"Wir verlangen, dass unsere Problematik hier inhaltlich diskutiert wird"
Helke Sanders Rede vor dem SDS 1968
I. Akt: Deutschland Mitte der 60er Jahre
Einige Frauen dürfen zur Uni gehen und lohnarbeiten, so wie es dem Kapital gefällt: Für wenig Lohn und ohne Diskussion darüber, wer zurück hüpft ins Nestchen, wenn der Nachwuchs schreit. Viele Frauen machen erst gar nicht diesen Umweg (Auftritt: Frauen). Einige Menschen sorgen sich um den Zustand dieser kapitalistischen Gesellschaft und zanken sich um die Frage, ob Reform oder Revolution der Ausweg sei (Auftritt: der Sozialistische Deutsche Studentenbund). Einige Frauen nehmen Teil, beobachten und wollen ebenfalls dumpfe Verhältnisse abschütteln, erkennen aber auch: Hier wird von der Bekämpfung kapitalistischer Produktionsbedingungen gesprochen, wo vom Patriarchat geschwiegen wird. Wir müssen streiten für unsere feministische Position, um nicht als Nebenwiderspruch zu verkümmern (Auftritt: Helke Sander und der „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“1).
II. Akt: Feministischer Einwand 1968
„Wir werden versuchen, unsere Positionen zu klären, wir verlangen, daß unsere Problematik hier inhaltlich diskutiert wird.“ Es ist der 13. September 1968. Helke Sander, Mitglied des „Aktionsrates zur Befreiung der Frauen“, spricht als einzige Frau auf der 23. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Frankfurt am Main. Folgende Punkte setzt sie als zu diskutierende auf die Tagesordnung:
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Wir leben nicht nur im Kapitalismus, sondern auch im Patriarchat: „Die Frauen, die heute studieren können, haben das nicht so sehr der bürgerlichen Emanzipationsbewegung zu verdanken, sondern vielmehr ökonomischen Notwendigkeiten. Wenn diese Privilegierten unter den Frauen nun Kinder bekommen, werden sie auf Verhaltensmuster zurückgeworfen, die sie meinten, dank ihrer Emanzipation schon überwunden zu haben. (…) Dabei übernimmt der Mann die objektive Rolle des Ausbeuters oder Klassenfeindes, die er subjektiv natürlich nicht will, da sie ihm ja auch wiederum nur aufgezwungen wird von einer Leistungsgesellschaft, die ihm ein bestimmtes Rollenverhalten auferlegt.“
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Wir dürfen die Unterdrückung im Privatleben nicht als Privates begreifen, sondern als politisch und ökonomisch Bedingtes: „Die Trennung zwischen Privatleben und gesellschaftlichem Leben wirft die Frau immer zurück in den individuell auszutragenden Konflikt ihrer Isolation. Sie wird immer noch für das Privatleben, die Familie, erzogen, die ihrerseits von Produktionsbedingungen anhängig ist, die wir bekämpfen.“
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Wir müssen das Privatleben qualitativ verändern und dies als politische, als revolutionäre Aktion verstehen: „Wir wollen versuchen, schon innerhalb der bestehenden Gesellschaft Modelle einer utopischen Gesellschaft zu entwickeln. In dieser Gegengesellschaft müssen aber unsere eigenen Bedürfnisse endlich einen Platz finden.“
Sander spricht vor dem SDS, weil der „Aktionsrat“ grundsätzliche politische Ziele mit dem SDS teilt – die Bekämpfung kapitalistischer Produktionsbedingungen.
Dies müsse, so Sander, als strukturelles Problem begriffen werden: „Wir können die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen nicht individuell lösen.
Sie lädt den Verband zur Zusammenarbeit mit dem Aktionsrat ein: „Wir sprechen hier, weil wir wissen, daß wir unsere Arbeit nur in Verbindung mit anderen progressiven Organisationen leisten können, und dazu zählt unserer Meinung nach heute nur der SDS.“ Allerdings gilt ihre Rede auch der scharfen Kritik am SDS und dessen methodischen Vorgehen, dem jegliche feministische Perspektive fehlt. Der SDS sei ein Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse, da auch hier gewisse Lebensbereiche als „Privatleben“ tituliert und tabuisiert werden: Männer machen die SDS-Politik, Frauen dürfen zwar mitmachen, geraten dabei aber an ihre Grenzen, da sie wie selbstverständlich für die Erziehung von Kindern, Pflegearbeiten und Haushalt zuständig sind. Die Einflussnahme ist den Frauen in der weithin männlich dominierten Organisation kaum möglich. Dies müsse, so Sander, als strukturelles Problem begriffen werden: „Wir können die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen nicht individuell lösen. Wir können damit nicht auf Zeiten nach der Revolution warten, da eine nur politisch-ökonomische Revolution die Verdrängung des Privatlebens nicht aufhebt (…).“ Ebenso dürfe ihr Anliegen nicht als „Nebenwiderspruch“, als „Frauenfrage“ behandelt werden: „Eben weil wir der Meinung sind, daß eine Emanzipation nur gesamtgesellschaftlich möglich ist, sind wir ja hier.“ Sie schließt ihre Rede mit der Forderung nach einer feministischen Neuausrichtung der SDS-Politik als Conditio sine qua non: „Genossen, wenn ihr zu dieser Diskussion, die inhaltlich geführt werden muß, nicht bereit seid, dann müssen wir allerdings feststellen, daß der SDS nichts weiter ist als ein aufgeblasener konterrevolutionärer Hefeteig. Die Genossinnen werden dann die Konsequenzen zu ziehen wissen.“
III. Akt: Tomaten für die Ignoranz
Nur kurze Zeit später wird ihre Hoffnung, gehört zu werden, enttäuscht: Das ausschließlich männlich besetzte Gremium will ohne weitere Diskussion des Vortrags zu anderen Themen übergehen. Die Situation eskaliert, als aus dem Publikum die Studentin Sigrid Rüger ihre berühmten Tomaten auf die männlichen Vorsitzenden des SDS wirft, um zu verhindern, dass bruchlos die Tagesordnung weitergeführt wird (Auftritt Sigrid Rüger). Ines Lehmann wirft sich schützend vor den getroffenen Hans-Jürgen Krahl, Hazel Rosenstrauch hält eine spontane Verteidigungsrede für Sander und Rüger (Auftritt Lehmann, Krahl, Rosenstrauch). Einige (Männer) wischen sich vielleicht Tomatensaft von der Stirn, der genaue Tathergang ist allerdings irrelevant. Die Debatte wird vertagt.
IV. Akt: Es bahnt sich etwas an
Die damalige Rezeption der Delegiertenkonferenz in den Medien ist erstaunlich. Erstaunlich platt (Auftritt DIE ZEIT, Der Spiegel, Der Stern). DIE ZEIT sparte Sanders Rede aus der Berichterstattung komplett aus und bezog sich ausschließlich auf den Tomatenwurf der Sigrid Rüger, einer Genossin „im „prallen Umstandskleid“2, als täte ihre körperliche Verfasstheit irgendetwas zur Sache, ihr Name aber nicht. „Tomaten produzierten sozialistische Selbsterkenntnis“, schrieb der ZEIT-Journalist ignorant an Sanders Rede vorbei. Zwei Absätze später tauchte Helke Sander dann doch auf, als „fragiles Mädchen“ – Sander ist zu diesem Zeitpunkt eine dreißigjährige Frau, alleinerziehende Mutter und Sprecherin vor dem SDS! – und wurde auch noch falsch und aus dem Zusammenhang gerissen zitiert. Spiegel3 und Stern4 beschrieben den Tathergang zwar präziser, aber leider nur die unwesentlichen Details: Zahl (Spiegel – sechs! Stern – drei!) und Treffer (Spiegel – Hans-Jürgen Krahls Schlüsselbein! Stern – Hans-Jürgen Krahls Hals!) der Tomaten wurden benannt, nicht aber der politische Gehalt der Rede Helke Sanders. Hätten die Journalisten sich damit auseinandergesetzt, hätten sie gemerkt, dass es Sander mitnichten um die spezifische Unterdrückung von Frauen im SDS und eine Kampfansage ging, sondern um die Klärung der gemeinsamen Arbeitsgrundlage: „Die Zusammenarbeit hat jedoch zur Voraussetzung, daß der Verband die spezifische Problematik der Frauen begreift, was nichts anderes heißt, als jahrelang verdrängte Konflikte endlich im Verband zu artikulieren“, so Sander. Worüber die Berichterstattung der Journalisten in ihrer Faszination für Tomaten nicht informierte: Bereits am selben Tag entstanden erste autonome Frauengruppen („Die Genossinnen werden dann die Konsequenzen zu ziehen wissen“, siehe oben). Die Weigerung der SDS-Männer, Sanders Rede zu diskutieren, veranlasste viele Frauen im Verband, die eigenen Konflikt- und Widerspruchserfahrungen in den Mittelpunkt ihres politischen Handelns zu stellen (Auftritt: viele Frauen). Mit dem Slogan „Das Private ist Politisch“ bahnte sich die 2. Frauenbewegung an.
V. Akt: Tragödie oder: Man kann Schlechtes verbessern, ohne das anzutasten, was am Schlechten schlecht ist5
Heute, knapp 50 Jahre später, gibt es keine Frauenbewegung mehr, die jene Kritik aus Sanders Rede und daraus resultierende Forderungen tragen könnte. Dabei ist es keineswegs so, dass diese Probleme gelöst worden wären, im Gegenteil – vieles hat sich verschärft, weil man sich dessen nicht mehr annimmt, es als gelöst ansieht, wie post- oder antifeministische Strömungen bezeugen. Wir leben auch heute noch im Kapitalismus, dem die patriarchale Gesellschaftsstruktur zugute kommt.
Heute, knapp 50 Jahre später, gibt es keine Frauenbewegung mehr, die jene Kritik aus Sanders Rede und daraus resultierende Forderungen tragen könnte. Dabei ist es keineswegs so, dass diese Probleme gelöst worden wären, im Gegenteil – vieles hat sich verschärft, weil man sich dessen nicht mehr annimmt, es als gelöst ansieht, wie post- oder antifeministische Strömungen bezeugen.
Wer das nicht glauben will, der betrachte einfach mal die ökonomische Struktur und ideologische Verfasstheit dieser Gesellschaft, nennen wir es Basis und Überbau. An der Basis arbeiten Frauen immer noch für weniger Lohn, Frauen leisten mehr unbezahlte Reproduktionsarbeit und die „gläserne Decke“6 drückt nach wie vor. Auch heute wird mit Geschlechterbegründung ausgebeutet, unterdrückt und ausgeschlossen, und das in zunehmendem Maße – man wage zusätzlich einen Blick in das globale Elend. Nur: Das, was die frauenbewegten 70er an Lohnarbeit, an gesellschaftlicher Produktions- und Reproduktionsarbeit noch zu kritisieren wussten, wird heute so verkauft, dass es strukturell nicht mehr stört: Frauen sind doch selbst schuld, die müssen sich nur trauen! (auf die Bühne geschmissen: Ratgeberliteratur)7. Entsolidarisierung par excellence, fahr‘ die Ellenbogen aus, Schwester, und sei dabei recht sexy, denke an dein „erotisches Kapital“8. Was uns auch direkt zum Überbau führt, denn hier stinkt das Patriarchat weiter vor sich hin. Nur ein Beispiel an dieser Stelle: Macht den Bechdel-Test. Probiert das mal aus. Viel Spaß im Kino. Kommen wir zum nächsten Punkt: das Privatleben. Die Frauenbewegung hat dieses Konstrukt aufgerissen und allerlei Elend ans Tageslicht gezogen – die unentlohnte Hausfrauenarbeit, eheinterne Gewalt, Abhängigkeit vom Ehemann(gehalt). Heute, so scheint es, werden Privatleben und Familie wieder dergestalt vom Öffentlichen abgespalten, dass hier individuell getragen werden muss, was eigentlich gesamtgesellschaftlich zu verantworten wäre – die Frage nach gesellschaftlicher Reproduktion (wenn‘s schon sein muss). Und meist wird das so gemacht wie jeher: von Frauen. Vereinbarkeitsmaßnahmen, Quoten und dergleichen helfen dann dabei, Schlechtes zu verbessern, ohne das anzutasten, was am Schlechten schlecht ist, denn: „Die so verstandene Emanzipation erstrebt nur eine Gleichheit in der Ungerechtigkeit und zwar mit den von uns abgelehnten Mitteln des Konkurrenzkampfes und des Leistungsprinzips.“ (Helke Sander). Zu Sanders drittem Punkt: Versuche gibt es. Wir leben in Wohnprojekten, haben gemeinsame Haushaltskassen, strukturieren Gemeinschaftsprojekte nach unseren Bedürfnissen, sorgen füreinander über die traditionellen Familienbande hinaus. Doch diese Versuche bleiben prekär, nischenhaft und sind nicht immer so emanzipatorisch, wie wir uns das wünschen. Helke Sander hat Herrschaftsverhältnisse zur Disposition gestellt, die heute kaum noch jemand überhaupt als solche wahrnimmt. Sie wollte schlechte Strukturen nicht reformieren, sondern abschaffen. Wer will das denn heute noch?
Barbara Schnalzger thematisiert in dieser Ausgabe die – wahrscheinlich vielen bekannte – Rede Helke Sanders vor dem SDS, weil sie sich für jene Momente feministischen Einwands interessiert, in denen mehr gefordert wird als die Verbesserung einer schlechten Struktur: ihre Abschaffung. Die Autorin entschied sich für diesen Text, weil 47 Jahre seit der Rede mitsamt Tomatenwurf vergangen, die Probleme aber geblieben sind.
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Siehe Artikel Maria-Elisabeth Neuhauss, In: outside the box #5, S. 55 ↩
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ZEIT Archiv: Hermann, Kai: Was denn nun, Genossen? 1968, URL: http://www.zeit.de/1968/38/was-denn-nun-genossen (13.03.2015). ↩
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Der Spiegel 39/1968: Hü und Hott, URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45935475.html (11.03.2015). ↩
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Stern Nr. 39: Bissinger, Manfred: Tomaten für das Lustgefühl, 1968, S. 32 ff, URL: http://de.scribd.com/doc/239557991/Manfred-Bissinger-Tomaten-fur-das-Lustgefuhl-Stern-Nr-39-29-Sept-1968-S-32-34-pdf#scribd (11.03.2015). ↩
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Kirchner, Barbara: Dämmermännerung. Neuer Antifeminismus, alte Leier, Hamburg, 2014, S. 9. ↩
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2013 waren nur 11,3% der C4-Professuren von Frauen belegt, siehe Statistisches Bundesamt, URL: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/BildungForschungKultur/Hochschulen/Tabellen/FrauenanteileAkademischeLaufbahn.html (12.02.2015). ↩
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Stern Nr. 39: Bissinger, Manfred: Tomaten für das Lustgefühl, 1968, S. 32 ff, URL: http://de.scribd.com/doc/239557991/Manfred-Bissinger-Tomaten-fur-das-Lustgefuhl-Stern-Nr-39-29-Sept-1968-S-32-34-pdf#scribd (11.03.2015). Sandberg, Sheryl: Lean in. Frauen und der Wille zum Erfolg, Berlin, 2013. ↩
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Catherine Hakim: Erotic Capital, in: European Sociological Review 26, 2010. ↩