Haken des Mutterkreuzes
NS-Geburtenpolitik als Gegenstand der postnazistischen Geschichtsklitterung
Die Deutschen bekommen nicht genug. Anstatt sich zu freuen, so glimpflich mit der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden davongekommen zu sein, versuchen ihre mutigen Repräsentantinnen und Repräsentanten alle Jahre wieder, das einzufordern, was sich so viele still wünschen: auch einmal die guten Seiten des Nationalsozialismus würdigen zu dürfen. Die letzte Meinungsmärtyrerin war Eva Herman, die sich der Empörung der öffentlichen Vergangenheitsbewältigung wie des Dankes der schweigenden Mehrheit sicher sein konnte. Weit interessanter als Hermans Äußerungen waren die Reaktionen dieser überaus mitteilungsbedürftigen Mehrheit: tausende Blog- und Forenbeiträge und Zuschriften an Redaktionen, Fernsehsender und die an der öffentlichen Diskussion Beteiligten. Zu letzteren gehörte etwa Wolfgang Wippermann, der in seinem Buch Autobahn zum Mutterkreuz zu dem Schluss kommt, dass die Deutschen sich nicht nur die Dankbarkeit für das „größte Denkmal, das an Hitler erinnert”1, die Autobahn, nicht verbieten lassen wollen. Nein, sie klammern sich auch hartnäckig an den Rockzipfel der Nazi-Mutter.2 Diese ist zwar nicht aus Beton, aber vielleicht ist sie gerade deshalb für die Ewigkeit gemacht. Denn sie ist nicht kalt und hart wie die Autobahn, sondern warm und weich und spendet das Leben. Wer also für die Mutter so viel Gutes getan hat wie der Hitler, kann ja gar kein so schlechter Mensch gewesen sein.
Dieses zwanghafte Bemühen, auch mal die guten Seiten eines totalitären Systems aufzuzeigen, das durch die volksgemeinschaftliche Ermordung der Jüdinnen und Juden zusammen gehalten wurde, zielt immer auf die Relativierung der Shoah ab.
Diejenigen, die zu diesem Schluss kommen und für sich im postnazistischen Deutschland die Sorge um das Wohl der Familie reklamieren, haben das Bedürfnis, Nazi-Deutschland um jeden Preis zu rehabilitieren. Sie verraten sich dadurch, dass sie sich überhaupt nicht um die Realität der NS-Familienpolitik scheren. Dieses zwanghafte Bemühen, auch mal die guten Seiten eines totalitären Systems aufzuzeigen, das durch die volksgemeinschaftliche Ermordung der Jüdinnen und Juden zusammen gehalten wurde und es von daher unmöglich ist, nur einen winzigen, noch so entlegenen Teil aus diesem Ganzen herauszutrennen, der nicht das Zeichen der Vernichtung trägt, zielt immer auf die Relativierung der Shoah ab. Es ist deshalb so offensichtlich zwanghaft, da diese Bemühten geflissentlich ignorieren, dass der NS beileibe kein Schutzpatron der Familie gewesen ist, wie es Claudia Koonz in Mütter im Vaterland deutlich macht: „Während die Propaganda die Familie […] pries, trieben die Forderungen des neuen Staates faktisch ihre Auflösung voran.“3 Darum führt auch die Bezeichnung des Nationalsozialismus als „konservative Revolution“ in die Irre, hatte er es doch nicht zuletzt auf die konservativen Heiligtümer Staat, Kirche und Familie abgesehen.4 Seine Feindseligkeit diesen drei Institutionen gegenüber konnte der NS hingegen gut kaschieren, da in Bezug auf alle drei eine Diskrepanz zwischen öffentlichen Absichtserklärungen und politischem Handeln existierte. Was den Staat anbelangt, lässt sich der Erfolg der nationalsozialistischen Selbstdarstellung daran erkennen, dass die Auffassung, der NS sei ein monolithischer Staat gewesen, immer noch sehr weit verbreitet ist. Tatsächlich verhält es sich jedoch so, dass, wie Franz Neumann schon früh erkannte, nach der anfänglichen Verfolgung der Totalitätsdoktrin der Staat sich zusehends in einen Unstaat verwandelte, in dem die verschiedenen Banden um Herrschaft rangen.5 Nun ist Bande nicht gleich Bande und obwohl sie alle wenigstens der Antisemitismus einte, gab es selbst bei der Frage, wie die in ihm angelegte Vernichtungspolitik aussehen soll, Differenzen. Die besagte Diskrepanz und die Widersprüche innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung sind also nicht nur einer Verschleierung der antikonservativen Stoßrichtung des NS geschuldet, sondern auch Ergebnis des instabilen Kräfteverhältnisses zwischen den Banden. Es gab durchaus im klassischen Sinne rechtskonservative Kräfte im NS, deren Herz an den genannten konservativen Heiligtümern und der deutschen Nation hing. Diesen musste man eine Zeit lang Zugeständnisse machen, doch die Visionäre des tausendjährigen Reiches, wie zum Beispiel Heinrich Himmler, wollten sich so schnell wie möglich von den Fesseln des Althergebrachten lösen. In der Phase, in der die Konservativen noch mit Konzessionen befriedigt werden sollten, konnten sich christliche Nazis in dem Glauben wiegen, ihr Glaube sei der des Nationalsozialismus. Diesem war jedoch konsequenterweise nicht nur jeder „Judengott“ zuwider, er gewährte auch dem Christentum nur eine Schonzeit, um es letztendlich mit Thors Hammer zu zerschmettern. Für die Familie gab es in der Vision des tausendjährigen Reiches genauso wenig Platz, da sie allein wegen der bescheidenen Rückzugsmöglichkeit, die sie trotz allem bot, dem NS ein Dorn im Auge sein musste.6 Dieser sollte entfernt werden, um kühnen Blickes die mit den modernsten medizinischen Techniken kontrollierte archaische Sippe zu verwirklichen.7 In der Übergangszeit allerdings war der Nationalsozialismus für die Verwirklichung des Vernichtungskriegs und im Gehorsam gegenüber seinem Wahn vom Überlebenskampf der arischen Rasse auf die Familie angewiesen: die vorläufig zuverlässigste Quelle des so dringend benötigten Menschenmaterials. Wenn sich aber einmal einer, wie z.B. Rudolf Hess, doch nicht zurückhalten konnte und, wie es sich für einen antibürgerlichen Revolutionär geziemt, Vorstöße zur Auflösung der Familie unternahm, wurde Empörung laut und andere Ideologen beeilten sich, diese Kühnheit zu relativieren, um die Ruhe zu wahren. Nur wäre es falsch, vor dem Hintergrund dieser oder vergleichbarer Begebenheiten mit Hans Peter Bleuel zu dem Schluss zu kommen, dass die Volksgemeinschaft für derartige radikale Schritte noch nicht bereit gewesen sei.8
Es wurde die Aufhebung der Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit, Männern und Frauen versprochen, wenn sich nur alle gleichermaßen an der Vernichtung der Juden beteiligten.
Denn dies behauptet eine Trennung zwischen eben dieser Nazigemeinschaft und der führenden Clique, die es so nicht gegeben hat. Auch wenn die Idee der Abschaffung der Familie zuerst eine Kopfgeburt jener Visionäre war, mussten sie diese nicht gegen den Willen der Masse durchsetzen. Sie fanden gerade dort, insbesondere unter den fanatisierten Jüngeren, willige Anhängerinnen und Anhänger, die die totale Umwälzung des Bestehenden vorantrieben, was die Grundlage des Generationenkonflikts nationalsozialistischer Prägung bildete. Wolfgang Pohrt verweist auf diesen Konflikt, wenn er das Verhältnis zwischen Volksgemeinschaft und Familie, welches er auch im postnazistischen Deutschland fortbestehen sah, mit den folgenden Worten auf den Punkt bringt: „diese Volksgemeinschaft kennt zwar Muttertage und Mutterkreuze, Müttergenesungswerke und Kindergeld […]; in Wahrheit aber kennt sie wie der Hitlerjunge, der seine Eltern bei der Partei verpfiff, weder Brüder noch Schwestern, weder Eltern noch Kinder, sondern sie unterscheidet nur zwischen sich selbst als dem verstaatlichten Zwangskollektiv, der Verfolgergemeinschaft, und ihren auszumerzenden Feinden.“9 Der Nationalsozialismus trieb die Atomisierung der Gesellschaft voran, löste die Einzelnen aus dem traditionellen repressiven Zwangsverband, der Familie, heraus, um sie in etwas noch Schlimmerem, der Volksgemeinschaft, zusammenzufassen. Es wurde die Aufhebung der Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit, Männern und Frauen versprochen, wenn sich nur alle gleichermaßen an der Vernichtung der Juden beteiligten.
Damit kein Missverständnis entsteht: gemäß der NS-Programmatik sollten die Widersprüche zwischen Männern und Frauen durch eine harmonische Ergänzung der behaupteten geschlechtlichen Gegensätze erreicht werden. Was sich wie aus einem spirituellen Lebensratgeber entnommen anhört, bedeutete rechtlich erhebliche Einschränkungen für Frauen, die die bescheidenen, wenigstens formell in der Weimarer Republik verwirklichten Freiheiten wieder aufhoben: Zurückdrängung aus höheren Berufen, den Universitäten, Ausschluss aus den politischen Entscheidungsstrukturen, Vormundschaft des Ehemanns.10 Zusätzlich wurde das Abtreibungsrecht verschärft und nach der Verabschiedung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wurden zwar gleichermaßen hunderttausende Frauen und Männer zwangssterilisiert, aber diese Eingriffe hatten für weitaus mehr Frauen tödliche Folgen.11 Es wäre jedoch falsch zu sagen, der Nationalsozialismus sei außergewöhnlich frauenfeindlich gewesen und nur dort habe der Staat das körperliche Selbstbestimmungsrecht von Frauen missachtet – denn leider sah es in anderen europäischen Ländern, besonders den römisch-katholisch geprägten wie bspw. Frankreich, kaum anders aus. Es gab dort zur selben Zeit nicht nur eine genauso restriktive Abtreibungspolitik, sondern ebenfalls einen ähnlich verbissen geführten Kampf gegen Empfängnisverhütung.12 Auch wenn die nationalsozialistische Ehegesetzgebung, nach der nur „erbgesunde“ und „arische“ Paare eine Ehe schließen durften, tatsächlich stärker in das Privatleben eingriff als in anderen Ländern, bedeutet das nicht, dass ein ähnliches Gesetz dort nicht möglich gewesen wäre. Im Gegenteil: Eugenik fand in ganz Europa in allen politischen Spektren Anhängerinnen und Anhänger und auch die Sorge, das eigene Volk sterbe aus, war mitnichten ein spezifisch deutsches Phänomen. Selbst die Zwangssterilisation von als „erbkrank“ deklarierten Frauen und Männern wurde nicht allein von den NationalsozialistInnen betrieben, sondern auch in anderen Staaten, wie z.B. in der Schweiz, Schweden und den USA, teilweise mehrere Jahrzehnte lang durchgeführt.13
Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik machte nicht zuletzt durch ihren Kampf gegen die Abtreibungsgesetzgebung darauf aufmerksam, dass die Missachtung des körperlichen Selbstbestimmungsrechts von Frauen keine nationalsozialistische Eigenart gewesen ist. Damit hatte sie den meisten Deutschen etwas voraus, die, wenn sie nicht insgeheim den Verlust des Führers und der Volksgemeinschaft betrauerten, nichts von den gesellschaftlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus und dessen Fortwesen in seinen Nachfolgestaaten wissen wollten. Jedoch ging aus diesem Versuch, eben die Voraussetzungen des Nationalsozialismus zu begreifen, eine eigene Entlastungsstrategie hervor. Sie bestand darin, jede Form von Herrschaft als patriarchale verstehen zu wollen, und als Folge daraus auch die Frauen im NS als Opfer des Patriarchats anzusehen. Erst in den achtziger Jahren kam es innerhalb der Frauenforschung zu Auseinandersetzungen um diese Glaubenssätze, deren Ausgangspunkt die Kontroverse um Gisela Bocks Zwangssterilisation im Nationalsozialismus war. In ihrer Studie versucht Bock darzulegen, dass der Nationalsozialismus keineswegs pro- sondern antinatalistisch gewesen sei. So berechtigt und richtig ihr Hinweis auf die antinatalistische Seite der NS-Bevölkerungspolitik auch ist, so falsch ist es, die pronatalistische als reine Propaganda abzutun.14 Aber Bock kann nicht anders, will sie doch nachweisen, dass es sich bei den Zwangssterilisationen nicht nur um grässliche bevölkerungspolitische Eingriffe des NS gehandelt hat, sondern „um geplante[n] und bewußte[n] Massenmord“15, eine „erste Etappe der Massenmorde an Frauen und Männern“16. Wer sich wie Bock nicht scheut, die Shoah unterschiedslos unter scheinbare und tatsächliche „Massenmorde an Frauen und Männern“ zu fassen, hat schon mehr als eine Etappe auf dem Weg zu ihrer Relativierung zurückgelegt. Der Weg Bocks beginnt mit der als Erkenntnis ausgegebenen Identifizierung eines „Spezifikum[s] des Nationalsozialismus in Zwang, Gewalt, Terror und Mord“17, eine wichtige Wegmarke ist ein ähnlich präziser Rassismusbegriff18, und endet konsequent mit dieser Kapitelüberschrift: „Rassenpolitik als Frauenpolitik: ‘Die Lösung der Frauenfrage’“19. – Als Nachwirkung der Weigerung einiger Wissenschaftlerinnen, allen voran Claudia Koonz, Bock auf ihrem eigentümlichen Weg zu folgen, wurde allmählich aufgehört, der Illusion zu erliegen, Frauen seien im Nationalsozialismus nur passiv der Willkür der Männer ausgeliefert gewesen, wenn auch um die Frage nach der Verantwortung und Beteiligung jener bis heute noch gestritten wird.20
Der Nationalsozialismus hat Frauen weitaus mehr als über einen eigenen Willen verfügend anerkannt und dementsprechend gehandelt, als es diejenigen, die in ihnen nur passive Verfügungsmasse des patriarchalen Männerbunds sehen, wahrhaben wollen.
Um diesen Sachverhalt zu erhellen, sollte zuerst mit dem Vorurteil aufgeräumt werden, Frauen seien im Nationalsozialismus auf ihre Gebärfunktion reduziert gewesen, hätten unter einem Gebärzwang gestanden, wie es auch Georg Domkamp in der ersten Ausgabe der_ outside the box_ nahe legt, wenn er schreibt: „Die ‘echt-deutsche’ Frau hatte zu gebären, ob sie wollte oder nicht.“21 Sicher war das Recht der körperlichen Selbstbestimmung durch die Abtreibungs- und Verhütungsmittelverbote stark eingeschränkt, so dass schwangere Frauen tatsächlich nur unter den großen gesundheitlichen Risiken einer illegalen Abtreibung und in Anbetracht der Gefahr schwerer Bestrafung einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen konnten. Aber jenseits dieser Bestimmungen und eines nicht zu verleugnenden sozialen Drucks22 bestand die nationalsozialistische Geburtenpolitik vor allem darin, bei Frauen auf den Willen zum Gebären zu setzen und ihn zu fördern, da sie diese eben nicht gegen ihren Willen dazu zwingen konnte und wollte. Der Nationalsozialismus hat Frauen weitaus mehr als über einen eigenen Willen verfügend anerkannt und dementsprechend gehandelt, als es diejenigen, die in ihnen nur passive Verfügungsmasse des patriarchalen Männerbunds sehen, wahrhaben wollen.23 Wenn man Jüdinnen und Juden in ihrer Gesamtheit vernichten möchte, muss man auch die Volksgemeinschaft in ihrer Gesamtheit mobilisieren. Deshalb konnten Frauen nicht allein der patriarchalen Vormundschaft ihrer Väter oder ihrer Männer überlassen werden; sie sollten die nationalsozialistische Sache zu ihrer eigenen machen und selber jedes Vergehen gegen diese denunzieren, egal ob es sich dabei um den Vater, den Ehemann, die Nachbarin oder die Tochter handelte. Domkamp geht zwar ausdrücklich auf die Partizipation von Frauen an der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, sei es als KZ-Wärterinnen, sei es in den Rüstungsbetrieben, ein, verkennt aber die Bedeutung, die ihnen jenseits dieser Tätigkeiten beigemessen wurde, wenn er schreibt: „Der Alltag der gewöhnlichen Frau stand noch weniger bis gar nicht im Fokus der Öffentlichkeit.“24 „Öffentlichkeit“ ist leider ein so schillerndes Wort, dass ich nicht weiß, was genau Domkamp mit seiner Wendung gemeint hat. Es steht aber fest, dass dem „Alltag der gewöhnlichen Frau“ im Nationalsozialismus großes politisches Interesse galt und sehr viel daran gesetzt wurde, diesen Alltag zu politisieren, wenn nicht zu militarisieren. Denn der NS befand sich in dem bereits umrissenen Dilemma, die Familie mittelfristig zerstören zu wollen, kurzfristig aber auf sie angewiesen zu sein. Um jedoch eine totalitäre Kontrolle zu gewährleisten, musste der „Alltag der gewöhnlichen Frau“ von einem privaten zu einem politischen werden. Nicht zuletzt deshalb, weil in Frauen nicht nur die Mütter, sondern auch die ersten Erzieherinnen der neuen Generation gesehen wurden und ihnen damit eine große Verantwortung zukam.25
Der NS erbrachte somit der Reproduktionsarbeit auf seine Weise die lang verwehrte Anerkennung.
Mit dieser Verantwortung durfte man sie nicht allein lassen, weshalb mittels der von den Frauenorganisationen – die größten, die es in Deutschland bis dahin gegeben hatte und in denen Millionen Frauen aktiv waren26 – durchgeführten Mütterschulungen die Erziehung im nationalsozialistischen Geist gewährleistet werden sollte. Aber auch über diese speziellen Schulungen hinaus waren es, wie Ljiljana Radonic aufzeigt, vor allem Frauen, die „die NS-Ideologie im häuslichen und nachbarschaftlichen Bereich“27 alltäglich durchsetzten. – Selbst in der Hausarbeit ließ man nichts anbrennen und entriss sie der Heimlichkeit, indem man die Hauswirtschaft zum Ausbildungsberuf machte.28 Der NS erbrachte somit der Reproduktionsarbeit auf seine Weise die lang verwehrte Anerkennung. Für viele Frauen, nämlich die proletarischen, änderte sich dadurch in ihrem Leben jedoch nichts, da der Nationalsozialismus, trotz seiner Propagierung des Gegenteils, spätestens mit der Intensivierung der Kriegsproduktion auf ihre Mehrfachbelastung angewiesen war, sie also in der Produktions- wie in der Reproduktionssphäre ihren Beitrag für die Volksgemeinschaft leisten sollten.29 Das ist sicherlich auch einer der Gründe dafür, dass trotz einer Vielzahl von Maßnahmen, wie Ehestandsdarlehen, Steuervergünstigungen und Mutterkreuzen, nur wenige deutsche Frauen dem Wunsch des Führers nachkamen, diesem vier und mehr Kinder zu gebären. Die moderne Kleinfamilie ließ sich nicht ohne weiteres zur nationalsozialistischen Sippe ausweiten. Von der wahnhaften Sorge umtrieben, das deutsche Volk könnte dem Volkstod zum Opfer fallen, studierte man die Geburtenzahlen aufmerksam und sparte nicht mit Lob, als nach deren Tiefstand Ende der zwanziger Jahre eine Steigerung zu verzeichnen war. Das sollte aber nur der Anfang sein, wie es 1938 in einer Ankündigung des Mutterkreuzes im Völkischen Beobachter deutlich wird: „Wohl haben wir heute in der Geburtszahl das erreicht, was zur Bestandserhaltung des deutschen Volkes notwendig ist. Das aber kann für uns alle niemals das Ziel, sondern nur der Übergang sein zu weiterem Wachstum. Was nicht wächst, stirbt, das lehrt uns die Natur. Das deutsche Volk aber soll leben und muß wachsen!“30 Dieser Appell an die deutsche Frau, ihren Körper für den Dienst am Volk noch fruchtbarer zu machen, mehr Opfer im Kampf ums Dasein zu erbringen, ist vom Geist der Militarisierung der Mutterschaft erfüllt, in dessen Sinn auch das Mutterkreuz verliehen wurde. Aber selbst diese Auszeichnung zeitigte nicht den erwünschten Erfolg – „Wachstum“ statt „Bestandserhaltung“ – auch wenn Irmgard Weyrather in Muttertag und Mutterkreuz auf der Grundlage eines Berichts des NS-Sicherheitsdienstes feststellt, dass der Orden und die Verleihungszeremonie in weiten Teilen der Bevölkerung Anerkennung gefunden und sie ihre „loyalisierende Funktion“ erfüllt haben.31 Das war aber nur die eine Seite des Ordens. Im Schatten der anderen Seite wurde über den „Kaninchenorden“ gewitzelt und mitunter die mit dieser Auszeichnung verbundene Gefahr erkannt. Denn das Mutterkreuz wurde selbstverständlich nicht an jede Mutter mit vier und mehr Kindern verliehen, sondern die Anwärterinnen und ihre Familien mussten sich einer Prüfung der Behörden aussetzen, die noch mehr Informationen erfasste, als die Einzelnen ohnehin mitzuteilen gezwungen waren. Die Auszeichnung sollte nur an vorbildliche und „erbgesunde“ Frauen vergeben werden, so dass die Verweigerung des Ordens nicht nur eine Stigmatisierung der Betroffenen bedeutete, sondern auch unter Umständen eine Zwangssterilisierung zur Folge haben konnte. Dazu Weyrather: „Für die beim Mutterkreuz abgelehnten Frauen und ihre Familien wäre es oft besser gewesen, sie wären erst gar nicht für das Mutterkreuz in Betracht gezogen worden.“32 Da die Mütter sich häufig nicht selbst um das Kreuz bewarben, sondern oft die Block- und ZellenleiterInnen der NSDAP Anträge an die in Frage kommenden Frauen in ihrem Einflussbereich weiterleiteten, mag eine Ahnung davon, wie schnell sich die Volksgemeinschaft gegen ihre Mitglieder wenden kann, manche dazu bewegt haben, alles daran zu setzen, nicht in den Genuss dieser zweifelhaften Aufmerksamkeit zu kommen. Ganz abgesehen davon, dass ein Großteil der Frauen aufgrund der Mehrfachbelastung der Produktions- und der Reproduktionsarbeit gar keine Kapazitäten für die Betreuung einer Großfamilie aufbringen konnten.
Es gibt sicher noch weitere Gründe für das Scheitern der nationalsozialistischen „4 Kinder plus“-Politik. Aber nur weil der Großteil der Volksgemeinschaft in diesem Punkt das eigene Leben nicht nach der Parteilinie ausgerichtet hat, ändert das nichts daran, dass er die Vernichtungspolitik duldete, guthieß und willig vollstreckte. Während die Nazis anhand der Entwicklung der Geburtenzahlen versuchten, das Vertrauen der Deutschen in den Führer zu ermitteln, soll sie im postnazistischen Deutschland als Indikator für die unbeugsame Widerspenstigkeit der Bevölkerung herhalten. Anna Sigmund zum Beispiel möchte in ihrem Buch Das Geschlechtsleben bestimmen wir 2008 die Geburtenzahlen so verstanden wissen: „Es war eine stille, jedoch effiziente Rebellion, die sich in den Schlafzimmern der Volksgenossen abgespielt hat.“33 – Also doch. Es gab das andere Deutschland. Ich habe meinen Großeltern unrecht getan. Auch sie waren im Widerstand. Hätten die Alliierten ihnen nur mehr Zeit für ihre „stille, jedoch effiziente Rebellion“ gelassen. Dresden hätte nicht sein müssen.
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Aus einem LeserInnenbrief an die Bild-Redaktion. Dokumentiert in: Wippermann, Wolfgang: Autobahn zum Mutterkreuz. Historikerstreit der schweigenden Mehrheit. Berlin 2008. S. 113. In dem Buch wird ein guter Überblick über die gesamte Herman-Kontroverse gegeben und auch die Zustimmung der schweigenden Mehrheit zu Hermans Positionen eingehender untersucht. ↩
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Vgl. ebd. S. 80. ↩
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Koonz, Claudia: Mütter im Vaterland. Frauen im Dritten Reich. Freiburg (1986) 1991. S. 211. ↩
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Vgl. Stephenson, Jill: Women in Nazi Society. London 1975. S. 66-70. Die lesenswerte Studie Stephensons ist eine der ersten umfassenden zur Situation und Rolle der Frau im Nationalsozialismus und steht nicht im Bann der „Deutsche Frauen waren auch Opfer“-Erzählung, die zu der Zeit noch in der bundesrepublikanischen Frauenfor-schung die vorherrschende gewesen sein soll; wenn auch eine Bemerkung zum Scheitern der „4 Kinder plus“-Politik im Sinne eines heimlichen Gebärstreiks verstanden werden kann (Vgl. ebd. S. 70). ↩
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Zur Abkehr von der Totalitätsdoktrin s. Neumann, Franz: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944. Frankfurt am Main (1944) 1984. S. 75-79.; Zur Bestimmung des NS als „Unstaat“: Ebd. S. 16. S. 541ff.; „Banden“ meint hier mit Neumann in Bezug auf den NS autonome Interessengruppen, bspw. die NSDAP, die „ihre eigene legislative, administrative und judikative Gewalt“(Ebd.. S. 542) besitzen, zwischen denen Konflikte informell, jenseits einer allgemein verbindlichen Rechtsgrundlage ausgetragen werden, über denen also kein Staat als vermittelnde Instanz waltet. ↩
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Vgl. Stephenson, J.: Women in Nazi Society. a.a.O. S. 196. ↩
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So schwebte manchen NS-Visionären die Bigamie als Alternative vor. Vgl. ebd. S. 70. ↩
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Vgl. Bleuel, Hans Peter: Das saubere Reich. Die verheimlichte Wahrheit. Eros und Sexualität im Dritten Reich. Bergisch Gladbach (1972) 1979. S. 204f. ↩
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Pohrt, Wolfgang: Die schweigende Mehrheit vor der Verwirklichung ihrer geheimen Wünsche durch ihre Opfer bewahren. In: Gewalt und Politik. Ausgewählte Reden und Schriften. Berlin (1981) 2010. S. 85-90. S. 89. ↩
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Vgl. Domkamp, Georg: Rechte Frauen – Frauen ohne Rechte. In: >outside the box< Nr. 1. S. 55-60. S. 56. sowie fast alle der hier aufgeführten Studien zu Frauen im NS. ↩
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Vgl. Bock, Gisela: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Familienpolitik. Opladen 1986. S. 12. ↩
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Vgl. Stephenson, J.: Women in Nazi Society. a.a.O. S. 4f. ↩
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Für einen guten Überblick über die Geschichte rassehygienischer Politik und Informationen über ihre weit verbreitete Anerkennung s. Bierl, Peter: Der Mensch ist keine Fruchtfliege. In: http://jungle-world.com/artikel/2011/19/43203.html; Zur Zwangssterilisation in der Schweiz: Jütte, Robert: Die Fratze des Heilens. In: http://www.faz.net/artikel/C30405/die-fratze-des-heilens-30159681.html; Schweden: Rogalla, Thomas: Schweden ließ Zehntausende zwangssterilisieren. In: http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/1997/0828/politik/0013/index.html; USA: Corinth, Ernst: Noch vor 30 Jahren wurden in den USA Menschen zwangssterilisiert. In: http://www.heise.de/tp/artikel/20/20106/1.html; für eine medizinhistorische und -soziologische Darstellung der Entwicklung der Rassenhygiene und Eugenik s. auch: Czarnowski, Gabriele: Das kontrollierte Paar. Ehe- und Sexualpolitik im Nationalsozialismus. Weinheim 1991. besonders das 1. Kapitel. ↩
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Vgl. Bock, G.: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. a.a.O. S. 462. ↩
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Ebd.. S. 379. ↩
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Ebd.. S. 12. ↩
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Ebd.. S. 10. ↩
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Vgl. ebd.. S. 14ff. ↩
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Überschrift des Kapitels VII. 3, S. 456. Es soll nicht verschwiegen werden, dass Frick 1933 Bock zufolge tatsächlich von der „Lösung der Frauenfrage“ gesprochen haben soll (Vgl. ebd. S. 461). So wie Bock aber diese Formulierung in ihrer Überschrift aufgreift, legt sie nahe, dass die „Lösung der Frauenfrage“ eine mit der „Lösung der Judenfrage“ vergleichbare gewesen sei. Für eine umfassendere Kritik an Bock s. Radonic, Ljiljana: Die friedfertige Antisemitin? Kritische Theorie über Geschlechterverhältnis und Antisemitismus. Frankurt am Main 2004. S. 140ff. und Walterspiel, Gabriela: Das ‘zweite Geschlecht’ und das ‘Dritte Reich’. Über Rasse und Geschlecht im Feminismus. In: http://www.ca-ira.net/isf/beitraege/walterspiel-rasse.geschlecht.html ↩
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Für eine umfangreichere Darstellung s. Thürmer-Rohr, Christina: Die postmoderne These vom ‘Tod der Geschichte’. Feminismus und der Holocaust. In: Niethammer, Ortrun (Hg.): Frauen und Nationalsozialismus. Historische und kulturgeschichtliche Positionen. Osnabrück 1996. S. 24-40. und Schaumburg, Petra: Frauen im Nationalsozialismus. Ein Überblick über die historische Frauenforschung und die feministische Diskussion um Verantwortung und Beteiligung von Frauen am Nationalsozialismus. In: Ebd.. S. 42-56.; für eine Kritik des Opfermythos s. Radonic, L.: Die friedfertige Antisemitin?. a.a.O.. S. 134-142. und für eine Kritik der Subsumierung des NS unter den Begriff des Patriarchats s. S. 146 (Fußnote 578); S. dazu auch Walterspiel, G.: Das ‘zweite Geschlecht’ und das ‘Dritte Reich’. a.a.O. ↩
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Domkamp, G.: Rechte Frauen. a.a.O. S. 56. ↩
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Vgl. Stibbe, Mathew: Women in the third Reich. London 2003. S. 50. ↩
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Vgl. Koonz, C.: Mütter im Vaterland. a.a.O. S. 29; Stephenson, J: Women in Nazi Society. a.a.O. S. 188f. ↩
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Domkamp, G.: Rechte Frauen. a.a.O. S. 55. ↩
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Vgl. Stephenson, J.: Women in Nazi Society. a.a.O. S. 45. ↩
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Vgl. Radonic, L.: Die friedfertige Antisemitin?. a.a.O. S. 129-32. Die Anziehung, die diese Organisationen besonders auf junge Frauen ausübten, ist eindrucksvoll beschrieben in Koonz, C.: Mütter im Vaterland. a.a.O. S. 232ff. ↩
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Radonic, L.: Die friedfertige Antisemitin?. a.a.O. S. 125. ↩
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Vgl. Benz, Ute (Hg.): Frauen im Nationalsozialismus. Dokumente und Zeugnisse. München 1993. S. 30. ↩
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Vgl. Tröger, Annemarie: Die Frau im wesensgemäßen Einsatz. In: Frauengruppe Faschismusforschung (Hg.): Mutterkreuz und Arbeitsbuch. Zur Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1981. S. 246-272. In diesem Aufsatz wird wie in dem gesamten Sammelband und anders als bei vielen klassischen geschichtswissenschaftlichen Studien, großer Wert auf die Analyse des Zusammenhangs zwischen der Organisation der kapitalistischen Produktion im Nationalsozialismus und dessen Politik gelegt. ↩
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Völkischer Beobachter vom 25./26.12.1938 zit. nach: Benz, U.(Hg.): Frauen im Nationalsozialismus. a.a.O. S. 110. ↩
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Weyrather, Irmgard: Muttertag und Mutterkreuz. Der Kult um die „deutsche Mutter“ im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1993. S. 148.; Den folgenden Ausführungen über den heimlichen Spott und über die Gefahren des Vergabeverfahrens liegt die Darstellung Weyrathers zu Grunde. ↩
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Weyrather, I.: Muttertag und Mutterkreuz. a.a.O. S. 69. ↩
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Sigmund, Anna Maria: Das Geschlechtsleben bestimmen wir. Sexualität im Dritten Reich. München 2008. S. 176 f. ↩