Lore Chevner

Der konkrete Mann

Oder: Soll man Männer als Männer kritisieren? - Eine Szene

Dienstagabend in einer mittelgroßen Stadt. Kelly und Andra haben sich in ihrer Hauskneipe verabredet. Der Raum ist schon gut gefüllt, ein zugiger Ecktisch neben der Tür aber noch frei und die beiden Genossinnen setzen sich. Der Tresen ist von einer Gruppe männlicher Solitäre besetzt, deren Regungslosigkeit den Anschein macht, sie wären am Mobiliar festgewachsen. Immerhin, es läuft No Cities to Love von Sleater Kinney und das Bier schmeckt. Kelly und Andra beobachten eine Weile schweigend den Barmann, der zwischen den Tischen, Biergläsern und Tresen-Philosophen hin und her wuselt.

ANDRA: Ich muss zugeben, dass mich der Anblick eines Mannes, der für andere Leute die Bedienung macht, mit Befriedigung erfüllt.

KELLY: Bitte was? Der arme Kerl! Der kriegt doch bestenfalls 8,50 die Stunde, genau wie alle in dieser Stadt. Also mich erfüllt der Niedriglohnsektor alles andere als mit Befriedigung.

ANDRA: Aber es gibt einfach immer noch zu wenig putzende, abwaschende, bedienende Männer. Bei uns gab‘s heute großen WG-Knatsch deswegen: Daniel wollte mal wieder nicht einsehen, dass wir, seine weiblichen Mitbewohnerinnen, die ganze Zeit hinter ihm her putzen und hat jegliche Verantwortung mit dem zweifelhaften Argument von sich geschoben, dass ihn der Dreck sowieso nicht stört. Ist ja auch erklärlich, hat ja früher immer alles Mama gemacht.

KELLY: Ziehst du schon wieder gegen einzelne Exemplare der männlichen Spezies zu Felde? Dass ich davon nichts halte, weißt du ja.

ANDRA: Okay – willst du streiten?

KELLY: Ich wär bereit!

ANDRA: Na dann - Take arms! Also, gemessen daran, was sonst so unter Gesellschaftskritik verstanden wird, ist die Kritik eines individuellen Putzverhaltens natürlich ziemlich dirty. Da werden keine abstrakten Kategorien mit heroischem Gestus aus dem Handgelenk geschüttelt und keine Gesellschaftsentwürfe für ein ungewisses Später entwickelt. Es handelt sich um eine sehr konkrete Kritik des Alltagslebens und seiner Zeitgenossen.

KELLY: Ich finde deine Kritik alles andere als „konkret“. Im Gegenteil, du presst einzelne Personen in allgemeine Schubladenund bedienst auch noch uralte Geschlechterklischees: „Alle Männer können nicht putzen.“ Und folglich alle Frauen auch nicht einparken? Du beklagst die Geschlechtertrennung und gehst gleichzeitig ganz selbstverständlich von ihr aus. Wozu die Klage, wenn sich angeblich sowieso nichts ändern kann? Im Übrigen putzt mein männlicher Mitbewohner am meisten von uns allen und hat sogar noch einen Putz-Job.

ANDRA: Aber diese „Geschlechterklischees“ sind doch Realität! Natürlich gibt es auch ein paar putzende Männer, seit im Spätkapitalismus eine gewisse Lockerung der Geschlechterrollen stattgefunden hat. Aber Staubsaugen, sich um andere kümmern, die Freundin trösten, den Familienalltag managen, die Arzttermine der Kinder im Blick behalten, in der Zweierbeziehung Probleme ansprechen usw. – das wird doch alles nach wie vor hauptsächlich von Frauen erledigt. Das patriarchale Geschlechterverhältnis ist weder überwunden noch schwebt es als unsichtbare Abstraktion über unseren Köpfen. Es geht durch uns durch!

KELLY: Das heißt aber nicht, dass wir ganz und gar deutbar wären durch den Verweis auf Geschlecht, auf Herrschaftsverhältnisse überhaupt. Da sind so viele biographische Brüche, so viele individuelle – meist gescheiterte, selten geglückte – Versuche in der Geschichte, mit diesen Herrschaftsverhältnissen irgendwie umzugehen. Und das gilt für Frauen genauso wie für Männer.

Sie gibt dem Barmann ein Zeichen, dass er ihre mittlerweile leeren Gläser durch volle eintauschen soll.

Die Realität lässt sich nicht erklären, indem man sie mal eben in „typisch männlich/ typisch weiblich“ unterteilt. Solch eine Argumentation übersieht z.B. komplett die konkreten Formen weiblichen Handelns in der Geschichte, die ja da waren und sind, trotz oder gerade wegen der Degradierung der Frau zum passiven Anhängsel. Sie übersieht meinen Mitbewohner. Und was das Schlimmste ist: Sie übersieht mich. Ich bin sehr unordentlich, komme – was meine Kochkünste angeht – über Nudeln mit Tomatensoße kaum hinaus und repariere leidenschaftlich gerne Fahrräder. Bin ich dadurch etwa keine Frau?

Der Barmann stellt geräuschlos zwei neue Biere auf den Tisch und räumt die leeren Gläser ab.

ANDRA: Aber es geht doch nicht um individuelle Vorlieben, Talente usw.! Natürlich fallen die nicht immer und überall mit den Geschlechtscharakteren in eins. Viel entscheidender ist doch die gesellschaftliche Wahrnehmung: Eine Frau, die gut kochen kann, ist nicht der Rede wert, bei einem Mann gilt dasselbe als außergewöhnlich. In der Folge erntet Papa dann die Lorbeeren für den Weihnachtsbraten oder wird gleich Fernsehkoch, während Mama das unspektakuläre Tagesgeschäft erledigt: Essen machen von Montag bis Samstag, das Faschingskostüm fertig basteln, ein Geschenk für den Kindergeburtstag besorgen und der Schwiegermutter zum Geburtstag gratulieren. So war es zumindest bei mir.

KELLY: Okay, da stimm ich dir ausnahmsweise zu! Frauen wird ohne mit der Wimper zu zucken unterstellt, dass sie wahnsinnig gut darin wären, etwas für andere zu tun und dass sie das obendrein auch noch wahnsinnig gerne machen. Am hartnäckigsten hält sich dieses Gerücht ja im Zusammenhang mit Mütterlichkeit. Wehe, eine wagt es zu erwähnen, dass sie die Selbstaufgabe für die süßen Kleinen manchmal ganz schön nervig findet! Überhaupt glaube ich, dass sich das, worüber wir hier reden, nochmal extrem zuspitzt, sobald Kinder ins Spiel kommen.

ANDRA: Ja, die Kleinfamilie ist nach wie vor der Gipfel der Verhältnisse …

KELLY: Aber nochmal zurück zur unterschiedlichen Bewertung von Verhaltensweisen je nach Geschlecht: Ich beobachte diesen „double standard“ nicht nur „da draußen“ in der rauen Gesellschaft, sondern auch in feministischen Kreisen und nicht zuletzt: in mir. Zum Beispiel dann, wenn ein Mann, der hilflos seinen Freundinnen das Küchenfeld überlässt, in mir Häme und ein allzu schnelles Urteil weckt: „War ja klar, er kann es nicht!“ Würde eine Frau das Gleiche tun, wäre das für mich viel weniger aufgeladen, vielleicht fast subversiv: „Toll, da schlägt eine ihrer gesellschaftlichen Rolle ein Schnippchen und lässt das Spiegelei anbrennen.“ Auch hier laufen die Unterstellungen heiß, nur diesmal in feministischer Absicht: „Alle Frauen hassen Putzen, und während sie es doch tagtäglich tun, weil die Männer sich verweigern oder zu blöd sind, keimt in ihnen das revolutionäre Aufbegehren.“ Ich muss sagen, solch romantische Vorstellungen decken sich recht wenig mit meinen Beobachtungen der Realität. Und hier bin ich wieder bei meinem Argument: Das Verhalten einer Person als „männlich“ oder „weiblich“ zu kritisieren, wird den Einzelnen samt ihrer Geschichte überhaupt nicht gerecht.

ANDRA: Das ist aber nicht dem Feminismus anzukreiden, sondern den gesellschaftlichen Verhältnissen. Dass Frauen angesichts einer über 2000-jährigen Patriarchatsgeschichte misstrauisch reagieren, wenn Männer sich bei der Hausarbeit dumm anstellen, ist wohl kaum zu vermeiden. Das sind Widersprüche, die man nicht individuell auflösen kann.

KELLY: Gerade deshalb frage ich mich ja, was es bringt, die eigene Kritik ausschließlich aufs Individuelle zu richten, so wie es die Kritik am konkreten Mann tut. Man kann keinen Einzelnen verantwortlich machen für seine Sozialisation, und noch weniger für die 2000-jährige Geschlechtergeschichte.

ANDRA: Aber man kann die Verantwortung einfordern, was zu verstehen, die eigene Geschlechtersozialisation zu reflektieren! Als Mann wird man von klein auf dazu erzogen, selbstverständlich Raum einzunehmen, unbekümmert zu monologisieren und derart auf die eigene Freiheit und Individualität zu pochen, dass dem (weiblichen) Gegenüber nur noch die Position der Reagierenden bleibt. Männer müssen sich endlich gewahr werden, dass es für Frauen nie so einfach war, dass Frauen eine ganz andere Geschichte haben, in der Selbstermächtigung viel weniger selbstverständlich vorkommt. Ich fordere darum alle Männer auf, sich ihrer Gewordenheit bewusst zu werden! Und sich zu verändern!

Wer Kritik am konkreten Mann übt, darf von der konkreten Frau nicht schweigen!

KELLY: Okay, aber das gilt genauso für die Frauen! Die müssen sich auch mal dringend verändern: Frauen sorgen sich penetrant um ihre männlichen Freunde, wenn die ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen und nehmen den Männern das Baby aus dem Arm, weil sie es ihrer Meinung nach besser beruhigen können. Frauen müssen endlich die identitäre Rolle der mütterlichen Kümmerin fahren lassen! Denn dass ihnen diese Funktion gesellschaftlich zugewiesen wird, ist die eine Seite der Medaille; dass sie sich diese Rolle auch ganz gern selbst anziehen, die andere. Der gezielte Seitenhieb in Richtung des männlichen Gegenübers, dass man – im Gegensatz zu ihm – penibel auf den regelmäßigen Obstverzehr des gemeinsamen Kindes achtet, hat was von gewiefter Machtdemonstration auf alteingesessenem Terrain.

ANDRA: Aber bei uns zu Hause würden bestimmte Sachen einfach nicht passieren, wenn ich‘s nicht immer machen würde. Dass ich da mal sauer werde, ist doch nur gerecht. Wenn die Kinder kein Pausenbrot dabei haben, ist das doch auch keine Lösung.

KELLY: Keine Lösung, aber ein Signal! Statt dieser ständigen mütterlich-passiven Kontrolle würde ich vorschlagen vielleicht einfach mal das Unglück kommen zu lassen und zu gucken, was dann passiert?!

ANDRA: Dann haben sie eben mal kein Pausenbrot dabei?

KELLY: Könnte sein! – Jedenfalls schreibt meiner Meinung nach die Kritikerin am konkreten Mann diese alteingesessene, weibliche Rolle der Handlungsunfähigen – unter veränderten Vorzeichen – fort, wenn sie z.B. mit befreundeten Feministinnen in stumm-beleidigter Eintracht schwelgt, weil der-und-der mal wieder endlos monologisiert hat. Ich fordere also: Wer Kritik am konkreten Mann übt, darf von der konkreten Frau nicht schweigen!

ANDRA: Aber Frauen reflektieren doch sowieso die ganze Zeit über sich und ihr Geschlecht: Als Mangel zur männlichen Norm saugen sie die Selbstkritik schon mit der Muttermilch auf. Als Feministinnen denken sie in unzähligen Lesekreisen und Gender-AGs über geschlechterbezogene Formen der Ich-Werdung nach. Männliche Teilnehmer sucht man dort vergeblich. Also lass mir die Frauen aus dem Spiel!

KELLY: Das klingt für mich zu sehr nach Stillstand. Und nach Zementierung der Verhältnisse. ANDRA: Nein. Nach Verweigerung.

Schweigen. Beide starren eine Weile auf die abgestandene Brühe in ihren Gläsern. Die Musik ist mittlerweile aus. Plötzlich ist von draußen das Geräusch eines herannahenden, scheppernden Motors zu hören, der direkt vor der Kneipe abgewürgt wird. Kurz darauf fliegt die Tür auf und eine Frau mit wehenden Haaren und Jeansjacke stürmt auf die beiden Genossinnen zu.

ANDRA: Endlich! Meine Sekundantin! Vielleicht kann sie‘s dir ja erklären. Freya, wie schön, dass du‘s noch geschafft hast!

FREYA: Entschuldige, dass ich so spät bin! Morgen ist Redaktionsschluss im Sender und mein guter alter Wagen ist auch nicht mehr der schnellste. Zu Kelly: Oh, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt: Ich bin Freya Lombardi.

KELLY: Kelly. Freut mich! Und du übst dich also auch in der „konkreten“ Kritik als feministisches Kampffeld?

FREYA: Das kann man wohl sagen! Seit 1983.

KELLY, ANDRA: Mein Geburtsjahr!

FREYA: Auslöser war ein immens emotionales Tohuwabohu mit meinem damaligen Geliebten Traugott…

KELLY: Oha! Nächstes Level: Thema Zweierbeziehung!

ANDRA: Aber davon reden wir doch die ganze Zeit!

FREYA: … eigentlich ein offener und fortschrittlicher Typ, politischer Aktivist und Menschenrechtsanwalt, kümmert sich zweimal wöchentlich um seine kleine Tochter und bemüht sich um ein offenes Verhältnis zu meiner Freundin Irmtraut, mit der er vor mir zusammen war. Und er findet es völlig normal, dass ich mein eigenes Leben habe, meinen Beruf, meine Zeitplanung, meine Freunde. Das war für mich damals nicht so selbstverständlich, gemessen an meinen vorherigen Beziehungen. – Und eines Tages macht sich Traugott einfach aus dem Staub, geht zurück zu Irmtraut und verweigert fortan das Gespräch mit mir. Und ich sitze zu Hause und zermartere mir den Kopf darüber, was ich nur falsch gemacht habe.

KELLY: That‘s the dark game of love, baby …

ANDRA: Da kann ich auch Geschichten erzählen. Und die gehen alle ungefähr so: Eine Frau und ein Mann, beide unglaublich aufgeklärt und extrem gender-sensibel, nähern sich einander an. Die Frau deutet die Zuneigung des anderen als Interesse. Es entsteht so was wie Love. Die Frau hat in ihrer Sozialisation gelernt, sich auf den anderen einzustellen, wenn sie die Zeichen des Gegenübers als Interesse interpretiert. Kompromisse zu finden und sich auf den Einzelnen einzulassen gehören für sie zu jeder Art von Beziehung. Sie hat aber auch gelernt, dass sie in dieser Gesellschaft erst an der Seite eines Mannes so richtig als vollwertige Person gilt. Aus all diesen Gründen ist sie an einer verbindlichen Beziehung mit dem Mann interessiert oder demgegenüber zumindest aufgeschlossen. – Kurze Zeit später macht der Mann Knall auf Fall einen Rückzieher. Er erklärt wenig und schiebt alles auf seine instabile Verfassung. Er sei überfordert und psychisch nicht in der Lage für was Festeres. Manchmal versteigt er sich auch in Mitleid heischende Phrasen - er wäre ja so ein schlechter Mensch usw. Die Wahrheit ist: In dem Moment, in dem alles auf eine ernsthafte Bindung hinaus zu laufen scheint, sieht er plötzlich seine Freiheit bedroht. Sein Ich-Entwurf ist derjenige eines autonomen Solitärs, der Spaß will, aber kein Miteinander. Die Frau ist die Gelackmeierte.

KELLY: Klingt wie ein schlechter Film.

FREYA, ANDRA: Ist aber die Realität.

FREYA: Jedenfalls wollte ich mich mit der Rolle der ausgelieferten Verlassenen irgendwann nicht mehr abfinden. Ich las Michael Kohlhaas, ging zu Traugott und forderte mein Recht auf eine Reaktion von ihm. Ich wollte raus aus der schambesetzten Isolation und nahm Kontakt auf zu Irmtraut und Traugotts Ex-Freundinnen. Ich wollte Solidarität unter den sitzengelassenen Frauen! Und ich wollte nicht länger hinnehmen, dass das, was wir in der Gesellschaft Liebe nennen, für die Frauen allzu oft mit Selbstzerfleischung und dem Gefühl der Mangelhaftigkeit endet. Letztendlich hat die Konfrontation nichts am Verhältnis zwischen Traugott und mir geändert. Er stahl sich mit Schweigen, Stammeln und Selbstmitleid aus der Affäre. Die mir gegenüber eingeforderte Freiheit bestand nun darin, dass er von einer Beziehung zur nächsten tingelte. Schließlich benannte er sich um in Wilfried und wanderte mit seiner aktuellen Liebschaft nach Lateinamerika aus. Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist.

Alle gucken wieder gedankenverloren in ihre leeren Gläser. Aus der Anlage ertönt jetzt Freiheit aus einem Männermund von den Lassie Singers.

ANDRA singt mit: # In der Sache war nun irgendwie der Wurm drin Das lässt sich nicht anders sagen # Du hattest das „F-Wort“ ausgesprochen # Das kann doch kein Mensch ertragen # Warum ich so überreagierte # Scheint dir mit Rätseln behaftet # Warum du von was faselst was du a priori hast # Und gar nicht verkraftest # Kann ich nicht verstehn # Vielleicht liegt’s im Gen

KELLY steigt mit ein: # Ich kann ja nichts dafür # Und auch dich trifft keine Schuld # Ich kann ja nichts dafür # Es ist eine allergische Reaktion # Es ist ein rein körperlicher Entschluss, # Dass ich jedes Mal, wenn ich das Wort „Freiheit“ # Aus einem Männermund höre, # Kotzen muss.

FREYA währenddessen: Immerhin war ich eine andere geworden. Weil ich nicht nachgegeben hatte und mich nicht mehr als Opfer fühlte, sondern als eine, die ihr Recht einfordert, die handelt. Dieser Part ist in der Geschichte für Frauen ja nicht vorgesehen. Das war ein großer Schritt für mich. Und auch für die weibliche Menschheit.

KELLY: Bestenfalls für die heterosexuelle weibliche Menschheit! Wer immer nur was mit Männern hat, kann auch nur von Männern sitzengelassen werden. Das Bild von Weiblichkeit, das ihr hier zeichnet, hat schon wieder nichts mit mir zu tun.

ANDRA: Aber die Gesellschaft, die Produktionsverhältnisse sind nun mal heterosexuell organisiert.

KELLY: Das ist schon wieder eine deiner voreiligen Verallgemeinerungen! Die Spaltung in „männlich“ und „weiblich“ ist doch nicht ausschließlich an „Männer“ und „Frauen“ gekoppelt, sie geht heutzutage durch uns alle durch. – Ach, wir drehen uns im Kreis! Jetzt sind wir wieder bei meinem putzenden Mitbewohner angekommen. Jedenfalls zeigt sich hier nochmal das Problem mit der Kritik am konkreten Mann. Sie setzt an der Erfahrung an und die ist vor allem individuell. Mit Erfahrung kann man nicht die Wahrheit fassen.

ANDRA: Wenn mehrere eine ähnliche Erfahrung machen, schon! Den Frauenbewegungen diente die eigene Erfahrung immer als Ausgangspunkt für die Selbstbewusstwerdung und den Austausch mit anderen Frauen. Eben weil Frauen nicht auf die Welterklärungen in den Geschichtsbüchern zurückgreifen konnten, in denen sie ja nicht vorkommen. Von ihrem Erfahrungsaustausch leiten Frauen verallgemeinernde Forderungen und feministische Prinzipien ab. Voilà! All das bringt die Kritik am konkreten Mann!

Klirren am Nachbartisch. Ein Stuhl kracht um. Eine blasse Frau ganz in Schwarz hat sich zu den Genossinnen umgedreht und ruft mit dröhnender Stimme:

Mir reicht‘s jetzt!

FREYA: Bitte nicht die! Die hat mich schon früher so genervt!

KELLY aufgekratzt: Jetzt geht‘s von vorn los! Zum Barmann: Neue Runde!

ANDRA: Nanu, hast du etwa auch eine Sekundantin eingeladen?

Kelly grinst vielsagend. Der Barmann stellt vier neue Biere auf den Tisch und fegt dann die Scherben des von der Frau in Schwarz zu Bruch gegangenen Glases auf.

Anstatt die gesellschaftlichenProduktionsverhältnisse zu kritisieren, geht es dem Feminismus heute nur noch um individuelle Identitätsspielchen.

DIE FRAU VOM NEBENTISCH: Ich brauche keine Einladung! Weder von verbittert-hilflosen Frauengruppen noch vom Staat. Wenn mir was nicht passt, sag ich‘s! Zum Beispiel jetzt: Dieses ewige Durchforsten der privaten Beziehungen zwischen Männern und Frauen, dieses Herumkramen in der persönlichen Dreckwäsche – das ist keine politische Strategie. Sondern ein Rückschritt ins Private, worauf das Weibliche schon immer reduziert wurde! Das hab ich dir schon damals gesagt, Freya! Und auch der Frauenbewegung. Weil ihr das nicht hören wolltet, gibt es heute keine Frauenbewegung mehr, dafür einen riesigen Markt an Beziehungsratgebern und Kommunikationstrainern, die zu noch härterer Arbeit am Selbst drillen. Als würde das nicht schon der Kapitalismus zur Genüge tun. Anstatt die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse zu kritisieren, geht es dem Feminismus heute nur noch um individuelle Identitätsspielchen. Aber die Gesellschaft wird sich weder durch gewaltfreie Kommunikation in der Zweierbeziehung noch durch die Umwandlung bürgerlicher Kleinfamilien in post-bürgerliche Hausprojekte wirklich ändern.

FREYA: Du irrst dich, Schwarze Botin!

ANDRA: Die Schwarze Botin!

FREYA: Mit einem Mann über sein patriarchales Verhalten zu diskutieren, ist sehr wohl eine politische Strategie. Und das hab ich dir auch schon vor 30 Jahren gesagt.

KELLY: Also für mich sind individuelle Streits zwar nicht wirklich politisch. Aber ich sehe ein, dass es nach wie vor notwendig ist, die Geschlechterkonflikte im Privaten auszufechten. Um sich als Frau ihrer selbst und den sie hemmenden Mechanismen bewusst zu werden. Um die Männer zur Sensibilisierung aufzufordern. Und um eben nicht hinzunehmen, dass eine Veränderung des Geschlechterverhältnisses angeblich erst in der Zukunft angegangen werden kann.

ANDRA: Jetzt kommst du der Sache langsam näher!

DIE SCHWARZE BOTIN zu FREYA: Und ich kann‘s nicht mehr hören. Wahrscheinlich hab ich solche Diskussionen einfach zu oft geführt.

FREYA: Ich kann‘s eigentlich auch nicht mehr hören. Aber wir müssen uns wohl eingestehen, dass wir diese ganzen Fragen nicht wirklich gelöst haben.

Offensichtlich sind die Errungenschaften des Feminismus nach wie vor derart brüchig und randständig, dass sich jede Generation von Feministinnen mit ähnlichen Fragen rumschlagen muss.

DIE SCHWARZE BOTIN: Natürlich nicht, sonst würden wir ja längst in einer anderen Gesellschaft leben!

FREYA: Fang nicht wieder davon an. Aber es stimmt, offensichtlich sind die Errungenschaften des Feminismus nach wie vor derart brüchig und randständig, dass sich jede Generation von Feministinnen mit ähnlichen Fragen rumschlagen muss.

Es ist schon ziemlich spät. Der Barmann weist die letzten Tresen-Solitäre mit freundlicher Nachdrücklichkeit an zu gehen. Schwerfällig und murrend kommen sie der Aufforderung nach. Schließlich kassiert er auch die vier Frauen ab. Alle sind jetzt schon ziemlich angetrunken. Im Rausgehen:

KELLY: Wobei ich doch sagen muss, dass nicht mehr alles so ist wie in den Achtzigern. Dass ein Mann Anstoß nimmt, wenn eine Frau selbst über ihr Leben entscheidet, gibt es heute nicht mehr in dem Maß, wie du es beschrieben hast, Freya. Zumindest nicht in unseren Kreisen. Vielmehr seh ich die Männer hier auch ganz schön am Hadern: mit der unnachgiebigen Härte des Neoliberalismus, mit ihrer männlichen Rolle und mit der Ahnung, dass diese Rolle sie auch ein Stück weit in Widerspruch bringt zum Feminismus, den sie ja befürworten. Heutzutage ein Mann zu sein stell ich mir auch nicht gerade leicht vor …

ANDRA, FREYA: Eine Runde Mitleid!

ANDRA: Klar, die Kritik am konkreten Mann ist nichts, was immer wieder hervorgeholt und einfach nochmal aufgewärmt werden kann. Sie muss aktualisiert werden! Und gerade für unser Milieu stell ich diverse Formen fest, in denen das Patriarchat fortlebt.

FREYA, DIE SCHWARZE BOTIN: Ach ja, welche denn?

ANDRA: Wenn mir ein Mann z.B. erklärt, wie Feminismus geht.

KELLY: Das kenn ich! Imitiert männlichen Sprecher: „Über Geschlecht müssen wir hier nicht reden, wir sind ja alle schon emanzipiert.“

ANDRA imitiert auch männlichen Sprecher: „Sorry, aber du hast gerade gar nicht gegendert. Du musst schon explizit machen, dass du auch Frauen mitmeinst.“

KELLY: „Lass dir mal von meinen feministischen Freundinnen ne Einführung empfehlen.“

ANDRA: „Sei nicht immer so auf mich fixiert, emanzipier dich erstmal!“

FREYA unterbricht sie: Schätzchen, da muss ich dich enttäuschen. Gerade dieses „Argument“ gab‘s schon zu meiner Zeit. Meine erste große Liebe hat mich aus unserer gemeinsamen Wohnung rausgeschmissen mit der Begründung, ich solle erst mal meine eigenen Erfahrungen sammeln.

KELLY: Du kennst das auch? Und ich hab mich immer gegen die Behauptung gewehrt, dass alles an mir von früher, von meiner Mutter oder von was weiß ich woher kommen würde …

DIE SCHWARZE BOTIN: Na ja, nicht alles …

FREYA: … aber manches, Schätzchen. Ihr findet‘s schon noch raus! Ich muss jetzt sowieso wieder los, in fünf Stunden hab ich den ersten Termin.

DIE SCHWARZE BOTIN: Ich geh jetzt auch.

FREYA: Soll ich dich irgendwohin ein Stück mitnehmen?

DIE SCHWARZE BOTIN: Nein, ich lauf lieber.

FREYA: Na dann, hat mich gefreut.

ANDRA, KELLY: Ja, danke für den interessanten Abend!

FREYA: Und wenn mal wieder was sein sollte, schickt mir einfach ne Nachricht über WhatsApp. Ciao!

Sie hastet zu ihrem Auto und düst davon. Andra und Kelly schauen ihr nach. Als sie sich umdrehen, ist auch die Schwarze Botin verschwunden. Die Genossinnen gucken sich fragend an.

KELLY: Wie ist denn jetzt eigentlich euer WG-Streit ausgegangen?

ANDRA: Wir haben‘s ausdiskutiert. Und haben auch sehr viel darüber geredet, was wir von klein auf so mitbekommen haben und was nicht. Dass Frauen und Männern unterschiedliche Skills anerzogen wurden, ist ja nicht nur schlecht. Man kann ja auch viel voneinander lernen.

KELLY: Wunderbar! Eine Versöhnung im Kleinen!

ANDRA: Sei nicht so schnippisch! Bei den Alltags-Konflikten gibt es wenigstens ansatzweise die Chance auf eine Lösung. Diese ganzen Widersprüche hält doch kein Mensch aus.

KELLY: Da hast du auch wieder Recht. Aber deine Kritik am konkreten Mann teil ich deswegen noch lange nicht!

ANDRA: Ich deine zweifelhaften Gegenargumente auch nicht.

KELLY: Hey, in der neuen Kneipe da drüben brennt noch Licht.

ANDRA: Let‘s go!


Freya Lombardi ist die Hauptfigur aus Helke Sanders Film Der Beginn aller Schrecken ist Liebe von 1983. Die von Freya eingenommene Position, dass für eine feministische Politik Solidarität unter Frauen und die politische Betrachtung der privaten (Liebes)Beziehungen nötig sei, findet sich in radikalisierter Form auch in Helke Sanders Artikel Über Beziehungen zwischen Liebesverhältnissen und Mittelstreckenraketen, Courage Nr. 4/1980.

Die Schwarze Botin war eine feministische Zeitschrift, die u.a. von Brigitte Classen, Gabriele Goettle und Elfriede Jelinek von 1976 bis 1987 in West-Berlin herausgegeben wurde. Mit ihrem Aufruf zum Boykott der ‘Emma’, der Kritik an einer essentialistischen Frauensolidarität und ihrem Eintreten für eine radikale feministische Kritik der gesellschaftlichen Totalität löste sie während der zweiten Frauenbewegung vielfach Kontroversen aus. Die im Text verwendeten Argumente finden sich u.a. in der bitterbösen Abrechnung mit der Frauenbewegung Wünsche nach Kraft durch Freude von Brigitte Classen und Uta Ruge, Die Schwarze Botin Nr. 19/1983.

Freiheit aus einem Männermund (Kotzen) ist ein großartiger Song der leider nicht mehr existierenden Band Lassie Singers (1988 – 1998).

No Cities to Love ist das aktuelle Album der Riot Girl Punkband Sleater Kinney. Es erschien im Januar 2015 und ist das erste Album nach ihrer Reunion. 2006 hatte sich die Band vorübergehend aufgelöst.

„Vielleicht einfach mal das Unglück kommen lassen und gucken, was dann passiert?“ ist der Schlusssatz des sehr lesenswerten Texts Das Unglück zurückschlagen, bevor es eingetroffen ist. Notizen zur überbordenden Brüchigkeit weiblicher Subjektwerdung von der Tagediebin, erschienen im McGuffin Kassiber #5/2014.


Dieser Artikel speist sich aus Diskussionen innerhalb der Redaktion sowie meiner Lektüre von Svende Merians Der Tod des Märchenprinzen und Arlie Rusell Hochschilds The Second Shift. Zur Gedankenschärfung verhalf mir auch ein Interview mit Karina Korecky über feministische Geschichtsschreibung beim Radiosender FSK. Durch mein Interesse für theatrale Ausdrucksformen stieß ich auf Caryl Churchills TOP GIRLS, in dem im Aufeinandertreffen historischer Frauengestalten gesellschaftliche Konflikte verhandelt werden. Auch Überschneidungen mit lebenden und toten Personen sind nicht ganz zufällig.

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