Ein Interview mit BBZN
Über die Situationistische Internationale (SI) und die Möglichkeit der Erweiterung ihrer Spektakelkritik um eine Kritik am Geschlechterverhältnis.
Die Situationistische Internationale entstand Ende der fünfziger Jahre, vorwiegend in Paris, aus verschiedenen politischen und künstlerischen Strömungen. Sie war angetreten, die Sphären von Kunst und Politik sowie das entfremdete kapitalistische Alltagsleben zu überwinden. Experimentelle, spielerische Techniken (u.a. Entwendung, Zweckentfremdung, Psychogeographie, Umherschweifen), sollten zur “Konstruktion von Situationen” führen, um mit deren Hilfe die revolutionären Bedürfnisse des Proletariats freizulegen und damit die kommunistische Revolution in der Vorstellung überhaupt wieder möglich zu machen. In ihrer theoretischen Arbeit diagnostizierte die SI, dass die kapitalistische Gesellschaft seit den zwanziger Jahren in einen neuen Zustand eingetreten sei. Diese Diagnose führte dazu, dass die SI die Marxsche Fetischkritik durch ihre Spektakelkritik1 aktualisierte. War bei Marx Mittelpunkt der Kritik noch die entfremdete, abstrakte Arbeit auf der Grundlage des Wertgesetzes, so integrierte die SI nun auch stärker die Freizeit-, Alltags- und Konsumtionssphäre in ihre Analyse. Das Spektakel bezeichnet den Zustand der kapitalistischen Gesellschaft, in dem die Wert- und Warenform alle Bereiche des Lebens bestimmt, die Bedürfnisse der Menschen formt und diese zu passiven, kontemplativen ZuschauerInnen sowohl in der Produktion als auch in der Konsumtionssphäre macht: „Das Leben lebt nicht, sondern überlebt.”
OTB: Die Kritik der Gesellschaft des Spektakels, wie sie von der SI vorgetragen wurde, weist eine Leerstelle auf im Bezug auf die Kritik des Geschlechterverhältnisses / der Geschlechtertrennung. Außerdem war der Anteil der Frauen in der SI gering. Wie kam es zu dieser Leerstelle? Könnten die Allgemeinheit des Spektakelbegriffs und die abstrakte Beschreibung der Alltagswelt vielleicht Gründe dafür sein?
BBZN: Wir können heute erst deutlicher sehen, wie anfänglich-rudimentär die Wahrnehmung der Gesellschaft des Spektakels in der kritischen Theorie der Situationist_innen zwischen 1957-72 noch war, wie wenig konkret sie in jenen Jahren noch blieb, sodass sie die spektakuläre Reproduktionstotalität noch kaum auf ihren Begriff zu bringen vermochte. Zwar macht etwa Guy Debords Spektakelkritik die Kritik der politischen Ökonomie zur Basis seiner materialistischen und historischen Bestimmungen des Spektakels – : „das Kapital, das zum Bild wird“, die spezialisierte Gewalt an der Wurzel der arbeitsteiligen und klassengesellschaftlichen Trennungen, d.h. die Subsumtion der Individuen unter die Proletarisierung der Welt, dennoch bleibt die Analyse dabei noch in der flächigen Sammlung jener unzähligen Aspekte des verkehrten Ganzen hängen, in denen sich die Totalität der spektakulären Warenproduktion wechselseitig spiegelt. Hier zeigt sich immer noch eine mangelnde Tiefenschärfe dieses Weiterentwicklungsversuchs der Kritik der politischen Ökonomie.
Heute ist insbesondere die Ausblendung der zwei historischen Momente von geschichtstheoretischer Tragweite für jede moderne Revolutionstheorie bzw. kritische Theorie frappierend: zum einen die fundamentale Trennung des (Menschen-)Geschlechts als Moment der Kontinuität der leeren, mythischen Zeit der Vor-Geschichte der menschlichen Gattung, wie es sich konkret-alltäglich entlang der Arbeits- und Rollenteilungen nach „sex“ bzw. „gender“ „naturwüchsig“-naturgeschichtlich reproduziert. Nicht einmal das Patriarchat wird in Die Gesellschaft des Spektakels benannt, höchstens implizit schimmert es unter den Kennzeichnungen „des Archaischen“, der vorkapitalistischen und spektakulär kapitalistisch modernisierten „Hierarchien“ durch, so vor allem indirekt in der Kritik der Familie. Und andererseits blendet die ganze situationistische Geschichtstheorie den wirklich eingetretenen Bruch der Geschichte aus. Sie vermeidet es, das Moment der radikalen historischen Diskontinuität, das sie im Gegensatz zur Linken gerade als Ausgangspunkt für jede Möglichkeit einer Neuerfindung der Revolution erkennt und benennt, ganz konkret an der gattungsgeschichtlichen Katastrophe der Shoah zu markieren. Was im Jahr 1940 bereits Adorno von den USA aus hatte diagnostizieren müssen: die gigantische historische Verschiebung als Resultat des NS, dass anstelle des revolutionären Proletariats nunmehr „die Juden“ für die antisemitische Gesellschaft „den Gegenpunkt zur Konzentration der Macht darstellen“, diese epochale Verschiebung haben die Situationist_innen (aus Gründen, über die wir an anderer Stelle nachgedacht haben) immer ignoriert. Mit dieser konkretisierungsverweigernden Geschichtsblindheit innerhalb ihres Geschichtsbewusstseins zusammenhängen muss auch ihre Wahrnehmungsschranke angesichts der gattungsgeschichtlichen Trennung in den ganz basalen, alltagskonkreten Formen von Patriarchat und heterosexistischer Matrix.
Angesichts dieser Doppelung drängt sich das situationistische Bild vom Proletariat auf: Mit dessen Bewahrung als unversehrtem revolutionären Subjekt der modernen Geschichte scheint die Verdrängung sowohl seines Versagens gegenüber der Shoah wie seiner Ersetzung als Gegenpunkt zur Konzentration der Macht zusammenzuhängen. In dem Text Basisbanalitäten von Raoul Vaneigem, der ersten elaborierten Darlegung der situationistischen Spektakeltheorie, erschienen in der S.I. Revue N°8/1963 und N°9, tritt der regressiv-antikapitalistische Zug im Proletarierbild der SI besonders deutlich hervor.
Das Bild vom revolutionären Proletarier – Körperbild der Männlichkeit, etwa vom Typus Durruti, jedenfalls junger und nichtintellektueller Fabrik- oder Landarbeiter, einigermaßen klassenbewusst und lesehungrig – wird von der SI als Leitbild immer hochgehalten und verdeckt die Ambivalenz des historisch-empirischen Proletariats. Der situationistische Hang, auf der Ebene der Theorie, nämlich in der Dimension der Bilder und Sprachbilder, dem Proletariat ein latent vorhandenes Klassen- und Geschichtsbewusstsein zuzuschreiben, das es nun lediglich noch zur Sprache zu bringen gilt, ist eine Schwäche der Konkretion, die in der Bildlichkeit der SI zutage tritt: Was sie als Gesten der latent klassenbewussten Proletarität verstehen will, sind Gesten der „Männlichkeit“.
Was die vorgeblich kritische Darstellung des Alltagslebens betrifft, so ist die situationistische Deutung von mehr oder weniger sexistischen Gesten und Blicken auf „schöne Frauen“ penetrant. Die geradezu obsessive Zurschaustellung (der Busen) von Callgirls, Mannequins etc. sowie „eigenen Gefährtinnen“ in der Gestaltung der Revue und in den Filmen von Guy Debord, der sich damit zugleich als libertin stilisiert hat, gehören gewiss zu den abstoßendsten und anachronistischsten Seiten der SI in ihrer Zeit. Denn das situationistische Spiel mit der spektakulären Bildlichkeit, die mit der Reproduktion der „Ware Sex“, der Frau als Sexualobjekt und der „Frau als Ware“ einhergeht, geht an einer Kritik der Geschlechterrollen vorbei. Stattdessen suggeriert es immer wieder das Leitmotiv der „Frau als Verkörperung des Begehrens“, und zwar des „männlichen“, schlechthin. Zwar wird hier die Verstellung, Verunmöglichung, Unterdrückung „der Begierden“ und „des Lebens“, das sich in jene Bilder nackter Frauen und Partialobjekte der „Weiblichkeit“ verflüchtigt hat, denunziert; die Sexualisierung und Genderisierung des „revolutionären“ Begehrens wird darin jedoch, wenn auch provokatorisch, reproduziert.
Die geradezu obsessive Zurschaustellung (der Busen) von Callgirls, Mannequins etc. sowie „eigenen Gefährtinnen“ in der Gestaltung der Revue und in den Filmen von Guy Debord, der sich damit zugleich als libertin stilisiert hat, gehören gewiss zu den abstoßendsten und anachronistischsten Seiten der SI in ihrer Zeit.
Dasselbe gilt für das krude situationistische Postulat der Befreiung des Lebens und des Erlebten, die damals einfach als Freisetzung der sexuellen Bedürfnisse à la Jean Voyers Wilhelm Reich – Gebrauchsanleitung (1971) missverstanden wurde. Seit dem rollback der Erhebungen um 1968 wissen wir, was es mit der sogenannten sexuellen Revolution auf sich hatte: Das Kapital hat die Libido endgültig auf seine Seite gebracht. Reichs „Sexualökonomie“ ist in das selbstregulierte Alltagsleben der Kern-, Rumpf- oder Ersatzfamilie (Freundeskreise etc.) der party generations und ihrer Neosexualitäten längst eingegangen. Und die hellsichtige Diagnose von Herbert Marcuse hinsichtlich einer gesellschaftlichen Tendenz zur „repressiven Entsublimierung“, die wir heute als faktischen Patt-Zustand zusammen mit einer nur repressiven Sublimierung, die den „Triebschicksalen der Gesellschaft“ eine weitere kapitalistische Triebspannung auferlegt, thematisieren müssen, hat die SI damals ebenso ignoriert. Die Kritik des „Unbehagens in der Kultur“, das bereits S. Freud als psychosexuellen Grund für die Selbstzerstörung der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung benennt, wurde von den Situationist_innen damals zwar aktualisiert, aber nicht analytisch scharf gemacht. Die vernünftige Abstraktion wurde dadurch zu einer leeren Abstraktion.
Die SI hat bezüglich ihres Frauenbilds die surrealistische, u.a. auf Baudelaire zurückgehende Utopie des Weiblichen entwendet und weiter zu modernisieren versucht, nämlich das tendenziell androgyne Leitbild von der emanzipierten Frau als der „Hure“ und der „Lesbierin“. Da die SI immer programmatisch mit Fourier und Marx die Emanzipation der Frau als Frau zum Maßstab der gesellschaftlichen Emanzipation erklärt – etwa auch den Ideologen der Linken, Proudhon, wegen seines Antifeminismus verwirft und den Islam nicht zuletzt wegen seiner Frauenunterdrückung vernichtend angreift -, lässt die situationistische Matrix damals auch schon weibliche Homosexualität gelten. Tendenz und Orientierung der SI gehen schon ab Mitte der 1960er Jahre auf Entdinglichung, d.h. Aufhebung auch der sexuellen Rollenklischees und Teilungen innerhalb der sexuellen Emanzipation, die die SI, leider nicht explizit genug als Restitution des polymorph-perversen Triebwesens im Sinne der Freudschen Begrifflichkeit dem revolutionären Begehren eingeschrieben wissen will. Der Widerspruch tritt demgegenüber um so schärfer zutage im Verhalten und im Gestus des konkreten situationistischen Stils: Immer müssen es in höchstem Grad Aktive sein, und immer führen sie „mit Wut den Krieg der Freiheit“: ob als „lonesome wolves“ (einsame Wölfe) auf eigene Rechnung (wie der Westernheld Johnny Guitar in dem Film Die Gesellschaft des Spektakels), als „enfants perdus“ (verlorene Kinder) oder als „Klasse des Bewusstseins“ in Form der ungeteilt bewaffneten Rätemacht. In Debords Filmen wimmelt es von strategischen und taktischen Kriegs-Szenarios.
OTB: Denkt ihr, der männliche Gestus der SI, der durch die Idealisierung des Proletariats als kämpferisch und widerständig entstand, ist der Grund für den geringen Anteil an Frauen in der SI? Wie gingen denn die Situationistinnen damit um?
BBZN: Dass die Welt der SI so unübersehbar kriegerisch ist, wirkte sich gewiss als abweisender, ja abstoßender Effekt dieses Kosmos gegen alles sogenannte Weibliche aus, und dazu passt eben, dass „das Weibliche“ in der Bildlichkeit der SI zumeist als passives Objekt der Begierde formbestimmt durch aggressiv Besitz ergreifende „männliche“ Blicke figuriert.
Übrig blieben in der SI – da sie es dort am längsten aushielten – die der Männerwelt angepassten, „starken“ Frauen – analog etwa dem Bebelwort zu Rosa Luxemburg und Clara Zetkin als „den einzigen Männern in der Sozialdemokratie“. Zu nennen sind hier die einigermaßen bekannt gewordenen Situationistinnen Michèle Bernstein und Jacqueline de Jong. Letztere hat in einem Interview über die Rolle der wenigen weiblichen SI-Mitglieder ernüchtert berichtet, wie diese zum großen Teil durch ihre Arbeitskraftverausgabung in und außerhalb der alltäglichen Lohnarbeit jahrelang die SI-Organisierung, im Wesentlichen die Erstellung der Zeitschrift ermöglicht haben, nicht zuletzt indem sie männliche Mitglieder, die keiner Lohnarbeit nachgingen, existenziell über Wasser hielten. Michèle Bernstein plagiierte bzw. zweckentfremdete hierzu um 1960 zwei Romane, die den Stil des nouveau roman parodierten und heute in englischer, aber noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegen: Tous les Chevaux du Roi und La Nuit. Darin schildert sie die, wie wir sie heute nennen, polyamourösen Beziehungen der Pariser Situationist_innen um sie selbst und ihren Genossen Guy Debord. Von diesem hat sie sich, als ihr das alles endgültig zu viel wurde, kurz vor 1968 getrennt, zudem trat sie aus der SI aus.
Die bisher vorliegenden Analysen der Rolle und des Lebens der Situationistinnen sind sehr spärlich.2 Der kleine, eigentlich nur graphisch experimentierende Darstellungsversuch im b_books-Verlag Situationistinnen und andere enttäuscht, weil er eher idealisiert, „verweiblicht“ verklärt, begriffslos bleibt.
Also um das noch einmal zusammenzufassen: Das Bild des Kriegers – ein spezifisches, neuartiges, modernisiertes, nämlich gedoppelt mit dem des libertin, des Spielers -, das unbewusst das dominierende Leitbild in der SI war, kann zurückgeführt werden auf ihre Angst vor der Vernichtung, deren traumatisierenden Beginn sie in der Vernichtung der alten revolutionären Arbeiterbewegung(en) als Kinder erlebt hatten. Sie nahmen sich nach 1945 als „enfants perdus“ wahr. In diesem Selbstentwurf als Aufhebung-der-Avantgarde (politisch-revolutionär wie kunstmodernistisch) richteten sie ihr strategisches Konzept der „Konstruktion von Situationen“, der Neuerfindung proletarischer Revolution in der Moderne derartig auf „Kriegs-Kunst“ aus, dass das ohnehin als bloßes Überleben verachtete profane Alltagsleben einerseits in seiner Konkretion weitgehend verdrängt wurde – und mit ihm das Thema der Widersprüche von „sexes“ und „gender“ -, andererseits der emphatische Bezug auf das wirkliche und mögliche Leben als treibender Kraft eines communistischen Begehrens mehr und mehr zu einer Abstraktion geriet, die dann der spektakulären Waren-Bilder-Welt der toten, aufgehäuften Arbeit entgegengehalten wurde. In diesem abstrakten Selbstbild des Krieg spielenden Heranwachsenden war die Trennung des Geschlechts für die Situationisten „noch nicht einmal ein Nebenwiderspruch“ wie etwa im Marxismus-Leninismus.
Schließlich klammerte sich die situationistische Bildlichkeit an einer positiven, als „männlich“ konnotierten vergangenen Gestalt der revolutionären Arbeiterbewegung fest, obwohl die Theorie des Spektakels in der Hegel-Marx-Linie sehr richtig den Begriff vom Proletariat als „der negativen Seite der bestehenden Gesellschaft“, ihrer Negation und Schattenseite durchsetzt, als deren Teil sich die SI versteht. Da sie jedoch diese Negation der Negation und das damit einhergehende Katastrophische der Möglichkeit und mit der Shoah auch der Wirklichkeit in ihrem Revolutionsgeschichtsbild nicht zulassen „kann“, friert sie die positive Gestalt von 1936 (Durruti etc.) als Bild vom modernen Proletariat ein, für dessen Wiederkehr sie arbeitet und dessen „Werte“ sie „zu leben“ versucht: als Krieger-Künstler wider Willen.
OTB: Wie tauglich ist denn in euren Augen die Theorie des Spektakels für eine Kritik des Geschlechterverhältnisses? An welchen Stellen in der Theorie seht ihr da Anknüpfungspunkte?
BBZN: Wir denken, dass die beiden blinden Flecken sich am ehesten durch die Weiterentwicklung der Spektakelkritik selbst überwinden lassen, da diese wie kaum ein anderer Ansatz der kritischen Theorie des Communismus auf die materialistische Analyse der inneren und äußeren Bilder abhebt, die mit der kapitalistischen Warenproduktion reproduziert und zirkuliert werden, und somit auch immer eine Selbstkritik des eigenen Verblendungszusammenhangs ermöglicht.
Auf die Weise, wie die warenproduzierende Klassengesellschaft den privaten Vereinzelten ihre Gesellschaftlichkeit als „gesellschaftliche Hieroglyphen“ (so Marx in der Fetischismusanalyse) zurückspiegelt, so durchformt sie auch auf der Ebene der Triebe und der Bedürfnisstruktur die „gender“- und „sexes“-Körperbilder und role models in der Trennung des (menschlichen) Geschlechts. Diese Projektionen und Selbstbilder können weit über den Zeithorizont jener Situationist_innen hinaus kritisiert und aufgehoben werden. Die Spektakeltheorie treibt ja nicht nur die Kritik der politischen Ökonomie, sondern auch die Methode des dialektischen Bildes von Walter Benjamin weiter, d.h.: den mythischen Leerlauf der herrschenden Bilder der bisherigen katastrophischen Klassengesellschaft in ihrer modernsten kapitalistischen Form (Kulturindustrie etc.) stillzustellen, zu brechen und in die Selbstaufhebung des Proletariats zu wenden, d.h. Sprengen der materialisierten Ideologie, um die Klassen- wie Geschlechtertrennungen der Subjekte aufzukündigen. Die SI hat als erste damit begonnen - wenn auch mit ihren eigenen unangetasteten Verblendungen -, diese Aufhebung der Trennungen nicht auf den Zeitpunkt nach dem utopischen big bang einer mythischen, politisch-ökonomischen „Revolution“ zu verschieben, sondern sie im Hier und Jetzt des kapitalistischen Alltagslebens zu postulieren, so dass eine Kettenreaktion der „konstruierten Situationen“ ausgelöst werden kann.
Das heißt, dass sie das Theorie-Praxisverhältnis in einer avancierten Weise thematisiert und damit experimentiert hat, was auf die Art heute einmal theoretisch diskutiert wird, denn Ansätze wie etwa von Judith Butler sind nach wie vor akademisch eingebundene, von der Sprecherposition und ihrem Ort der Theoriebildung durchdrungene und gehemmte Formen der Kritik. Dadurch, dass die SI sich von vornherein außerhalb des kapital- und staatsgebundenen Wissenschaftsbetriebs verortet hat, wiewohl in ständiger Nutzung und Entwendung der staatlich eingebundenen gesellschaftskritischen Theorien und Kunst, konnte sie sich als selbständige Theoriebildung und als Teil des Proletariats, das heißt angesiedelt unter den Lohnabhängigen und prekarisierten Leuten im Alltag, definieren. Gegenüber der staatlichen Theoriebildung von akademischem Feminismus und gender studies, die mit all ihren Vorteilen des hochvergesellschafteten „general intellect“ immer auch Ideologiebildung ist, ist der Ansatz der Anti-Staatlichkeit der SI ein ungeheurer Vorteil, weil er sprengende und effektive Ideologiekritik erlaubt. Die SI hat ein Arsenal von psychogeographischen Postulaten und Bilderkritik aufgebaut, das wir nicht entbehren können, wenn wir heute die akademischen Theorien erweitern und sie materialistisch, ideologiekritisch über sich hinaustreiben wollen.
Travestiespielartige Formen des Umcodierens und Umpolens der Geschlechtertrennung und Geschlechterrollen hatten durchaus enorm befreienden und emanzipatorischen Charakter, aber sie sind schnell in einen Leerlauf geraten, weil sie in ihre Kritik der Geschlechterrollen die Grundlagen der Produktionsweise nicht mit einbezogen haben.
Ein weiterer Mangel dieses akademischen Geschlechterkonstruktivismus ist, dass er in einer idealistischen Weise das Naturverhältnis und das Körperwesen Mensch, d.h. die Frage nach dem materiellen Lebensprozess zum Teil ausblendet oder aus ganz bestimmten Gründen, die selbst ideologiekritisch benannt werden könnten, unbefriedigend behandelt. Hier hat die SI an einer Methode der Marx-Hegel-Linie festgehalten, die das Naturverhältnis und das Geschlechterverhältnis in einer Weise thematisiert, die brauchbarer ist als eine bloße konstruktivistische Bestimmung: nämlich die Aufhebung der Trennung des Geschlechts auf allen Ebenen der Totalität zu thematisieren, zu denken zu wagen und nicht Denkverboten und Sprachregelungen des Akademismus anheim zu fallen, die bestimmte staatliche ideologische Funktionen erfüllen. Das wären die Punkte der Spektakeltheorie, an denen man anknüpfen könnte, was natürlich noch gründlicher auszuführen wäre.
OTB: Wäre das die einzige revolutionäre Praxis, die du gerade siehst? Also die einzige Praxis, die auf alle Ebenen der Totalität zielt?
BBZN: Die SI hat als eine der ersten Bewegungen den Split in Hauptwiderspruch, Nebenwiderspruch, Geschlechterbeziehungen und Klassenwiderspruch aufgekündigt, dabei aber so weit die Trennung der Geschlechter verdrängt und vergessen, dass sie noch nicht mal mehr Nebenwiderspruch war. Der zentrale Punkt ist, dass die Aufhebung des Geschlechts und des Proletariats nicht zu trennen sind, sie sind zwei Aspekte derselben Bewegung. Beide sind „ein Ort der Auseinandersetzung“, wie Butler es für das Geschlecht formulierte. Das ist die situationistische Kritik der Trennungen, die auch auf das Geschlechterverhältnis anzuwenden wäre: die Klassentrennung, die Trennung der Menschen nach Nationen, die Trennung von Gesellschaft und ihrer Macht, über die Lebensbedingungen zu verfügen, die Trennung des Geschlechts, die Zuschreibung und Naturalisierung des Geschlechts in den verschiedenen antagonistischen Formen im Patriarchat, in der Familienform usw., der Aktiv-Passiv-Dualismus, die „naturwüchsige“ Teilung der Arbeit, die sich in Geschlechterrollen sedimentieren und reproduziert werden – dass all diese Trennungen ein und dasselbe sind und in einem Prozess aufgehoben werden müssen.
BBZN (Negator): Daraus ergibt sich noch eine notwendige Frage auf einer weiteren Ebene von Praxis, nämlich wie man solche Debatten organisiert, wie man sich assoziiert, damit solche Sachen überhaupt nicht mehr in getrennten Kämmerchen ablaufen. Das ist für mich das eigentlich Interessante. Wir hängen nicht an diesem SI-Kram, wir wollen ihn lieber heute als morgen los sein, sobald das geht. Aber um ihn loswerden zu können, muss man es eben hinbekommen, sich so zu assoziieren, dass man genau diese Sachen ständig am Wickel hat – also das was sie gebracht haben, das was sie nicht gebracht haben. Aber wie kriegt man das hin, sich außerhalb der Akademie auf so einem Niveau zu assoziieren, um die Debatten und die Untersuchungen zu führen? Das ist für mich eine wahnsinnig praktische Frage.
OTB: Da würde ich gerne noch mal nachhaken, ob ihr ausgehend von der Spektakelkritik teilweise ein Potential in einer queeren Praxis, im Spiel mit Geschlecht seht und wo es Probleme gibt. Ihr hattet ja schon ein bisschen die theoretischen Probleme, z.B. mit dem Naturbegriff, angedeutet.
BBZN (Negator): Vorab: Einen Bezug auf J. Butler kann es für uns nur als Entwendung geben. Jenseits ihres akademischen „Fachbereichs“ erweist sie sich, wie der poststrukturulalistische Mainstream, als Fleisch vom Fleisch einer vollends auf den Hund gekommenen Linken: Sie spricht sich 2006 bei einem teach-in an der University of California in Berkeley für den Boykott israelischer Universitäten aus und findet, „understanding Hamas, Hezbollah as social movements that are progressive, that are on the Left, that are part of a global Left, is extremely important.“ Und auch ihr eigenes Arbeitsfeld wie auch die Dekonstruktion scheinen nur für bestimmte Gesellschaften Gültigkeit zu beanspruchen zu können, denn wo „die wichtigen kulturellen Bedeutungen der Burka, wie sie für Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und Religion, zu einer Familie, zu einer umfangreichen Geschichte von Verwandtschaftsbeziehungen steht“, zeige sich, „dass sie eine Übung in Bescheidenheit und Stolz, einen Schutz vor Scham symbolisiert und dass sie auch als Schleier dient, hinter dem und durch den weibliche Handlungsfähigkeit wirken kann.“3
Darüber hinaus glaube ich erstens, dass es ein Problem mit der Rezeption von Butler in Deutschland gibt, das ist eine elende Rezeption: lustige Innenstadtaktionen, der Pink & Silver Block, … Man ist einfach so schnell auf der richtigen Seite, wenn man bestimmte Formeln einhält. Ich glaube dass der materielle Prozess, das was die globale gesellschaftliche Gesamtarbeiterin zurechtstutzt und presst und formt und umgießt usw. selber immer wieder Sachen aufsprengt. Vieles erledigt sich sozusagen unter unseren Füßen, hinter unserem Rücken und wird tatsächlich von den materiellen Verhältnissen schon aufgesprengt. Gleichzeitig passiert aber auch aufklärungsdialektisch das komplette Gegenteil, dass es total regressiv läuft. Ich glaube, dass die Frage der queeren Praxen den eigentlichen Problemen, die Leute haben, nicht gerecht wird, die aus irgendwelchen Gründen queer sind und Homophobie usw. ausgesetzt sind. Das was ich so mitbekomme an Versuchen queerer Praxen, wird dem schmerzhaften Prozess, zum Geschlechtssubjekt gehämmert worden zu sein, nicht wirklich gerecht.
Was sie als Gesten der latent klassenbewussten Proletarität verstehen will, sind Gesten der „Männlichkeit“.
BBZN (Zwi): Ich würde das etwas anders akzentuieren. Travestiespielartige Formen des Umcodierens und Umpolens der Geschlechtertrennung und Geschlechterrollen hatten durchaus enorm befreienden und emanzipatorischen Charakter. Sie sind aber schnell in einen Leerlauf geraten, weil sie in ihre Kritik der Geschlechterrollen die Grundlagen der Produktionsweise nicht mit einbezogen haben, wie das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit sowie die Wert- und Warenform, und last but not least die Klassentrennung. Auf diese Weise wird die Kritik fragmentarisiert, was, denke ich, schon Anfang 2000 mit den Pink-Silver-Praxisformen deutlich wurde.
Wenig später wurde das dann auch thematisiert, dass so ein Springen zwischen den vorhandenen Polen nur eine neue unbewusste Form ist, Geschlechterrollen zu reproduzieren. Übrig bleiben wiederholt nur Stereotype und das Abgegessene und Abgeschmackte dieser Formen, wie sie inzwischen in Szenen und linken Szenen und linken Freiräumen sozusagen gang und gäbe sind. Das ist so langweilig geworden, dass alles darauf hindeutet, dass es nicht weitergeht mit diesem Teil der wirklichen Bewegung.
An dieser Stelle wäre die tiefere Analyse der Bilder von Geschlecht und Geschlechtertrennung zu betrachten, also wie die Bildersprache und die Symbolsprache der Performativität sich reproduziert, das wäre zu verbinden mit einer Kritik der politischen Ökonomie. Da gibt es auch schon gewisse Ansätze, die sich radikalisieren lassen, wie die Kritik der libidinösen Ökonomie, die eigentlich damit einhergehen muss. Da könnte man eine Kritik der Formen des Begehrens und der Kritik der Sprache im umfassenden Sinne anschließen, die nicht absieht von dem Gewicht der naturbedingten und körperbedingten Präformationen, sondern diese thematisiert und die Sprache nicht mehr zur Totalität schlechthin macht. Marx hat immer betont, Geld hat zwar eine symbolische Funktion wie Sprache, aber Geld ist keine Sprache. Stattdessen wird gegenwärtig vielfach einfach die politische Ökonomie zur Sprache erklärt: die Sprache des Geldes, die Sprache des Kapitals, alles ist nur noch Sprache. Man macht es sich zu leicht, wenn man meint, alles sei nur noch Sprache und man könne einfach durch die Änderung der Sprache - wie wir sie kennen, also als Sprachgebrauch, als p„arole“ - die materielle Realität des materiellen Lebensprozesses, die Reproduktionstotalität ändern.
Gegenüber der staatlichen Theoriebildung von akademischem Feminismus und gender studies, die mit all ihren Vorteilen des hochvergesellschafteten „general intellect“ immer auch Ideologiebildung ist, ist der Ansatz der Anti-Staatlichkeit der SI ein ungeheurer Vorteil, weil er sprengende und effektive Ideologiekritik erlaubt.
Das ontologische Programm von Marx ist ja, dass alle Naturbedingungen selbst umgewälzt werden können. Dazu müssen sie aber in ihrer Naturwüchsigkeit und Hartnäckigkeit ontologisch, also als eine Seinsart, die eben nicht gesellschaftlich und nicht bewusst ist, sondern als das tote Gewicht begriffen werden. Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der Arbeit, und die Geschichte ihrer Aufhebung kann auch nur die Aufhebung des Geschlechts als Natur, als biologisches Geschlecht sein. Und dazu gibt es heute viel mehr Möglichkeiten, als man sich früher, zu Marxens Zeiten oder auch zu Zeiten der SI, überhaupt vorstellen konnte. „Das Geschlecht ist eben eine Natur, eine biologische Größe und lässt sich nicht ändern.” Genau das wird von der Marxschen Methode in Frage gestellt, und das gilt es auch als eine Kritik der Bilder zu thematisieren, die es mit Natur und Körper zu tun haben. Diese Bilder, ihre polymorph-perversen Verwirklichungen, also das System der Inversion, der Perversion im Freudschen Sinne, müssen wir viel radikaler angreifen und angehen und damit kühn experimentieren innerhalb der Zwänge der bestehenden Normen. Das ist unmittelbar mit der theoretischen Praxis verbunden, denn ohne Theorie könnten diese queeren Spiele, die selbst einen großen emanzipatorischen Fortschritt der wirklichen Bewegung bedeuteten, doch an die Wand gefahren und nicht radikalisiert werden.
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Siehe Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Das Buch, 1967 erschienen, führt in 222 Thesen die situationistische Kritik aus, ist jedoch nicht die erste und auch nicht die letzte Gesamtanalyse der spektakulären Warengesellschaft. ↩
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Vgl. zu Michèle Bernstein etwa: Andrew Hussey, The Game of War (Debord-Biographie 2001), zu Jacqueline de Jong ein Kapitel in: McKenzie Wark, 50 Years of Recuperation oft the Situationist International. 2007. ↩
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Butler, Judith: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt a. M. 2005. S. 168. ↩