P³ – Philosophie, Politik und Parrhesia
Das Phänomen des Wahrsprechens in der Vorlesung "Die Regierung des Selbst und der anderen"¹ von Michel Foucault: Versuch einer Antwort auf die Frage, wie sich Foucaults Ausführungen zur parrhesia queerfeministisch lesen lassen.
Spielplatz: Ein Kind schaukelt, sieht im hin und her einen Kreis von anderen Kindern, die sich stärken, indem sie ein anderes schwächen, hin und her geschubst, im Kreis. Das Kind springt von der Schaukel, stapft durch den Sand, stellt sich in den Kreis und sagt: „Lasst das.“
Hörsaal: Eine Professorin doziert über die Naturwüchsigkeit von Geschlecht. Eine Studentin im ersten Semester steht auf, weiß um das Beben ihrer Stimme, weiß darum, dass es die anderen wissen, unterbricht den Redefluss ihrer Dozentin und sagt: „Das ist offenkundig sexistische Kackscheiße, die Sie da von sich geben.“ Das Phänomen des Wahrsprechens in der Vorlesung “Die Regierung des Selbst und der anderen”1 von Michel Foucault: Versuch einer Antwort auf die Frage, wie sich Foucaults Ausführungen zur parrhesia queerfeministisch lesen lassen.
Zwei Geschichten, der gleiche Akt. Die parrhesia. Das Wahrsprechen, die ganze Wahrheit sprechen, in einfachen Worten, die verletzen können, die Sprecherin ebenso wie die Hörerin. Denn die Parrhesiastin ist diejenige, die der Anhörenden untersteht, die ihr ausgesetzt ist, die weniger Macht besitzt. Verletzt sie diese, bringt das ihre eigene Existenz in Gefahr. Deshalb braucht es zur parrhesia Mut, viel Mut, der dazu befähigt, alles aufs Spiel zu setzen, den eigenen Ruf, die soziale Stellung, das eigene Leben. Mit diesem Phänomen beschäftigt sich Michel Foucault in den letzten Jahren seines Lebens, indem er Texte von Plutarch, Platon und griechische Mythen in Hinblick auf das antike Wahrsprechen analysiert und in den Kontext seiner Theorie des Subjekts einbettet. Die Vorlesung, die er im Frühjahr 1983 zur parrhesia hielt, Die Regierung des Selbst und der anderen, erschien im Oktober letzten Jahres in deutscher Sprache.
Perikles – zwischen politischer parrhesia und paradoxer Demokratie
Auch wenn Foucault sich der Geschichte nicht widmete, um in ihr konkrete Antworten für die Gegenwart zu finden, hat er sich doch immer mit gegenwärtigen Fragen ausgerüstet, um sich seinen Weg durch die Geschichte zu bahnen. Mögliche aktuelle Fragen, die Foucault beim Sprechen über die parrhesia begleitet haben, könnten sein: Wie kann die Einzelne Kritik am Bestehenden üben? Wie finden wir zu einem kritischen Selbst- und Weltverständnis? Und was ist Kritik überhaupt? Diese Fragen führen Foucault zu den antiken Figuren Perikles und Sokrates, die in seinen Augen beide Parrhesiasten sind, obwohl sie auf jeweils andere Weise, an verschiedenen Orten wahrsprechen. Perikles hat seinen Ort in der Vollversammlung der Polis. In der erhitzten Debatte über die Frage, wie sich die Athener im Krieg gegen die Spartaner zu verhalten haben, steht er auf, spricht die parrhesia gegen die Meinung aller anderen, um seiner Wahrheit treu zu bleiben, hofft, dass ihm die anderen zustimmen werden und fürchtet, dass sich die Menge gegen ihn stellt, ihn beschimpft, verbannt oder tötet. Diese Form des Wahrsprechens nennt Foucault die politische parrhesia, die in der Öffentlichkeit stattfindet. Im Gegensatz zur Meinung, die sich annehmen lässt oder auch nicht, ist die Wahrheit nach Foucault eine Erkenntnis, die das ganze Sein der Sprecherin durchdringt und ausmacht. Um Wahrheit zu erkennen, fragten die Griechen weniger danach, ob eine Aussage wahr ist oder falsch, ob sie einem außersprachlichen Gegenstand entspricht oder nicht, sondern ob diejenige, die sie spricht, sich ganz mit ihrer Wahrheit verbunden hat. Der sicherste Beweis dafür, dass jemand tatsächlich Parrhesiastin war, zeigte sich in der Bereitschaft, für die eigene Wahrheit Gefahren einzugehen.
Eine solche Darstellung des Parrhesiasten, der sich der gesamten Menge mutig als Einzelner entgegenstellt, reproduziert auf diese Weise das Ideal des einsamen und zumeist männlichen Kritikers, dessen Wahrheit umso wahrer zu werden scheint, desto weniger Menschen sie teilen.
Das war in der Polis zu Zeiten Perikles noch möglich, nicht aber in der Spätantike, die Sokrates und Platon erlebten. Grund hierfür war die komplexe Beziehung zwischen der politischen parrhesia und der demokratischen Ordnung der Polis, die Foucault als das Paradoxon der Demokratie bezeichnet und die ebenso die Basis wie die Bedrohung des Wahrsprechens in der Polis darstellen. Einerseits ist die Redefreiheit eine Bedingung der Demokratie, alle Mitglieder des demos müssen sprechen können. Andererseits kann die politische parrhesia aber nur von Einzelnen gesprochen werden, die sich gegen die Masse stellen. Tun das alle, tut es wieder keine. Auf diese Weise gefährdet die parrhesia die Demokratie, weil sie Unterschiede in das demokratische Grundprinzip der Gleichheit bringt. Andererseits gefährdet die Gleichheit der Rede auch die parrhesia, denn wenn alle ohne Risiko und Gefahr reden können, dann verkommt das Wahrsprechen schnell zum Geschwätz. In diesem Fall gerieren sich alle als einsame Parrhesiastinnen und bestätigen sich zugleich unkritisch gegenseitig in ihrem scheinbar kritischen Selbst- und Weltverhältnis, das außer der stetigen Bestätigung der eigenen Meinung keinerlei Folgen nach sich zieht. Auf diese Weise stellt die demokratische Gleichheit, welche die Redefreiheit garantiert, eine Bedrohung für die parrhesia dar. Die Folgen der Paradoxa der Demokratie, die sich in der Spätantike zu Zeiten Sokrates realisierten, sind Herrschaft und Beliebigkeit als ständige und zugleich notwendige Gefahren, so Foucault. Herrschaft und Beliebigkeit sind damit ständige und zugleich notwendige Gefahren, die aufgrund der Paradoxa der Demokratie Folgen der politischen parrhesia sein können, die sich in der Spätantike zu Zeiten Sokrates realisierten, so Foucault. Auf diese Weise wurde das politische Wahrsprechen zur Farce: niemand sprach sie mehr, um der eigenen Wahrheit treu zu bleiben, sondern nur um die eigene Macht zu vergrößern. Und zugleich erzielte das Wahrsprechen, das nur um seiner selbst willen gesprochen wurde, keine Wirkung mehr. Die Redefreiheit wurde zwar gewährt, aber nur, weil die Reden frei von Folgen blieben.
„Durch welche Wahrheiten bin ich die geworden, die ich bin? Und will ich die bleiben, die ich wurde?“
An dieser Stelle hält Foucault im Vorlesen inne und macht den einzigen unmittelbaren Sprung von der Antike zu seiner Gegenwart von 1983. Das Jahr, in der die anfangs euphorisch aufgenommenen ökonomischen Umstrukturierungsversuche der sozialistischen Partei Mitterands zu eklatanten Haushalts- und Stimmenverlusten führen. Währenddessen stehen einige Überbleibsel von außerparlamentarischen Gruppen, unter ihnen vielleicht die ein oder andere ehemalige Genossin Foucaults aus den 50ern, an den Fabriktoren, drücken frisch gedruckte Revolutionsaufrufe in die müden Hände von Arbeiterinnen, denen der lang ersehnte Feierabend sehr viel naheliegender scheint als der Sozialismus. Tatsächliche und radikale Veränderungen sind also weder von realpolitischen Maßnahmen durch das Parlament zu erhoffen, noch von außerparlamentarischen Grüppchen, die die Weltrevolution ebenso fest ins Herz geschlossen, wie die eigene Ohnmacht innerhalb der realen Machtverhältnisse aus den Augen verloren haben. Was nun?
Sokrates – zwischen philosophischer parrhesia und Schierlingsbecher
Foucault lässt sich nicht dazu verleiten, Konzepte und Rezepte vorzulegen, deren konsequente Befolgung zu einer befreiten Gesellschaft führen. Er hat keinen politischen Masterplan in der Tasche, aber einen planvollen Umgang mit Geschichte und ein präzises Wissen von ihr. Foucault sucht Verbündete in der Vergangenheit und findet Sokrates, vertieft ins Gespräch mit seinem Schüler Alkibiades. Was auf den ersten Blick wie eine freundliche Unterhaltung aussieht, ist tatsächlich eine Prüfung der Wahrheit, der Verhältnisse und des Selbsts. Dies ist die philosophische parrhesia, die aus dem Wechselspiel von Dialektik und Psychagogie entsteht. Dialektik meint dabei die Technik, wie sich durch das Wahrsprechen das ‚wahre’ Sein der Dinge erkennen lässt, Psychagogie dagegen die Weise, wie das Wahrsprechen auf die Seele der Sprecherin wirkt. Beides hängt unmittelbar zusammen. Wer sich zum Beispiel mit der historischen Gewordenheit von Geschlecht auseinandersetzt und nicht die Geschlechter selbst, sondern deren Konstruktion als wahr (an)erkennt, wird sich nicht mehr als naturwüchsig männlich verstehen können, denkt bei der Kategorie Mann die Anführungszeichen mit. All die Wahrheiten, die uns konstituieren, die Wahrheiten über die Erfüllung des Lebensglücks durch Lohnarbeit, Familie, Religion etc., werden im philosophischen Gespräch einer Prüfung durch die Dialektik unterzogen. Und zugleich prüfen sich die Gesprächspartnerinnen selbst durch die Psychagogie. Die dialektische Frage „Welche der herrschenden Wahrheiten halte ich selbst für wahr?“ zieht zugleich die psychagogischen Fragen nach sich: „Durch welche Wahrheiten bin ich die geworden, die ich bin? Und will ich die bleiben, die ich wurde?“ Wer im kritischen Dialog die gegebenen Wahrheiten der gegenwärtigen Gesellschaft prüft und sich bewusst wird, durch diese konstituiert zu sein, ohne sie bejahen zu können, wird zu anderen kritischen Wahrheiten finden, welche von den dominierenden (Wahrheits-)Normen abweichen und befindet sich damit unmittelbar im Widerspruch zur Gesellschaft. Auf diese Weise stellt die Foucaultsche Darstellung des Sokrates die Idee einer Politik der ersten Person dar, die nicht auf das eigene Ich fixiert bleibt, aber bei diesem beginnt. Wenn das Individuum ein gesellschaftlich und historisch gewordenes ist, dann beinhaltet die Selbstkritik unmittelbar die Kritik an der Gesellschaft. Diese nimmt im intimen vertrauten Gespräch ihren Anfang, findet ihren Ausdruck aber im politischen Handeln. Sokrates wird nicht im philosophischen Gespräch verharren, er wird im politischen Bereich agieren, aber nicht im Namen abstrakter Großkonzepte, sondern um seiner Wahrheit treu zu bleiben wird er Höhergestellten als Parrhesiast entgegentreten, wird Befehle verweigern, bereit, das eigene Leben in Waagschalen und Giftbecher zu legen, um sich nicht zu widersprechen und damit dem eigenen Anspruch zu genügen.
Philosophie als Politik der ersten Person oder postmoderner Pop?
Sokrates Leben erscheint damit als der Inbegriff einer Sorge um sich, die sich in der Sorge um die Welt realisiert, und gerade nicht als egozentrische Nabelschau, als welche die Subjekttheorie Foucaults oft von Kritikerinnen verstanden wurde. Mit Foucault lässt sich zwar kein Befreiungskampf für andere im Namen universeller Werte starten. Der Widerstand gegen die Verhältnisse beginnt beim Unbehagen, bei der Erniedrigung, bei der Einschränkung der Einzelnen, die die eigenen und damit stets auch die gesellschaftlichen Grenzen in Hinblick auf ein Mehr an individueller Freiheit zu erweitern versuchen. Auf diese Weise wird zwar der Dogmatismus von Ideologien vermieden, aber idealisiert dieses Konzept der individuellen Politik nicht den willkürlichen Umgang mit politischen Positionen, der sich so oft unter dem Deckmäntelchen der Toleranz verbirgt? Der Vorwurf der Beliebigkeit wurde Foucault ebenso häufig entgegen gebracht wie der der Determination durch Diskurse. Wenn es nicht mehr eine Wahrheit gibt, sondern viele, gibt es sie dann überhaupt noch? Auf was können wir uns noch berufen, wenn diese Wahrheiten auch noch unsere Berufung darstellen, wenn wir weniger etwas mit Wahrheiten machen, als dass sie uns ausmachen? Foucault überlässt uns keinen neutralen Standpunkt, kein Außerhalb der Macht, von dem aus Stellung bezogen werden könnte, stattdessen sind wir alle durchzogen von Machtstrukturen, Knotenpunkte innerhalb von Machtnetzen. Das heißt aber gerade nicht, dass wir als Marionetten an den unsichtbaren Fäden eines Machtspiels Bewegungen ausführen, die nicht unsere eigenen sind und die Fäden Fesseln wären. Vielmehr gilt es, die Muster des Machtfeldes zu kennen, um der einen oder anderen Machtbeziehung einen Strick zu drehen und dadurch den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Wahrheiten konstituieren uns, machen uns erst zu Frauen und Weißen, Alten und Männern, Schwarzen und Jungen und es gilt, sich gegen die Zuschreibungen zur Wehr zu setzen, die uns einschränken und jene zu stärken, die uns ein Mehr an Freiheit versprechen, ohne von einem fixen Ort der Freiheit auszugehen. Wenn Macht produktiv ist, uns erst hervorbringt, dann ist es uns auch möglich, uns produktiv zu ihr zu verhalten, unser Gewordensein als Chance zum Anderswerden zu begreifen. Auf diese Weise lässt sich die philosophische parrhesia als eine mögliche Erwiderung auf den Vorwurf der Determination lesen, die gegen Foucault so häufig erhoben wurde.
Und tatsächlich lässt sich das Wahrsprechen nicht inhaltlich bestimmen, vielmehr ist es gerade einer seiner Kennzeichen, ohne normative Größen auszukommen. Stattdessen ist es ausschließlich die Form, mittels derer sich das Wahrsprechen von terroristischen Aktionsformen abgrenzt.
Die Kritik an einer Situation, in der Meinungen beliebig austauschbar sind und keine Werte mehr zählen, gab es zu allen Zeiten. In den letzten zwanzig Jahren wird sie gerne mit dem Etikett der Postmoderne versehen, und das Päckchen mit Ressentiments und verkürzter Kritik an Foucault oder Butler auf eine Reise geschickt, deren Ziel meist die Adressatinnen sind, die den Inhalt ohnehin schon kennen und bejahen. Tatsächlich kritisiert Foucault selbst in der Vorlesung Die Regierung des Selbst und der anderen anhand der Paradoxa der Demokratie Zustände, in denen Wahrheiten zu Meinungen werden, die sich wie Kleidung an- und ablegen lassen. Politische Veränderungen sind tatsächlich nicht mehr möglich, wenn sich niemand mit der selbstgeprüften Wahrheit verbindet, wenn die im kritischen Denkprozess erlangten Erkenntnisse im Handeln und Sein der Personen keinen Ausdruck finden oder finden können. Die Kritik an (neo-) liberaler Beliebigkeit, die Foucault so häufig entgegengehalten wurde, ist auf diese Weise in seinem Konzept der philosophischen parrhesia aufbewahrt. Wenn innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft Redefreiheit in der Praxis die Freiheit der Rede von Wirkung meint, dann können wir auf politische Reden in Parlamenten und Gremien keine Hoffnung mehr setzen. Wir bleiben auf diese Weise auf uns zurückgeworfen und damit auf die Frage, wer wir sind und wie viele Möglichkeiten wir verwerfen mussten, um die zu werden, die wir wurden.
Parrhesia und queerfeministische Praxis
Fragen dieser Art wirken ebenso befreiend wie beängstigend. So liegt ein Grund für den stetigen Hass auf feministische Theorien und Praxen ebenso wie der Spaß an ihnen in der Tatsache begründet, dass ihr Fokus nicht auf einen fernen Zustand nach der gelungenen Revolution gerichtet ist, sondern auf Praxen im Hier und Jetzt, auf Veranstaltungen, auf Parties und in Betten, wo sie ihre Wirkung zeigen und verändert werden können. Wie diese Freiheit aussieht, wo sie erlebbar wird, lässt sich nicht durch politische Großkonzepte festschreiben und fixieren, sondern wird in individuellen Praxen herauszufinden sein. Während in den 80er Jahren von vielen Feministinnen bestimmte Berufe, (sexuelle) Handlungen oder Kleidungsstücke als emanzipatorisch, andere als unterdrückend wahrgenommen wurden, steht es unter queerfeministischen Prämissen jeder einzelnen Person selbst zu, zu erfahren, wo sich für sie Freiräume schaffen lassen, die ihr aufgrund ihrer individuellen und zugleich gesellschafts- und geschlechtsspezifischen Geschichte bislang verwehrt blieben. Aber auch wenn es keine normativen Geländer gibt, an denen es sich festhalten kann, um Schritte in Richtung Emanzipation zu wagen, so braucht es doch andere Hände, Körper und Stimmen, mit denen es sich austauschen und bei denen sich Halt finden lässt. Der eigene Weg kann nur mit anderen zusammen entdeckt werden. Nicht selten wird queeren Theorien und Praxen vorgeworfen, dass sie durch die bewusste Wahl vager Bezeichnungen und der Vermeidung von fixen Identitäten zur („postmodernen“) Vereinzelung beitrügen, und Handlungsfähigkeit unmöglich machten. Wer kann noch tätig werden, wenn es keine Täterin hinter der Tat gibt? Die Tat selbst und die Subjekte, die erst durch Taten zu solchen werden. Die Aktionsformen der queeren Bewegungen entstanden als Reaktion auf eine zerklüftete und zersprengte Politlandschaft, in der sich schwarze Feministinnen von weißen ausgegrenzt sahen, Transpersonen von Homos, Homos von Heteros. Die Hasskampanien, die im Zuge von AIDS gegen alle gerichtet waren, die nicht ins heterosexistische Raster passten, führte zu einer Bündnispolitik, die sich gerade gegen die Separierung richtete und zugleich durch den offenen Begriff queer möglichst vielen Menschen die Möglichkeit gab, sich angesprochen zu fühlen und diesen Begriff für sich in Anspruch zu nehmen. Wir brauchen keine feste Identität, um Politik zu machen, vielmehr wird die Identität zum politischen Betätigungsfeld. Während sich diese Einsicht bereits in den Abhandlungen zu Foucaults parrhesia findet, fällt die Suche nach einem gemeinsamen politischen Sprechen und Handeln in der Konzeption des Wahrsprechens ergebnislos aus. Sokrates agiert im politischen Bereich allein, spricht als einzelner Heros seine parrhesia. Dadurch vernachlässigt Foucault in seiner Vorlesung den Umstand, dass auch die selbstgeprüfte Wahrheit aus mehreren Mündern gesprochen, mehr Wirkung erzielt, als durch eine einzelne Stimme. Eine solche Darstellung des Parrhesiasten, der sich der gesamten Menge mutig als Einzelner entgegenstellt, reproduziert auf diese Weise das Ideal des einsamen und zumeist männlichen Kritikers, dessen Wahrheit umso wahrer zu werden scheint, desto weniger Menschen sie teilen.
In der politischen Praxis Foucaults fand das Wissen um die Notwendigkeit des gemeinsamen politischen Handelns dagegen ständigen Ausdruck. Die Not derer, die in Gefängnissen eingeengt waren oder auf offenem Meer trieben, blieb im Sinne einer Sorge um sich auch stets seine eigene, der er nicht als einzelner Kritiker gegenüber stand. Stattdessen bildete Foucault gemeinsam mit anderen durch Petitionen, Interviews und Demonstrationen ein Sprachrohr für jene, die kaum gehört werden, ohne für sie zu sprechen. Die Gefahr, dabei das Megaphon vor die falschen Münder zu halten, bleibt bei dieser Form der Politik ein ständiges Risiko, wie sich an Foucaults Position zur iranischen Revolution zeigt. Nicht selten wird diese politische Fehleinschätzung Foucaults als Hinweis dafür verstanden, dass normative und universelle Grundlagen doch notwendig seien, um kulturrelativistischen Tendenzen entgegenzutreten. Lässt es die Konzeption der parrhesia nicht zu, dass sich ihrer auch Terroristinnen bedienen könnten? Stehen die nicht auch mutig für ihre Wahrheit ein, um den Preis ihres Lebens? Wenn sich die parrhesia nur durch formale Kriterien auszeichnet und frei von jeder inhaltlichen Bestimmung ist, lässt sie sich dann nicht ebenso von Kräften nutzen, denen sich Foucault selbst entgegenstellte? Und tatsächlich lässt sich das Wahrsprechen nicht inhaltlich bestimmen, vielmehr ist es gerade einer seiner Kennzeichen, ohne normative Größen auszukommen. Stattdessen ist es ausschließlich die Form, mittels derer sich das Wahrsprechen von terroristischen Aktionsformen abgrenzt. Die parrhesia ist eine Form der Kritik, die nicht zu politischem Aktionismus führt, sondern als negative Kritik verstanden werden muss, als Unterlassung, Verweigerung, Verneinung von Befehlen und Anforderungen. Eine Kritik, die ihre Form in Sprache und Verweigerung findet, erscheint für terroristische Aktionen kaum nutzbar.
Im Schein der Einheitlichkeit und Kohärenz, mit der Foucault selbstironisch sein eigenes Denken bedachte, je näher sein Tod rückte, wirken seine Vorlesungen zum Wahrsprechen zum einen wie eine Verortung des eigenen kritischen Selbst- und Weltbezugs. Zum anderen lässt sich die Arbeit zur parrhesia als Aufforderung an Foucaults Leserinnen verstehen, aufgrund einer Sorge um sich, aufgrund des festen Willens sich selbst und der eigenen Wahrheit zu entsprechen, allem konsequent und permanent zu widersprechen, was dieser nicht entspricht und damit diejenigen in die Grenzen zu weisen, die uns die Möglichkeit nehmen, unsere eigenen zu überschreiten.
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Foucault, Michel: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/1983. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 2009. ↩