Leitartikel
Komm in Form.
1. Editorial
Die zweite Ausgabe der outside the box ist endlich da und sie handelt von der „Form“. Why the fuck form? - mögen sich die interessierten Leser_innen zu Recht fragen. Zugegeben, das „Form“-Thema zählte bislang weder zu den gesellschaftskritischen noch zu den feministischen Klassikern und soll auch gar nicht als klar umgrenztes Thema verstanden werden. Vielmehr begreifen wir es als ein Prisma, durch das wir verschiedene Themen, die uns im Anschluss an die erste Ausgabe Emanzipation (herausgekommen im Dezember 2009) als wichtig und interessant erschienen sind, betrachten und zueinander in Beziehung setzen wollen. Doch trotz monatelanger Mühen bleibt auch für uns das Thema „Form“ komplex, nicht zuletzt weil der Begriff der Form vielfältig ist und auch in dieser Ausgabe nicht einheitlich verwendet wird. So findet sich der Begriff Form sowohl im Sinn von „Ausdruck von Inhalt“ oder „Art und Weise“, als auch als Begriff des „Allgemeinen“ und dessen Verhältnis zum Besonderen wieder. Eine weitere für uns wichtige Verwendungsweise in diesem Heft ist der Formbegriff aus der Ästhetik.
Daher bleibt an dieser Stelle ein Gastauftritt von Liesschen Müller, bestens bekannt aus dem Editorial der outside #1, leider aus, obwohl sie schon kurz davor war, uns anhand ihres reichhaltigen Backformen-Sortiments das Verhältnis von Form und Inhalt ein für allemal zu definieren. Zwar weiß Liesschen, dass man es heutzutage weit bringen kann, wenn man öffentlich die privaten Trivialitäten breit tritt, mit denen man sich am besten auskennt. Oder wie wäre es sonst möglich, dass jüngst ein berühmter Mann anhand von Kloschüsseln die Welt erklären wollte und was könnte Liesschen Müller besser als Kuchen backen? Aber selbst Liesschen ist wohl doch schlauer als ihr Ruf und weiß darum, dass die „Form-Frage“ zu komplex ist, um sie hier auf das bisschen Haushalt zu reduzieren.
Also worum geht`s denn jetzt eigentlich? In welchen Zusammenhängen taucht denn nun die „Form-Frage“ auf?
Unser inhaltliches Anliegen haben wir in der ersten Ausgabe formuliert: die Kritik der Gesellschaft aus feministischer Perspektive zu betreiben. Was aber in der Linken nicht selten vernachlässigt wird, ist die Frage nach dem Wie, dem wir uns in dieser Ausgabe darum explizit widmen wollen. Bezogen auf die Praxis des Zeitschrift Machens heißt das: Welche Ausdrucksformen innerhalb des Mediums Zeitschrift ermöglichen es einer feministischen Gesellschaftskritik, das Besondere der weiblichen Vergesellschaftung innerhalb der kapitalistischen Totalität zu beschreiben und zu kritisieren?
Daran schließt sich ein zweiter Zugang zum Formbegriff an: die Gewordenheit und Spezifik der Form der kapitalistischen Gesellschaft und ihre konstitutive Rolle für das patriarchale Geschlechterverhältnis. Dies impliziert auch die Frage, welche Formen von Theoriebildung zur Analyse und Überwindung des Bestehenden beitragen können.
Eine Kritik unserer eigenen Arbeitsweise und der Formen des Zeitschrift Machens legt für uns auch eine Kritik der linken Szene nahe, in der wir uns und dieses Zeitungsprojekt verorten. Wie kommt es, dass auch hier die Debatten nach wie vor hauptsächlich von Männern geführt werden und die Kritik des patriarchalen Geschlechterverhältnisses weitgehend in Frauen-, Lesben-, Trans- dominierte Extra-Gruppen ausgelagert wird? Wie kann die Linke statt dessen ausgehend von ihrer kritischen Reflexion auf Gesellschaft einen Raum der Erfahrung eröffnen, der die alltäglichen, erniedrigenden, sexistischen Erfahrungen überschreitet?
Als letzter thematischer Schwerpunkt schließt sich das Thema Kunst an: inwieweit kann Kunst durch die ästhetische Form (noch) Gegenposition zur Gesellschaft sein und in der ästhetischen Erfahrung einen Vorausschein auf eine andere Gesellschaft ermöglichen?
Was aber in der Linken nicht selten vernachlässigt wird, ist die Frage nach dem Wie, dem wir uns in dieser Ausgabe darum explizit widmen wollen.
Diese Themenkomplexe mögen erstmal als unverbunden erscheinen, wir wagen aber, sie in dieser Ausgabe unter dem Formbegriff zusammenzubringen, in der Absicht, die feministische Gesellschaftskritik weiter zu treiben. Im Folgenden dieses Leitartikels wollen wir in vier getrennten Abschnitten unsere Gedanken zur Form in Bezug auf die vier Themenschwerpunkte des Heftes vorstellen: die Form der kapitalistischen Gesellschaft und die Formen der Theoriebildung über diese Gesellschaft; Formen des Zeitschrift Machens; die Formen der Praxis der linken Szene und Form in der Kunst. Innerhalb dieser Unterkapitel soll auch ein Großteil der im Heft zu findenden Beiträge thematisch eingeordnet werden. Dass einige Artikel in mehreren Abschnitten genannt werden, verweist auf die vielfachen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Gegenständen.
Diese Zusammenhänge lassen sich mit dem eingangs erwähnten Begriff der Form als das „Allgemeine“, das „Formprinzip“ der Gesellschaft begreifen. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass sich in den einzelnen Bereichen der Gesellschaft, von denen einige wenige in dieser Ausgabe thematisiert werden, ein allgemeines Moment finden lässt, das diese Gesellschaft in ihrem Zusammenhang konstituiert. Durch diese Betrachtungsweise der gesellschaftlichen Totalität, d.h. durch eine Betrachtungsweise, die die einzelnen Bereiche nicht als unabhängig voneinander bestehende Sphären begreift, ließe sich von jeder Seite aus eine Analyse und Kritik der Gesellschaft anfangen.
Diesen Gedanken versuchen wir in dieser Ausgabe inhaltlich und formal umzusetzen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema „Form“ sowie mit der Gesellschaft als Ganzer ist ein unabschließbares Projekt, die losen Bögen dieser Ausgabe könnten um unzählige weitere ergänzt werden. Wir hoffen, darauf Lust zu machen, sich ihren/ seinen eigenen Pfad durch diese Material-Assoziation zum Thema „Form“ zu bahnen. Viel Spaß!
2. Über die Form der Gesellschaft und ihre Theoretisierung
In unserer ersten Ausgabe haben wir unser Hauptanliegen klargestellt: die Emanzipation. Um diesem Ziel näher zu kommen, bedarf es (und das wird ein langer unabschließbarer Prozess werden) einer Bestandsaufnahme und der Kritik des Bestehenden. Das uns umgebende Bestehende ist offensichtlich die Gesellschaft (und die Natur mit der wir uns aber in dieser Ausgabe nicht eingehender beschäftigt haben) – dieser Begriff sagt erst einmal nicht viel. Nach dem „Programm“ dieser Ausgabe wollen wir uns über zweierlei klar werden: über die Form des Gegenstands, also der Gesellschaft und über die Form des Denkens der Menschen über diesen Gegenstand, ausgedrückt in Theorien. Das eine ist vom anderen nicht trennbar, die reine Erkenntnis des Objekts ohne Subjekt nicht möglich, die Erkenntnis des Subjekts immer auch mögliche Selbsterkenntnis. Versuche zu einer Kritischen Theorie der Gesellschaft und des Geschlechterverhältnisses haben den Anspruch, über herrschaftsförmige Zusammenhänge der Gesellschaft aufzuklären und Selbstaufklärung zu sein. Habe ich die Gesellschaft und ihre nicht unmittelbar einsichtigen Strukturen begriffen, kann ich sie an meinem Maßstab – der Emanzipation der Individuen – messen. Was bleibt dann noch zu retten von der Gesellschaft? Was kann mir die Theorie darüber sagen? Das über das Gegebene Hinausweisende schimmert durch im Erkenntnisprozess. Da Theoriebildung dieses „utopische“ Potential enthält, finden sich in dieser Ausgabe Artikel, die die kapitalistische Gesellschaftsform und die Form der Theoriebildung thematisieren.
Wie hängen diese historisch spezifische Gesellschaftsform und die Form des Geschlechterverhältnisses zusammen?
Die Analyse und Kritik der Gesellschaft und damit das Verhältnis von (Erkenntnis-)Subjekt und Objekt setzt einen bestimmten Begriff von Wahrheit voraus. Ist die Theorie wahr, das heißt, entspricht ihr die Wirklichkeit? Ist die Wahrheit nur auf der Ebene des Subjekts begreifbar? Welche Rolle spielt das Verhältnis von Subjekt und Objekt im Prozess der Wahrheitsfindung? Welche Rolle spielt die eigene Subjektposition und Identität für Theoriebildung und Erkenntnisgewinn? Der Artikel Stolz und Vorurteil. Markierungspolitiken in den Gender Studies und anderswo kritisiert ausgehend von dieser Frage die Tendenz innerhalb der Berliner Gender Studies, Identitätspolitiken gegen die Errungenschaften dekonstruktivistischer Theorien auszuspielen.
Den Beiträgen dieser Ausgabe liegen sich widersprechende Wahrheitsbegriffe zugrunde. Diese Spannung spiegelt die unterschiedlichen Positionen wider, die wir innerhalb der Redaktion beziehen, diskutieren und weiterhin diskutieren werden.
Was macht nun aber die Form der kapitalistischen Gesellschaft aus? Wie und worin besteht der Zusammenhang der Phänomene und Bereiche der Wirklichkeit der Menschen, vor allem: wie hängen diese historisch spezifische Gesellschaftsform und die Form des Geschlechterverhältnisses zusammen? Georg Lukács hat in der Tradition von Karl Marx den Begriff der Totalität geprägt, durch den der Zusammenhang von Denken und gesellschaftlichem Sein in der kapitalistischen Gesellschaft in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen der sozialen Wirklichkeit aufgezeigt werden kann. Totalität meint bei Lukács, dass sich in allen Bereichen der kapitalistischen Gesellschaft die Form der Ware wiederfinden lässt, dass alle Verhältnisse der Menschen untereinander warenförmig sind. In der Warenform vergegenständlicht sich abstrakte Arbeit, die von aller Spezifik abstrahiert, d.h. es geht nur noch darum, dass ein bestimmtes Quantum Arbeit verausgabt wird, nicht aber von welcher Art und Qualität diese Arbeit ist. In dieser Form von Arbeit drückt sich das kapitalistische Verhältnis von Mensch und Natur aus. Wird der Arbeitsprozess analysiert, stellt sich heraus, dass sich der Wert in der kapitalistischen Form von Produktion nur durch das Quantum an Arbeitszeit bemisst, das verausgabt wurde, um das Produkt herzustellen. Verwirklicht wird der Wert erst im Austausch von Ware und Geld. Georg Lukács Theorie der Gesellschaft widmet sich der Artikel Vom Fetisch zur Verdinglichung.
Was hat das nun mit dem Geschlechterverhältnis zu tun? Den Frauen wird im Kapitalismus – und das ist nichts Neues in der Geschichte der Menschen – die Reproduktionsarbeit zugewiesen, die nicht dem Prinzip der Zeitersparnis entspricht. Die wertproduzierende, abstrakte Arbeit hat an ihr ihren „Schatten“1. Das ist die These von Roswitha Scholz, die im Artikel Formprinzip der gesellschaftlichen Totalität. Wert-Abspaltungstheorem und Sexismus in Zeiten der Postmoderne erläutert und kritisiert wird. Der Kategorie Geschlecht kommt eine strukturierende und maßgebende Rolle für die „Form“ der kapitalistischen Gesellschaft zu. Den bestimmenden Zusammenhang von (Re-)Produktion dieser auf Lohnarbeit und Kapital beruhenden Gesellschaft und der geschlechtlich zugerichteten Individuen zu begreifen, wäre die Aufgabe einer auf Emanzipation der Individuen zielenden Theorie der Gesellschaft. Das Subjekt der Arbeit ist nicht ein ahistorisches, ungeschlechtliches, ungesellschaftliches sondern das konkrete Individuum so wie es lebt, arbeitet, denkt, liebt – und so wie es Mann oder Frau geworden ist. Die Subjektwerdung des Mannes vollzieht sich nun aber in der Abspaltung und Projektion der eigenen Natur auf die Frau als nur-Natur. Im Laufe der Auflösung der klassischen Rollen von Frau und Mann, werden die Frauen, wie Andrea Trumann in der ersten Ausgabe der outside the box beschreibt, doppelt vergesellschaftet. Die meisten Frauen in Europa sind heute zwar weniger gezwungen ausschließlich für Küche und Kinder da zu sein als noch vor fünfzig Jahren, zu ihrer Zuständigkeit für die Reproduktionsarbeit gesellt sich der Zwang, ebenso wie die Männer ihre Arbeitskraft auf dem kapitalistischen Markt zu verkaufen. Diese Gesellschaft – die sich eben herstellt über den beschriebenen Zusammenhang von Reproduktionsarbeit und Arbeit – bringt ein spezifisches Geschlechterverhältnis hervor und vice versa das Geschlechterverhältnis ist konstituierend für diese Gesellschaft. Eine Gesellschaftstheorie, die nicht die Besonderheit der sexistisch strukturierten Alltagserfahrung von Frauen, Lesben, Trans, Queers, … in sich aufnimmt, subsumiert diese vorschnell unter einen abstrakten Subjektstatus2. In allen Theorien lässt sich implizit oder explizit ein bestimmter Begriff von Wissenschaft finden, als Ausdruck eines bestimmten Denkens über Wissen. Der Wissenschaftsbegriff als gedanklicher, theoretischer Ausdruck der Zeit, sagt viel über die Gesellschaft aus. Theodor W. Adornos Kritik an positivistischer Wissenschaft, die sich seiner Analyse zufolge in der Fixierung auf Daten und Fakten erschöpft und die Überlegungen von Gayatri Chakravorty Spivak zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft liegen dem Artikel forms of insubordination. Ungehorsam, Kritik, Musik in essayistischem Schreiben zugrunde. Der Artikel fragt nach dem Verhältnis des Feminismus zum Essay als einer Form der Erkenntnis und des Schreibens, die den verdinglichten Zusammenhang der kapitalistischen Gesellschaft aufsprengen kann.
3. Über schreibende Feminist_innen und feministisches Schreiben
Virginia Woolf forderte 1928 in ihrem Essay Ein Zimmer für sich allein ein Einkommen von 500 Pfund für alle Frauen, um ihnen das (literarische) Schreiben zu ermöglichen3. Der Text beschreibt einerseits die historisch sich durchziehende Beschränkung der Frauen auf das Private, was die für das Schreiben notwendige materielle und intellektuelle Freiheit strukturell unmöglich macht. Andererseits handelt er von der Geschichts- und Erfahrungslosigkeit von Frauen, die wenn überhaupt als Imagination männlicher Autoren – sei`s in die poetische, (natur-)wissenschaftliche oder historiographische Literatur – Eingang gefunden hätten4.
Schreiben und das Geschriebene öffentlich zur Diskussion zu stellen ist ein wesentliches Moment von Gesellschaftskritik, die ausgehend von der Analyse der Verhältnisse auf deren Überwindung zielt. Dass Frauen, jahrhundertelang in die Passivität der Reproduktionsarbeit gedrängt, an dieser Erfahrung nach wie vor nicht gleichrangig partizipieren, beweist ein Blick in die Besetzung vieler (linker) Zeitschriftenredaktionen, der ähnlich ernüchternd stimmt wie die Geschlechter-Verteilung in Bezug auf andere Formen öffentlichen Auftretens in der linken Szene. Insofern hat die reine Frauen-Redaktion der outside the box neben vielem anderen für die Beteiligten eine Empowerment-Funktion. Zwar ist die Möglichkeit eines Zimmers für sich allein heute formal keine Frage der gesellschaftlichen Normierung mehr, sondern allein eine ökonomische. Jedoch kann die seit Woolfs Zeiten vorangeschrittene politische Gleichstellung von Frauen nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine dichotome Geschlechtertrennung konstitutiv für den Kapitalismus ist und qua Sozialisation die Subjekte durchzieht.
Dem Tatbestand der fehlenden (Re)präsentation von Frauen versuchten die historischen Frauenbewegungen immer wieder vehement entgegenzutreten. So existierte in den siebziger und achtziger Jahren in fast jeder (west-)deutschen Stadt mindestens ein feministisches Zeitungsprojekt mit überwiegend weiblicher Besetzung, auch wenn damals teilweise heftig darüber gestritten wurde, wer die Zielgruppe einer feministischen Zeitschrift sei. Zum Beispiel warf die 1976 in Westberlin gegründete Schwarze Botin der im gleichen Jahr erstmals herausgekommenen Emma _aufgrund ihres Repräsentationsanspruchs aller Frauen Antifeminismus vor. Die sich als Szeneorgan verstehende _Schwarze Botin kritisierte die von Emma vertretene Linie als essenzialisierende Affirmation einer „neuen Weiblichkeit“5. Auch wenn sich also die damaligen Projekte hinsichtlich ihres gesellschaftskritischen Anspruchs unterschieden, ist es trotzdem schade, dass die meisten von ihnen heute nur noch durch einen Gang in die Archive zugänglich sind. Zwar hat sich die Gesellschaft seit den siebziger Jahren – nicht zuletzt durch die Errungenschaften der zweiten Frauenbewegung – stark verändert; dennoch zeigt der historische Verweis, dass wir uns mit unserer Kritik und unseren Fragen nicht im luftleeren Raum befinden; dass wir vielfach darauf zurückgreifen können, was andernorts und zu anderen Zeiten gedacht und erstritten wurde.
Denjenigen, denen auf Grund ihrer geschlechtlichen Sozialisation der Mut zur Veröffentlichung ihrer gesellschaftskritischen Positionierung bislang fehlte, will outside eine Plattform sein. Auch sehen wir es im Sinne der Woolfschen Thesen als unsere Aufgabe an, die wenigen kritischen Theoretikerinnen und Künstlerinnen der Geschichte, die es zweifelsohne gab und gibt, aus der Vergessenheit oder gar Unbekanntheit hervorzuholen, wenngleich wir dies auch in dieser Ausgabe nicht systematisch betreiben.
Darüber hinaus tangiert eine Reflexion der Praxisformen des Zeitschrift Machens vor allem auch die Ausdrucksformen innerhalb der Zeitschrift selbst. Unsere These ist, dass die wissenschaftlich-abstrakte Ausdrucksform, die innerhalb linker Scenes den dominanten Äußerungsmodus darstellt, oft am Besonderen der subjektiven Erfahrung vorbei geht. Dies heißt nicht, dass wir uns einer theoretisierenden Kritik der Gesellschaft verweigern wollen.6 Vielmehr stellt sich uns die Frage, wie das Besondere, das die weibliche Erfahrung innerhalb der patriarchalen Totalität ist, ausgedrückt und gleichzeitig das Gewordensein und die Abhängigkeit von und in der gesellschaftlichen Wirklichkeit beschrieben werden kann.
Letztendlich gibt es auch in dieser Ausgabe nur wenige Beiträge, die vom wissenschaftlichen Duktus abweichen. Dies zeigt einerseits, dass es uns statt eines Pluralismus` der Ausdrucksformen um seiner selbst willen um die Ausrichtung der Form am jeweiligen Inhalt geht. Andererseits stellt dieses Heft eher den Beginn der Suche nach gesellschaftskritisch-feministischen Formen des Mediums Zeitschrift im Allgemeinen und dieses Projekts im Besonderen dar, die in den kommenden Ausgaben weiter fortgesetzt werden soll.
Von der in einem unserer ersten Gespräche zum „Form“-Thema aufgekommenen Idee, das ganze Heft nur aus Interviews zusammenzustellen, kamen wir doch recht schnell wieder ab: Wie können wir dem empirischen Charakter von Geschlecht und Gesellschaft insgesamt gerecht werden und also unsere Mütter, Freunde, Kioskverkäufer_innen mit ihren Erfahrungen ernst nehmen, ohne in einer belanglosen Beliebigkeit des Subjektiven zu verharren? Im tatsächlich gedruckten Heft ist unser Anliegen, auch Leute präsent werden zu lassen, deren Reflexion primär bei ihrer Auseinandersetzung mit dem patriarchalen Geschlechterverhältnis im eigenen Alltag ansetzt, wie in dem zum Text umgearbeiteten Interview mit Schauspielerinnen des Centraltheaters Leipzig (Im Rahmen des Programms) zu lesen ist. Außerdem findet sich in dieser Ausgabe erstmals auch eine Kurzgeschichte („Minka“). Die Artikel über den Essay als „Form“ (Forms of subordination) und über ein Zine-Projekt (Über „unangemessene Formen“) widmen sich in theoretisierender Weise der Frage nach angemessenen sprachlichen Ausdrucksformen für die Vermittlung von besonderer, geschlechtlich kodierter Erfahrung und allgemeiner Gesellschaftsstruktur.
Wie können wir dem empirischen Charakter von Geschlecht und Gesellschaft insgesamt gerecht werden und also unsere Mütter, Freunde, Kioskverkäufer_innen mit ihren Erfahrungen ernst nehmen, ohne in einer belanglosen Beliebigkeit des Subjektiven zu verharren?
Das in beiden Artikeln thematisierte essayistische, fragmentarische Herangehen ist programmatisch für unser Verständnis von kritischer Theorie insgesamt. Wir begreifen dieses Heft nicht als der Weisheit letzter Schluss, sondern als Arbeitsstand, an den in den folgenden Ausgaben angeknüpft werden soll. Statt Theorie-Bashing und Konkurrenz-Gehabe sehen wir unsere Arbeit nicht in der Bibliothek und nicht an der Druckerpresse beendet. Denn das Ziel von Artikeln besteht nicht nur darin, geschrieben, sondern gemeinsam gelesen, reflektiert und hinterfragt zu werden, solange das kritische Diskutieren die einzige Möglichkeit ist, sich in dieser abgefuckten Gesellschaft über Wasser zu halten. Diese Zeitung soll ein Gebrauchsgegenstand für die Leser_innen sein, und zwar einer, der nicht im instrumentellen Gebrauch aufgeht, sondern der der individuellen und kollektiven kritischen Diskussion und des gemeinsamen Weiterdenkens bedarf. Darum hoffen wir im Übrigen auch in den kommenden Monaten auf das Feedback der Leser_innen an uns, was sie von diesem Heft halten.
Mit der Überlegung, die Form am Gebrauch auszurichten, assoziieren wir die Debatte der zu Beginn des 20. Jahrhunderts grob als Klassische Moderne zusammengefassten angewandten Künste. Neben der Architektur rückte das Grafikdesign ins Zentrum künstlerisch-politischen Interesses. Wie unschwer zu erkennen ist, haben auch wir diesmal rege Debatten über die Gestaltung der Ausgabe geführt und kamen schließlich überein, dass sich für uns der inhaltliche Schwerpunkt formal am besten in der Organisation dieser Ausgabe in Form von losen Bögen ausdrückt. Die Abkehr vom gebundenen Heft soll den Charakter einer Material-Anordnung betonen, die den Leser_innen erstmal keine Reihenfolge oder Schwerpunktsetzung vorgibt, auch wenn jeder Bogen ein von uns vorab festgelegtes Hauptthema hat. Diese Gestaltung soll jedoch nicht als Verfahren neoliberaler Gängelung missverstanden werden, das postuliert, mal wieder alles selbst machen zu müssen. Vielmehr sollen diese Bögen als Landkarten des gesellschaftskritischen Denkens zur Verfügung stehen.
Auch wenn sich das Fragment generell dem Anspruch auf Vollständigkeit entzieht, sind wir uns bewusst, dass einige Themen entgegen unseren Absichten in dieser Ausgabe zu kurz kommen oder ganz fehlen. Dies bedeutet entweder, dass wir keine Autor_innen für ein Thema finden konnten. In Bezug auf Formen historischer Arbeiter_innenbewegungen und ihrer Bezugnahme auf das Geschlechterverhältnis war dies der Fall. Für andere Bereiche waren Autor_innen angefragt, eine Zusammenarbeit scheiterte aber an inhaltlichen Differenzen oder Zeitgründen. Eine kritische Theorie des Films, eine explizite Auseinandersetzung mit Mackertum und Quotierungsregeln bei Diskussionsveranstaltungen in der Linken waren ebenfalls im Konzept vorgesehen gewesen und werden nach Möglichkeit in den kommenden Ausgaben nachgereicht. Auch die theoretische Auseinandersetzung mit Grafikdesign als Medium wird in dieser Ausgabe nur durch einen Beitrag vertreten: Das Interview mit Wahideh Abdolvahab stellt die Frage nach dem Verhältnis von Grafikdesign und Engagement im Iran.
4. Über die Formen linker Praxis
Des Projekts der Emanzipation nimmt sich explizit die Szene an, die wir hier pauschal als antideutsche Szene bezeichnen werden. Damit meinen wir jene, die sich selbst als antideutsch und postantideutsch bezeichnet und sich von der „klassischen“ Linken mit ihrem Etatismus, Antiimperialismus und Antizionismus distanziert. Dieser Szene gilt unsere Kritik, da sie für viele aus der Redaktion nicht nur das alltägliche Umfeld bildet, sondern vor allem das eigene Denken und die eigene Auseinandersetzung mit einer Kritischen Theorie der Gesellschaft geprägt hat und prägt. Ausgehend von unseren Überlegungen zur Form von Theoriebildung wollen wir hier nicht die praktische Praxis, die oft genug schon ihres Aktionismus wegen gerügt wurde, sondern die theoretische Praxis kritisieren. Theoriebildung ist insofern immer praktisch, als dass sie sich durch und im Prozess des Diskutierens, Schreibens und Kritisierens vollzieht. Hier in Leipzig wurde in letzter Zeit öfter über die Form von Diskussionsveranstaltungen in der antideutschen Szene diskutiert. So sah sich eine Gruppe veranlasst, weil sie den Rückfall hinter bereits erreichte Standards vor allem bei Diskussionsveranstaltungen beobachtete, die Diskussion um Quotierungsfragen zu fordern, an deren Ende ein Paper mit Richtlinien für Veranstaltungen verfasst wurde.
Am Umgang mit der Kategorie Geschlecht in der antideutschen Szene kritisieren wir zweierlei: Erstens wird die Kritik des hierarchischen Geschlechterverhältnisses als zu vernachlässigendes „Thema“ verstanden und die Behandlung denen zugeschoben, die persönlich davon betroffen sind. Und zweitens wird die eigene Geschlechtersozialisation mit all ihren Folgen, wie sie sich im Miteinander zeigen, nicht reflektiert und kritisiert. Beide Aspekte hängen zusammen: Im gut gemeinten aber einseitigen Appell, Frauen sollen sich ruhig trauen auch was zu sagen, zeigt sich, wie sehr das Geschlechterverhältnis als ein Problem der Frauen und nicht als Problem der Gesellschaft verstanden wird, die dieses hierarchische Verhältnis produziert und durch dieses reproduziert wird. Als wären nicht alle Beteiligten selbst geformt und verformt von dieser Gesellschaft, verwoben mit und im Geschlecht und dem Geschlechterverhältnis, wird das eigene Verwickeltsein in und mit seinem/ihrem Geschlecht in der konkreten Praxis der Theoriebildung ungenügend reflektiert. Daher kann das „Thema“ Geschlechterverhältnis als der/dem Theoretiker_in scheinbar äußerlich gegenüberstehender Gegenstand an die abgeschoben werden, die sich daran stören.
Das eigene, durch geschlechterspezifische Sozialisation geprägte Verhalten verbleibt im Privaten, das nicht thematisiert wird. Zum Privaten zählt Vieles: angefangen von der Szeneparty, die doch nur Unterhaltung sein will, bis zum monatlichen Gang zur Arbeitsagentur oder dem Bangen um die Verlängerung des Arbeitsvertrags, vom individuellen Style bis zum persönlichen (Rede)Verhalten bei Diskussionen. Die Erfahrungen, die dabei in der Szene und außerhalb gemacht werden, sind Alltagserfahrungen von geschlechterspezifisch geprägten Individuen. So nehmen die Überlegungen zur Gründung eines Zines im Artikel Über „unangemessene Formen“. Notizen zum Politischen der Alltagskultur ihren Ausgangspunkt bei der Frage nach dem Verhältnis von Party und Politik. Warum verbringe ich die Hälfte der Zeit auf der Diskussionsveranstaltung damit, darüber nachzudenken, ob meine Frage nicht doch zu einfach, unwichtig oder gar dumm ist? Diese Alltagserfahrung und deren Reflexion scheinen mit einer Kritischen Theorie, die die Emanzipation der Individuen zum Maß und Ziel hat, nichts zu tun zu haben. Die verletzende Erfahrung der patriarchalen Norm, der frau nicht entspricht, wird nicht in die Erkenntnis und Kritik der Gesellschaft einbezogen. Die abstrakt-theoretische Rede vom Subjekt – auch wenn die unterschiedliche Subjektkonstitution von Frauen und Männern bedacht wird – vergisst, über die Träger_innen dieser Subjektivität zu sprechen. Auf diese Weise bleiben die Versuche der Kritischen Theoretisierung der Gesellschaft und des Geschlechterverhältnisses eigenartig abstrakt.
Das idealtypische Bild des kritischen Gesellschaftstheoretikers ist das des einsamen Kritikers. Dieses Bild, das sich jeder Art von regressivem Kollektiv verwehrt, ist das des bürgerlichen, autonomen, männlichen Subjekts. An ihm fügen sich die beiden konstitutiven Elemente der bürgerlichen Subjektivität, Autonomie und Naturbeherrschung, zusammen. Das Versprechen der Freiheit des Individuums ist nicht zu trennen vom notwendigen Ausschluss der Frauen von dieser Subjektivität. Das Argument, dass auch Frauen heute der Status von Rechtssubjekten zu kommt, verschweigt den Kern der bürgerlichen Subjektkonstitution: die notwendige Abtrennung der eigenen Natur und Projektion auf die Frau, die zum Nicht-geistigen, Körperlich-naturhaften wird. Das klassische Geschlechterstereotyp vom männlichen Intellektuellen verlängert sich unreflektiert in die Szene der Kritischen Theoretiker hinein.
Durch die gesellschaftliche Assoziation des Natürlichen mit dem Weiblichen wird die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper für die weibliche Subjektkonstituierung zur alltäglichen, gewaltvollen Selbstzurichtung, die auch von den reflektiertesten Theoretikerinnen nicht völlig aufgelöst werden kann. Es verwundert nicht, dass dieser gesellschaftliche Zwang als Teil des privaten Erfahrungsbereichs ebenfalls keinen Eingang in den Themenkanon der Szene findet. Aber fat is a feminist issue, schreiben die Autorinnen des gleichnamigen Artikels in dieser Ausgabe und fordern, über Körper und Körperzurichtung auch in der linken Szene zu diskutieren. Das Thema Körper wird nur außerhalb der Szene, im Bereich der Wissenschaft wie z.B. den Gender Studies verhandelt und ist in diesem Rahmen zur Modekategorie avanciert. Statt sich aber die Mühe zu machen, diese Theorien auf ihren wahren Kern und ihren möglichen emanzipatorischen Gehalt hin zu analysieren, werden sie ignoriert. Es bleibt beim analytisch unscharfen Bekenntnis, dass die Schönheitsnormen Teil der gesellschaftlichen Gesamtscheiße und deshalb abzulehnen seien.
Das eigene, durch geschlechterspezifische Sozialisation geprägte Verhalten verbleibt im Privaten, das nicht thematisiert wird.
Eine Kritische Theorie der Gesellschaft, deren Voraussetzung ein abstraktes, männliches Subjekt bleibt und die die Kategorie Geschlecht nicht als die gesellschaftliche Totalität strukturierend begreift, verbleibt im Nebel des Verdinglichungszusammenhangs. Eine wirkliche theoretische und praktische Auseinandersetzung mit dem Geschlechterverhältnis würde die Reflexion der Einzelnen über die eigene geschlechterspezifische Sozialisation und die eigene Verantwortung bei der Reproduktion geschlechterhierarchischer Strukturen, hervorgebracht durch individuelles Verhalten, zur Bedingung haben. Diese Verantwortlichkeit thematisiert der Artikel p3 – Philosophie, Politik und Parrhesia, der auf der Auseinandersetzung mit der Vorlesung Die Regierung des Selbst und der anderen von Michel Foucault basiert.
Der eigene Anspruch der antideutschen Szene könnte diese zum Ort positiver Erfahrungen machen, an dem in einer solidarischen und die persönlichen Erfahrungen respektierenden Form gemeinsam an einer Kritischen Theorie der Gesellschaft gearbeitete wird.
5. Über die Form in der Kunst
Mit der Fokussierung auf den Formbegriff in dieser Ausgabe geht es uns auch um die Frage nach dem Potenzial der Kunst in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Hier knüpfen wir an die kunsttheoretischen, -soziologischen und -historischen Arbeiten der Kritischen Theorie an, wobei neben Adorno, Marcuse und Benjamin auch auf die weniger bekannte Kritische Theoretikerin Elisabeth Lenk verwiesen sei. Ihr Essayband Kritische Phantasie behandelt zum einen das Verhältnis von Kunst(-Avantgarden) und Gesellschaft, zum anderen fragt sie darin nach der Existenz einer „weiblichen Ästhetik“.7
Der Status der Kunst als autonom, also ihre Funktionslosigkeit gegenüber der Gesellschaft, ist in sich widersprüchlich. Einerseits trägt die autonome Kunst eine affirmative Haltung zur Gesellschaft in sich, indem die Kunst aus der gesellschaftlichen Lebenspraxis heraus fällt und diese somit unbehelligt lässt. Ende des 19. Jahrhunderts kulminierte diese Geltungslosigkeit gegenüber der Gesellschaft in der Haltung L´art pour l`art. Die Autonomie der Kunst wurde als Selbstzweck enthistorisiert und überhöht. Andererseits birgt ihr Autonomiestatus die Möglichkeit zur Opposition und zur Anklage der Realität an sich. Denn einzig das Funktionslose vermag sich des Verdinglichungzusammenhangs der instrumentellen Vernunft in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu entziehen.
Das opponierende Moment der Kunst vollzieht sich in der ästhetischen Form, d.h., dass „sich eine Botschaft über ihre Form auf das Material der Mitteilung selbst bezieht“8. Der Inhalt der Kunst, der durch die Gesellschaftlichkeit des/ der Künstlers/ -in immer gesellschaftlich ist, wird durch das Moment der Form entfremdet. Dadurch erscheint die Wirklichkeit im Kunstwerk als entfremdete und somit, wie sie tatsächlich ist. So kann sie angeklagt und negiert werden. Die im Kunstwerk sedimentierte individuelle Erfahrung des Künstlers/ der Künstlerin stellt sich vermittelt durch die ästhetische Form als etwas Allgemeines dar. Stimmt man Adornos Satz zu, dass „(d)ie ungelösten Antagonismen der Realität (…) wieder (kehrten) in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form“9, stellt sich natürlich die Frage, welche ästhetischen Formen die gegenwärtige Gesellschaft zu reflektieren und anzuklagen vermag.
Dem affirmativen Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft versuchten die historischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Politisierung entgegenzusetzen. Unter dem Begriff der Historischen Avantgarden werden der Suprematismus und Konstruktivismus in Russland, der Dadaismus (in Zürich und Berlin) und der Surrealismus (v.a. in Frankreich, Spanien, Deutschland) und der italienische Futurismus subsumiert, wobei sich der Futurismus von den Erstgenannten durch seine Neigung zum Faschismus unterscheidet. Nach der Shoah und dem Aufgehen des Futurismus im Faschismus versuchten weitere (Kunst-)Strömungen die Ideen der ersten Avantgarden aufzugreifen und für ihre Zeit umzusetzen. Erwähnt seien hier Pop Art, Fluxus, der Lettrismus und die Situationistische Internationale, sowie der Wiener Aktionismus.
Das vielfach zitierte Bestreben der historischen Avantgarden, die Kunst ins Leben zu überführen, zielte natürlich nicht auf eine „Eingemeindung“ der Kunst in die bürgerliche Gesellschaft, sondern vielmehr auf deren Überwindung durch die Anwendung der Kunst-Prinzipien (Opposition zur Empirie durch die ästhetische Form) in der Gesellschaft. Sie stellten die formalen (und inhaltlichen) Konventionen, die seit der Renaissance unangefochtene Gültigkeit genossen hatten, in Frage. Beispielhaft seien das berühmte Schwarze Quadrat von Malewitsch, das die bis dato der Malerei zugeschriebene Abbildfunktion aufhob oder die typographischen Versuche der Suprematist_innen, die u.a. mit der Harmonielehre des Goldenen Schnitts brachen. Die Verfahren der Avantgarden sind jedoch nicht als bloße stilistische Neuerungen abzutun. Vielmehr ging es ihnen um eine Selbstkritik der Institution Kunst, die eine Veränderung der gesellschaftlichen Funktion von Kunst, der künstlerischen Produktions- und der Rezeptionsweisen intendierte. Ziel war die Emanzipation der Gesellschaft.
Dieser emanzipatorische Anspruch der Avantgarden gilt heute als gescheitert; die Kulturindustrie und die Institution Kunst erwiesen sich als flexibel genug, die Provokationen der Avantgarden zu integrieren und sie sogar tonangebend für das Selbstverständnis der Institution Kunst werden zu lassen. Ein Pissoir im Museum erregt heute keinerlei Aufsehen mehr, vielmehr wird es als Kunst rezipiert und dadurch seines engagierten Gehalts entledigt.
Eine Kritische Theorie der Gesellschaft, deren Voraussetzung ein abstraktes, männliches Subjekt bleibt und die die Kategorie Geschlecht nicht als die gesellschaftliche Totalität strukturierend begreift, verbleibt im Nebel des Verdinglichungszusammenhangs.
Offensichtlich ist auch, dass die Gesellschaftskritik der Avantgarden in der Auslassung der Kritik des Geschlechterverhältnisses mindestens eine Leerstelle aufweist. So waren es oftmals die filmischen und fotografischen Darstellungen von Frauen, die im Surrealismus die Suche nach den verborgenen, unbewussten Traumbildern der Gesellschaft ausdrücken sollten. Damit knüpften die Avantgarden an die repressive Geschlechtervorstellung des Naturwesens Frau an, wie das Interview Know your avantgarde history mit Martin Büsser näher beleuchtet. Andererseits gab es wenige Ausnahmen weiblicher Avantgardistinnen, von denen einige auch in ihrer Arbeit kritisch zum Geschlechterverständnis ihrer männlichen Kollegen und der Gesellschaft Stellung bezogen. Berühmte Beispiele sind hier Hanna Höchs Collagen von Mädchen-Köpfen. In dieser Ausgabe widmet sich der Artikel Je me vois donc je suis dem Werk und der Lebensgeschichte der Surrealistin Claude Cahun, über die im Gegensatz zu männlichen Vertretern dieser Strömung bis heute vergleichsweise wenig bekannt ist.
Die Geschichte der Avantgarde zu thematisieren, geschieht weder in der Absicht, aktionistische Gebrauchsanleitungen für die Gegenwart zu fertigen, noch in die euphemistische Überhöhung jener „wilden“ zwanziger Jahre einzustimmen, als welche die geschichtsvergessene deutsche Erinnerungspolitik die Avantgarden nicht selten instrumentalisiert. Trotzdem soll durch den Verweis auf die Avantgarden in dieser Ausgabe danach gefragt werden, inwieweit ästhetische Formen als Ausdruck konkreter, individueller Erfahrung mit allgemeinen, gesellschaftlichen Verhältnissen auch für heutige Gesellschaftskritik fruchtbar gemacht werden können. Wann und ob das gelingt, kann hier nicht abschließend diskutiert werden. Die Beiträge zur gegenwärtigen Kunstproduktion sind daher eher als vereinzelte Schlaglichter und nicht als umfassende Analysen des Verhältnisses zwischen Kunst und Gesellschaft anzusehen. Der Artikel Schauplatz der Möglichkeiten beleuchtet die Möglichkeiten und Grenzen der Überwindung des Geschlechterverhältnisses anhand einer aktuellen Performance aus Berlin. Im Interview mit Schauspielerinnen des Centraltheaters (Im Rahmen des Programms) geht es um Produktionsweisen und die künstlerische Praxis eines Theaters, dessen ästhetische Formen von Publikum und Medien zwar als politisch motivierter Bruch mit den Konventionen betrachtet wurden, inhaltlich jedoch ein regressives Geschlechterverhältnis reproduziert. Der Artikel Die Farbe der Mode beschreibt das Phänomen Mode zwischen emanzipatorischem Potenzial als Alltagskunst und kulturindustrieller Vereinnahmung. To be continued.
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Scholz, Roswitha: Wert und Geschlechterverhältnis, in: Streifzüge 2 /1999 ↩
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So meint Marx, dass die Prostituierte Ausdruck für die kapitalistische Prostitution aller Menschen sei. Er ignoriert damit die klare Geschlechterverteilung von Prostitutionsverhältnissen.Marx-Engels-Werke, Bd. 40, S. 538. Das Gleiche behauptete später auch Jean-Luc Godard über die Prostituierte in seinem Film Die Geschichte der Nana S. von 1962. ↩
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Woolf, Virginia: Ein Zimmer für sich allein. Aus dem Englischen von Renate Gerhardt. Frankfurt a. M. 1994. ↩
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Im Zuge der zweiten Frauenbewegung der 70er Jahre wurden Woolfs Thesen aufgegriffen und weiterbearbeitet, allen voran in: Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a. M. 1979. Allerdings wird hier der ideologische Charakter der männlichen Bildproduktion des Weiblichen als einzige überlieferte Existenzweise von Frauen überbetont. ↩
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Vgl. Deuber-Mankowsky, Astrid/ Konnertz, Ursula (Hrsg.): Feministische Zeitschriften. Tradierung und Geschichte. Die Philosophin. Forum für Feministische Theorie und Philosophie. Heft 32. Tübingen 2005. ↩
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Jedoch gab es feministische Positionen, die sich ausgehend von einem „weiblichen Wesen“ auf die Suche nach „genuin weiblichen“ Ausdrucksformen begaben, die der mit Männlichkeit assoziierten Rationalität und Wissenschaftlichkeit entsagen würden. Zum Beispiel wäre hier die Debatte des „Weiblichen Schreibens“ zu nennen. ↩
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Lenk, Elisabeth: Kritische Phantasie. Gesammelte Essays. Berlin 1986. ↩
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Schweppenhäuser, Gerhard: Ästehtik. Philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Frankfurt a.M. 2007. ↩
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Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 1995. S.16. ↩