Lektüren abstreiten
Im Sommer 1990, im gerade noch unvereinten Deutschland, werden Vorwürfe gegen Christa Wolf laut, die bekannteste Schriftstellerin der DDR. An ihnen zieht sich eine Debatte um den Wert der Literatur der DDR auf, über die Rolle von Intellektuellen in der untergegangenen Gesellschaft und über bloße Geschmacksurteile. Ein Feuilletonstreit, der Literaturstreit genannt wird. Nach zwei als Rezension schlecht getarnten Polemiken gegen Christa Wolf als Autorin, die die DDR gestützt habe, folgt ein journalistischer Gegenangriff, der von einer Lawine spricht. Dass es nicht eigentlich um Christa Wolfs Erzählungen geht, ist überdeutlich. Und doch fühlen Wegbegleiterinnen und Leserinnen sie und damit auch sich selbst angegriffen. Die meisten bleiben monatelang stumm. Christa Wolf selbst äußert sich lange überhaupt nicht. Als wäre sie an die Ränder des Feldes gedrängt worden, in das sie nichts mehr zu führen vermochte. Für zu lange Zeit nichts erwiderte. Die Polemik nicht aufnahm.
Christa Wolf war geblieben. Sie hatte das Land, dem sie viel zutraute, dem sie viel verdankte, nicht verlassen. Und veröffentlichte in den Umbruchsmonaten ihre Schubladenerzählung Was bleibt – ein Tag aus der Sicht einer Schriftstellerin, die von der Staatssicherheit beschattet und zermürbt wird. Ja klar, jetzt konnte sie das veröffentlichen, die Staatssicherheit war schließlich entmachtet. Vorwurf 1. Der von Marcel Reich-Ranicki als DDR-Staatsdichterin geführten Christa Wolf gereichte nun zum Nachteil, nicht nur mehr dass, auch wie sie in der DDR gelebt hatte. Sich einmischend. Ohne aber den Staat abzuschaffen. Talentfrei und als Frau. Als Genossin. „Peinlich“ erfolgte ihr Parteiaustritt, als er keine Gefahr mehr barg. Vorwurf 2. Als müsste sie mit jedem Schritt vor den Rheindemokraten sichtbar den Ballast ihres eigenen Lebens abschütteln. Eine eigene Position, das Eingestehen von Irrtümern, die Offenheit und der Mut Stellung zu beziehen… das, was sie für viele auszeichnete, war nun abgestritten. Für viele Menschen in der DDR, insbesondere für viele Frauen, waren Christa Wolfs Texte Lebenshilfe – sie lebten in diesem verkorksten Sozialismus ihren Alltag, in dem sie sich den Arsch aufrissen, die Ansprüche ernst nahmen, ohne damit an einflussreiche Positionen zu gelangen. Sie lebten ohne Frauenbewegung. Aber mit feministischer Belletristik. Noch 2015 erzählt eine über 70jährige Schauspielerin im Gespräch, wie sie sich bespuckt fühlte von dem, was über Christa Wolf damals gesagt wurde. Als es hieß, sie sei feige und opportunistisch, komme aus ihrem eigenen Sound nicht raus (Vorwurf 3 und 4).
Für viele Menschen in der DDR, insbesondere für viele Frauen, waren Christa Wolfs Texte Lebenshilfe – sie lebten in diesem verkorksten Sozialismus ihren Alltag, in dem sie sich den Arsch aufrissen, die Ansprüche ernst nahmen, ohne damit an einflussreiche Positionen zu gelangen.
Aber es muss doch möglich sein, über Literatur zu streiten! Die durchaus brennende Frage aber, was Literatur kann und wie sie Wahrem zur Sprache verhilft, interessierte im Literaturstreit nicht.1 Es ging um die politische Einstellung der Schriftstellerin Christa Wolf, vermischt mit Geschmacksurteilen. Seitenlang ließen die Literaturpäpste und Rezensentenkönige ihre Leser*innen Anteil haben an der Langeweile und Gehässigkeit, die sich bei der Lektüre von Christa Wolf bei ihnen einstelle. Hält man die Besprechungen derselben Kritiker von Texten Elfriede Jelineks daneben, könnte man meinen: die fühlen sich nicht gemeint. Und von wem sie sich nicht angesprochen fühlen, die hat unter den Großen nichts verloren.
Auch die Frage, ob nicht alle Intellektuellen im gesamten Ostblock versagt haben, durch ihre Verwobenheit in die Gesellschaft, wurde nicht diskutiert. Sondern gestellt als ein Urteil. Von Seiten derer, die keinen Glauben hatten an etwas anderes als eine Gesellschaft des geringeren Übels. Und die der DDR mit NS-Vergleichen begegneten. Nimmt man dem Gesellschaftsversuch DDR seinen ernstgemeinten sozialistischen Gehalt, bleibt nur Muff und Unterdrückung. Und das verfehlte Leben von Menschen, die doch aber nicht nur mitgemacht und stillgehalten hatten, sondern zu denken versuchten Richtung bessere Gesellschaft. Starr vor dem Totschlaggestus der Argumente antworteten sie in diesen Monaten nicht, nicht laut jedenfalls. Christa Wolf redet 1991 endlich. Im Film Zeitschleifen sagt sie ihrer jüngeren Freundin Daniela Dahn, es sei darum gegangen, ihre Stimme auszuradieren, die sie ja immerhin erhoben hatte gegen den Weg in die Einheit. Demokratischen Sozialismus für die bessere Wahl halten: unerträglich und undankbar. Hier setzt neues Fragen an. Worum geht es: Ist der Literaturstreit ein zweiter Historikerstreit?
Marie Goldt beschäftigt sich mit Verhandlungen über die DDR nach 1990. Sie schätzt Christa Wolf als eine wache feministische Autorin, die sich selbst nicht schont.
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Anregungen zum Weiterdenken des Literaturstreits finden sich in einem Band von Karl Deiritz und Hannes Krauss: Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder „Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge“.München 1991. ↩