg, aber sie blieb da, weil ihre Figur es nicht zuließ, kurz gesagt: Sie war zu dick.
Blocksatz. Die braungebrannte Erde ist kaputt, in keinem Gesicht mehr Brüderlichkeit. Ich weiß nicht, worüber sie streiten. Die Erde ist kaputt. Der Eukalyptus hat die Olivenbäume aufgefressen. Die Soldaten werden zu einem Kreis, einer Spirale, mit der es anfängt und endet. Euch stecken wir keine Nelken in den Rachen. Nach 572 Tagen ist es vorbei. Torre Bela leer geräumt. Kein ausgelebter Traum. Keine Kooperative. Panzer fahren auf und machen platt, was noch übrig war. Vielen Dank. Haben wir etwas gelernt? Wir haben gelernt, dass nicht miteinander reden auch nichts bringt und umgekehrt. Nieder mit dem Faschismus. Erst mal hat dieser Satz nichts mit der Kooperative zu tun. Erst mal. Auf den ersten Blick. Den zweiten fängt die Kamera ein. Und Thomas? Was ist deine Aufgabe? Inszenierst oder produzierst du Wirklichkeit? Was reimt sich auf Manipulation? Später, als du schon lange nicht mehr in Portugal bist, läuft dein Film in Cannes. Ein Erfolg? Ja, immerhin beabsichtigt.
Und heute? Was ist mit dem Proletariat. Reproduktion. Überproduktion? Keine Kolonien. Peripherien.
Heute sagen sie: Wir haben keine Nelken für euch, wir haben nur Verachtung. Vielen Dank ihr Soldaten, eure Waffen werden unsere sein und uns am Ende besiegen. Gesetzt aus der Schrift Utopia. Sie war kurz da, jetzt ist sie wieder weg. Vielleicht hat die Kamera sie eingefangen.
Der Text ist eine Reflexion auf den Dokumentarfilm Torre Bela von Thomas Harlan. 1975 in Portugal während der sogenannten „Nelkenrevolution“ aufgenommen (besser und weniger verklärend zu bezeichnen als „PREC“ - Processo Revolucionário Em Curso, Anhaltender Revolutionärer Prozess). 1977 Uraufführung des Films in Cannes. Nach mehr als 50 Jahren Diktatur in Portugal, Krieg in den Kolonien, stürzt die „Bewegung der Streitkräfte“ (MFA) am 25. April 1974 das faschistische Regime. Die roten Nelken, die die Bevölkerung als Zeichen der Zustimmung den Soldaten in die Gewehrläufe stecken, geben der Revolution ihren Namen und brennen sich als Bild in das kollektive Gedächtnis ein. Ein Jahr später besetzen arbeitslose Tagelöhner_innen aus den umliegenden Dörfern das Landgut Torre Bela. Thomas Harlan, der eigentlich einen Film über den portugiesischen Revolutionsrat drehen wollte, eilt nach eigenen Worten mit der Kamera nach Torre Bela. Dessen Besetzung ist Teil einer Praxis, die sich im ganzen Land verbreitet: Die Aneignung von Land und Bildung von Kooperativen. „Fabrikherren und Manager wurden von Arbeiter_innen gekidnappt; riesige, von abgehauenen Faschisten hinterlassene Villen und Palais füllten sich rasch mit zahlreichen armen Familien aus dem ungeheuren Slum-Gürtel um Lissabon“ (Ricardo Noronha). Ein Jahr später wird Torre Bela von der Armee geräumt; dies gilt manchen als Ende der „Nelkenrevolution“. Der Film stellt die Arbeiter_innen beim Versuch dar, eine Kooperative zu bilden, zeigt sie im Streit, bei Plena, bei der Organisation von Essen.
Thomas Harlan, Filmemacher und Schriftsteller, ist leider vor allem als Sohn Veit Harlans, dem Jud Süß-Regisseur, bekannt. Dieses Verhältnis prägte sein Schaffen sowohl in seinen Romanen Heldenfriedhof und Rosa als auch im Film Wundkanal. Er arbeitete in den 60er Jahren eng mit dem Staatsanwalt Fritz Bauer und der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg zusammen. Postkoloniale und linke Kämpfe außerhalb Deutschlands lagen ebenso in seinem Interesse, wie die Filme Torre Bela und Souvenance, der auf Haiti spielt, zeigen.
Bettina Wilpert begegnete Torre Bela im Rahmen einer Thomas Harlan-Filmreihe im Wohn- und Kulturprojekt B12 und als Mitorganisatorin der translib Veranstaltungsreihe „Krise & Revolution in Portugal”. Der Text ist der Versuch, der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema eine literarische Perspektive hinzuzufügen. Sie studiert Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, zuvor Kulturwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik in Potsdam und Berlin. Sie schreibt u.a. für das Missy Magazine und die testcard und streitet sich bevorzugt auf Plena.