Überlegungen zur Kritik der Gesellschaft
Replik auf den Artikel P³ – Philosophie, Politik und Parrhesia
Der volle Name der outside the box bezeichnet gleichzeitig ihr Programm: Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik. Was bedeuten diese Begriffe? Was ist feministische Gesellschaftskritik? Über diese Frage gab und gibt es innerhalb der Redaktion immer wieder Diskussionen und oft keine Einigkeit. Diese Uneinigkeit findet ihren Niederschlag in den Beiträgen der Zeitschrift selbst, denen teilweise - wie im Editorial der letzten Ausgabe der outside the box geschrieben wurde - sich ausschließende Theorien und widersprechende Begriffe von Gesellschaft, Wahrheit, Subjekt zugrunde liegen. Ich möchte mit diesem Beitrag die Diskussion um die Frage, was Gesellschaftskritik1 ist, in der Auseinandersetzung mit dem Artikel P³- Philosophie, Politik und Parrhesia von Hannah Holme aus der zweiten Ausgabe der outside the box weiterführen. Es geht mir darum zu zeigen, wie bestimmte theoretische Annahmen und Voraussetzungen mit einer Theorie der Gesellschaft, die wirkliche Kritik derselben ist, unvereinbar sind. Dieser Streit, zu dem der folgende Artikel sicherlich zugeordnet werden kann, firmiert unter bekannten Schlagworten wie Poststrukturalismus bzw. postmoderne Theorie versus Materialismus bzw. Kritische Theorie bzw. materialistische Dialektik etc. Was diese Bezeichnungen und Begriffe genau meinen ist nicht Gegenstand dieses Artikels. Entscheidend ist vielmehr, dass die Auseinandersetzung mit dem Artikel Teil einer Auseinandersetzung um grundsätzliche Fragen ist. Grundsätzliche Fragen, die nicht übergangen und deren Antworten nicht unsystematisch zusammengeworfen oder in ihren dazwischen aufklaffenden Kluften gekittet werden können. Es geht mir also um die Frage wie die den Beiträgen in der outside the box zugrunde liegende Theorie und Methode beschaffen sein muss, wenn unsere Zeitschrift ihrem Anspruch gerecht werden will, Gesellschaftskritik zu betreiben. Der folgende Artikel entspricht nicht der Position der gesamten Redaktion.
Das Wahrsprechen
Im Artikel_ P³ – Philosophie, Politik, Parrhesia_ in der zweiten Ausgabe der outside the box wird die Praxis des „Wahrsprechens“ als kritische und widerständige Praxis vorgestellt. Mit diesem Akt des Wahrsprechens, der parrhesia heißt, beschäftigte sich Michel Foucault in seinen Vorlesungen 1983. Der Artikel P³ – Philosophie, Politik, Parrhesia stellt dieses Konzept von Foucault dar. Wahrsprechen bedeutet, dass eine Person alleine gegen die Mehrheit ihre Wahrheit spricht und dabei als Person von dieser Wahrheit durchdrungen ist. Vielleicht mag die Praxis des Wahrsprechens zunächst nachvollziehbar erscheinen, kennen die meisten doch Situationen aus ihrem eigenen Alltag, in denen es wichtig und richtig ist, gegen die Mehrheit zu sprechen, die eigene Position alleine gegen jene der anderen zu verteidigen und sich dadurch angreifbar zu machen. Die bewusst inhaltslose, also rein formale Bestimmung von Wahrheit mag auf den ersten Blick durch ihre Offenheit bestechen.
Ist nicht die Amokläuferin, die unter ihren Mitschülerinnen leidet, auch eine Wahrsprecherin, weil sie so völlig durchdrungen und überzeugt von ihrer Wahrheit ist, dass sie andere und sich selbst tötet?
Niemand gibt den Inhalt der Wahrheit vor, allein die Einzelne stellt in einer bestimmten Situation die Wahrheit durch den Akt der parrhesia her. Dadurch soll der Gefahr des dogmatischen Festhaltens an einer inhaltlichen Wahrheit und der Gefahr, über die individuellen Bedürfnisse der Einzelnen hinweg zu gehen, entgangen werden. Der Inhalt gilt dem Konzept des Wahrsprechens als veränderlich, nur herstellbar von der Einzelnen. Dass die Wahrheit ihr Kriterium darin findet, dass ich sie alleine und durchdrungen von ihr gegen die Mehrheit spreche, bedeutet, dass ich selbst mitsamt meiner Erfahrung den Maßstab bilde. So heißt es in dem Artikel auch, dass „[d]er Widerstand gegen die Verhältnisse […] beim Unbehagen, bei der Erniedrigung, bei der Einschränkung der Einzelnen“2 beginne. Jedoch leuchtet mir nicht ein, weshalb eine Einzelne, also eine gegen die Mehrheit sprechende Minderheit Recht haben, Wahrheit sprechen und richtige Kritik üben sollte, nur weil sie das quantitative Kriterium erfüllt, alleine zu sprechen. Warum sollte diese Widerständigkeit emanzipatorisch und unterstützenswert sein? Ist nicht die Amokläuferin, die unter ihren Mitschülerinnen leidet, auch eine Wahrsprecherin, weil sie so völlig durchdrungen und überzeugt von ihrer Wahrheit ist, dass sie andere und sich selbst tötet? Darauf könnte mit Verweis auf die im Artikel vorgestellte parrhesia geantwortet werden, dass das Konzept des Wahrsprechens eines der „Unterlassung, Verweigerung, Verneinung von Befehlen und Anforderungen“3 ist und somit die Amokläuferin in ihrem Aktionismus keine Wahrsprecherin. Aber ist nicht gerade der Verzicht auf Gewalt eine sehr richtige Anforderung zum Beispiel des Staates an seine Bürgerinnen? Was ist also der Maßstab nach dem die Anforderungen unterschieden werden? Und kann nicht auch die Verweigerung falsch sein? Wie zum Beispiel in Lars von Triers Film Europa, in dem der junge Protagonist nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs es unterlässt, die NaziverschwörerInnen zu melden, obwohl er selbst nach Deutschland kam, um beim Aufbau einer demokratisch-freiheitlichen Gesellschaft mit zu helfen. Vielleicht könnten die, die das Konzept des Wahrsprechens für richtig halten, entgegnen, dass dieser Protagonist wohl doch nicht von seiner Wahrheit durchdrungen war, vielleicht sogar gleichgültig und so nicht bewusst den Akt der Verweigerung vollzog, den die parrhesia meint. Doch wie kann der Grad der Durchdringung gemessen werden? Woher weiß ich, ob ein Akt tatsächlich die parrhesia ist und nicht nur so scheint? Und was ist mit der Mitschülerin in meinem schwäbischen Dorf, die als Einzige in der Klasse von ihrer pietistisch protestantischen Wahrheit so durchdrungen war, dass sie uns an die Lehrerin verpfiff, wenn wir die im Supermarkt nebenan geklauten Zigaretten in der Pause zum Flurfenster hinausgelehnt rauchten? Sprach sie wahr oder könnte hier geantwortet werden, dass sie im Namen einer größeren Wahrheit und nicht ihrer eigenen einzelnen gehandelt hatte? Doch was bedeutet eigene Wahrheit und was meint diese Bezeichnung in Anbetracht dessen, dass wir alle in einer Gesellschaft leben, die unsere Vorstellungen und Bedürfnisse geprägt hat? Hier hilft auch das Kriterium der Einzelheit gegen die Mehrheit nicht weiter, denn die Mitschülerin ist eine Einzelne gegen die Gruppe der Raucherinnen, diese wiederum aber eine Minderheit gegenüber der Mehrheit von Lehrerinnen, Eltern etc. Verstrickt sich die parrhesia nicht selbst durch ihr formales Kriterium in Widersprüche und Ungenauigkeiten?
Form und Inhalt
Ich möchte noch einmal zum Anfang zurück kehren, zur Bestimmung der Wahrheit im Wahrsprechen. Das Kriterium für Wahrheit und damit für Kritik ist es, alleine durchdrungen von meiner Wahrheit gegen die Mehrheit zu sprechen. Der Inhalt ist somit nicht vorgegeben, sondern wird von mir selbst im Akt des Wahrsprechens hergestellt und ist damit veränderlich. Doch was ist mit der Form? Sie scheint gleich zu bleiben. So wie sich Wahrheit bei Sokrates darüber bestimmt, dass er gegen die Mehrheit spricht, so bleibt diese Form das Kriterium der Wahrheit für die heutige Wahrsprecherin. Das bedeutet aber, dass die Form der Wahrheit der Geschichte enthoben wird, überhistorisch zu gelten scheint. Es mag plausibel scheinen, dass es immer Einzelne gegeben habe, die mutig sich gegen die Mehrheit stellten, auch wenn sie dafür mit dem Tod bedroht wurden. Doch was ist damit ausgesagt? Nichts weiter als dass es immer Ungerechtigkeit und Herrschaft gab, gegen die sich Einzelne aus ihrer Erfahrung heraus gestellt haben.
Die Kritikerin muss danach fragen, was die historischen und gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Kritik sind.
Wie sich in der Geschichte diese Herrschaft und Ungerechtigkeit ihrem sozialen Inhalt nach und wie sich demnach die Erfahrung der Herrschaft und das Sich-Auflehnen verändert hat, wäre aber gerade das Interessante. Es müsste also analysiert und kritisiert werden, was das Spezifische der gegenwärtigen Herrschaft ausmacht und wie der Widerstand (sei es regressiver, sei es freiheitlicher) von dieser Form der Herrschaft bedingt ist. Das wäre also - mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass es keine Form ohne Inhalt, keinen Inhalt ohne Form gibt - der Versuch zu erklären, wie das Konzept des Wahrsprechens mit der gegenwärtigen Gesellschaft zusammenhängt - um so nicht nur abstrakt und allgemein zu bleiben und damit über die Wirklichkeit der heute lebenden Menschen mit ihren Erfahrungen hinweg zu gehen, die eben nicht mehr unter den gleichen Bedingungen wie Sokrates leiden. Die Kritikerin muss danach fragen, was die historischen und gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Kritik sind. Diese Kritik der Bedingungen der eigenen Kritik müsste der Versuch sein, sowohl den Inhalt als auch die Form dieses Inhalts aus dem bestehenden gesellschaftlichen Ganzen, aus dem Zusammenhang der kapitalistischen Gesellschaft zu erklären. Den Zusammenhang zwischen dem im Konzept des Wahrsprechens vorliegenden Denkens und der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft kann ich hier nicht in der nötigen Genauigkeit darlegen. Ich finde es aber auffällig, dass der Maßstab der Kritik (die Einzelne als Einzelne) ein Produkt der Entwicklung der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft ist, ohne dass dieses im Artikel als solches erkannt würde. Erst mit der Herausbildung einer Gesellschaft, in der alle freie und gleiche Lohnarbeiterinnen und Rechtssubjekte sind, wird auf allen Ebenen der Gesellschaft vom freien Individuum gesprochen. Das freie Individuum wird in der neuzeitlichen Philosophie zum Maßstab und zum methodischen Ausgangspunkt sowohl in der Erkenntnistheorie als auch in der Sozialphilosophie und Staatstheorie.4 Die Form des Wahrsprechens, als Einzelne zu sprechen, ist ebenso ein historisches Produkt wie der Inhalt, der mit dieser Form entstanden und von ihr nicht trennbar ist: die individuelle Freiheit. Ohne diesen Zusammenhang deutlich machen zu können heißt es im Artikel P³ – Philosophie, Politik und Parrhesia dann auch wie oben schon zitiert: „Der Widerstand gegen die Verhältnisse beginnt beim Unbehagen, bei der Erniedrigung, bei der Einschränkung der Einzelnen, die die eigenen und damit stets auch die gesellschaftlichen Grenzen in Hinblick auf ein Mehr an individueller Freiheit zu erweitern versuchen“.5 Mit der Form des Wahrsprechens ist unausgesprochen doch ein Inhalt verbunden, der für alle plausibel erscheint, weil er ein universeller Wert dieser Gesellschaft ist. So wird auch klar, weshalb die Amokläuferin, der Protagonist des Films Europa und die Mitschülerin keine WahrsprecherInnen sind. Sie sind es deshalb nicht, weil sie die individuelle Freiheit anderer einschränken beziehungsweise sich nicht für die individuelle Freiheit von Zwängen einsetzen. Die scheinbar rein formale Bestimmung von Wahrheit, in der sich der Inhalt nur durch den individuellen Akt des Wahrsprechens zu ergeben scheint, ist tatsächlich eine historisch gewachsene und strukturell gesellschaftlich geformte formale und inhaltliche Bestimmung. Nur wird diese Bestimmung der Kritik nicht auf ihre gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen hin befragt. So kann es auch gelingen, die historisch spezifische Form der individuellen Einzelnen überhistorisch auf Sokrates zu übertragen. Kritik muss sich selbst und damit ihre Bedingungen mit ihren eigenen (theoretischen) Mitteln als Ausdruck der Gesellschaft begreifen können. Tut sie das nicht, beansprucht sie - und sei es unwissentlich - außerhalb oder über der Gesellschaft zu stehen. Das Wahrsprechen entgeht genau dieser Gefahr nicht.
Verewigung der Herrschaft
Aus der oben beschriebenen überhistorischen Definition der Kritik als Wahrsprechen ergibt sich nicht nur eine Unschärfe gegenüber der gegenwärtigen gesellschaftlichen Herrschaft. Auch wird Herrschaft selbst enthistorisiert, das heißt als ewig angenommen. Das geschieht dadurch, dass das Wahrsprechen nur zwei Möglichkeiten lässt: Wenn die Wahrsprecherin tatsächlich in einer Situation ist, in der sie unter Gefahren gegen die Mehrheit ihre Wahrheit spricht, dann wird sie dafür im schlimmsten Fall mit ihrem Leben bezahlen und ihre Wahrheit mit ihr verschwinden. Wenn ihr Wahrsprechen Wirkung erzielt, das heißt, wenn auch andere diese Wahrheit zu ihrer eigenen machen und diese Wahrsprecherinnen eine Allianz bilden, so schlägt diese Wahrheit im Augenblick ihrer Verwirklichung um in Unwahrheit, da sie nun ja von vielen vertreten wird und erst dadurch umsetzbar ist. Das heißt, die vormalige Wahrheit wird zur Unwahrheit, zur Heteronomie gegenüber neuen Wahrsprecherinnen.
Da das Konzept des Wahrsprechens Form und Inhalt desselben nicht als Produkt dieser Gesellschaft erkennt, sondern enthistorisiert und verewigt, wird auch die Herrschaft der gegenwärtigen Gesellschaft verabsolutiert.
Das Wahrsprechen scheint mir so ein Hin- und Herschieben, ein Ausdehnen und Einschränken von individuellen Freiheiten im Raum der verewigten Herrschaft. Die individuelle Freiheit als Freiheit von Zwängen und Herrschaft, um die es zu gehen scheint, ist also nie realisierbar, da ein „Mehr an Freiheit“ durch das Wahrsprechen der Einen die Freiheit der Anderen dann einschränkt, wenn sie verwirklicht wird. Hier spricht das Wahrsprechen implizit den Antagonismus der Interessen in der kapitalistischen Gesellschaft aus und setzt ihn als ewigen. Die Einzelnen stehen einander als Konkurrenten mit ihren unterschiedlichen Interessen gegenüber. Die Befriedigung des Interesses der Einen, beispielsweise des Interesses ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft zu sichern, bedeutet die Verdrängung des Interesses der Anderen, die einen anderen Job machen muss oder arbeitslos bleibt.6
Da das Konzept des Wahrsprechens Form und Inhalt desselben nicht als Produkt dieser Gesellschaft erkennt, sondern enthistorisiert und verewigt, wird auch die Herrschaft der gegenwärtigen Gesellschaft verabsolutiert. „Unser Gewordensein als Chance zum Anderswerden zu begreifen“7 kann dann nur noch heißen, im Rahmen von Herrschaft eine Andere zu werden und nicht, wirklich frei von Herrschaft zu leben und sich selbst zu verwirklichen. Die Herrschaft in der wir leben zu kritisieren müsste aber das Anliegen einer Gesellschaftskritik sein.
Gesellschaft und Individuum
Die parrhesia, das Wahrsprechen, wird als Prüfung der Wahrheit durch Selbstbefragung vorgestellt, die als „Selbstkritik unmittelbar die Kritik an der Gesellschaft ist“.8 Die Selbstkritik bildet den Ausgangspunkt und die Methode der Kritik der Gesellschaft. Doch die Befragung in der parrhesia: „Durch welche Wahrheiten bin ich die geworden die ich bin? Und will ich die bleiben, die ich wurde?“9 ist ein einseitiger Ausgangspunkt für die Kritik der Gesellschaft. Die Frage müsste darauf gerichtet sein, wo die Frage: „Will ich die bleiben die ich wurde?“ ihre Grenzen hat. Also: Was muss ich bleiben, auch wenn ich mich selbst befrage und warum? Das ist die Frage danach, welche objektiven gesellschaftlichen Strukturen nicht meiner Entscheidung unterliegen und auch nicht unmittelbar der Entscheidungen meiner Allianzpartnerinnen. Diese objektive Seite bildet ja die Bedingung der subjektiven Seite. Oder anders gesagt: Die Einzelne kann nur in und durch Gesellschaft eine Einzelne sein.10 Ohne Gesellschaft würde die Unterscheidung von Einzelner und Gesellschaft keinen Sinn ergeben. Die Kritik der Gesellschaft ist damit die Bedingung der Selbstkritik der Einzelnen. So muss die Frage nach der Möglichkeit der eigenen Freiheit zugleich die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen dieser Freiheit sein. Was sind diese gesellschaftlichen Bedingungen? Die Kritik des Verhältnisses von Einzelner und Gesellschaft führt auf die Frage, wie die Gesellschaft überhaupt „zusammengehalten“ wird, was Gesellschaft ausmacht. Die Antwort liegt in der Arbeitsteilung, der gesellschaftlich organisierten Arbeit in ihrer bestimmten historischen Form. Die Arbeitsteilung erscheint mir zentral, da die Einzelne eben gerade dadurch in den Kontakt mit anderen „gezwungen“ wird, dass sie nicht alles selbst herstellt und herstellen kann (oder will), was sie zum Leben braucht - sei es Essen, ein Dach über dem Kopf, Bücher, Filme etc. Sogar wenn sie versuchen würde, sich mit Subsistenzwirtschaft über Wasser zu halten, wäre die Grundlage ein Produkt von Arbeit einer Anderen. Noch der Boden, die Harke mit der sie ihn bearbeiten würde und das Wissen davon, wie sie ihn bearbeitet, ist von Menschen bearbeitet und gedacht worden, und sei es nur in Teilen. So stände auch die einsame Subsistenzwirtschafterin in geschichtlich vermittelter Arbeitsteilung mit anderen.
Die Arbeit ist noch aus einem weiteren Grund zentral. In der Arbeit kommen die zwei sich entgegen gesetzt scheinenden Pole Natur und Denken/Geist zusammen. Der Mensch, der durch Arbeit aus einem Naturstoff einen Gegenstand für sich herstellt, hat eine Vorstellung im Kopf, einen Plan von diesem Gegenstand sowie den Handgriffen und Arbeitsschritten seiner Herstellung. So enthält das Produkt, der hergestellte Gegenstand, am Ende die Vorstellung und den Plan, den sich der Mensch gemacht hatte. Ein Stuhl ist nicht nur ein Holz-Ding, sondern enthält die Vorstellung eines Stuhls in sich. Andere können diese Vorstellung „erkennen“ und setzten sich auf den Stuhl. Oder der Laptop ist nicht nur ein Gebilde aus Plastik und Metall, sondern wir „erkennen“, dass wir damit einen Artikel schreiben und ihn als PDF verschicken können. Der „Naturstoff“, der bearbeitet wird, könnte auch ein davor schon einmal bearbeiteter Stoff sein, z.B. ein Brett, Plastik etc. Des Weiteren muss der Stoff, den ich verarbeite, nicht anorganischer Natur sein. Vielmehr kann ich auch den Inhalt eines Buches „weiterverarbeiten“. Letztlich „bearbeitet“ und verändert sich der Mensch selbst im Laufe der Geschichte dadurch, dass er seine Umwelt und seine Vorstellungen von dieser verändert. Durch menschliche Arbeit werden so alle
So muss die Frage nach der Möglichkeit der eigenen Freiheit zugleich die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen dieser Freiheit sein.
Subjektivitätsformen (zum Beispiel Denkweisen, Bedürfnisse) und Gegenständlichkeitsformen (zum Beispiel Lebensmittel) hergestellt. Da die hervorgebrachten Gegenstände und Denkweisen neue Verarbeitungsweisen und Techniken benötigen, um die veränderten Bedürfnisse zu befriedigen, verändert sich im Laufe der Geschichte auch die Arbeit selbst. Sie ist im Laufe der Geschichte zum Beispiel zur Lohnarbeit geworden und unsere Denkweisen, Bedürfnisse etc. haben sich in Zusammenhang mit ihr herausgebildet. So ist die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen der eigenen Freiheit die Frage nach der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit, nach der Art und Weise wie in einer Gesellschaft das Zusammenleben und die (Re)Produktion der Gesellschaft organisiert ist. Aus dieser Organisation ergeben sich unterschiedliche Formen von Herrschaft, die wiederum unterschiedliche Möglichkeiten und Grenzen der eigenen Freiheit nach sich ziehen.11 Die Reflexion auf das konkrete und wirkliche Verhältnis von eigener Freiheit und Herrschaft, von Einzelner und Gesellschaft, muss Aufgabe von Gesellschaftskritik sein.
Im Artikel P³ schreibt Hannah: „All die Wahrheiten, die uns konstituieren, die Wahrheiten über die Erfüllung des Lebensglücks durch Lohnarbeit, Familie, Religion etc. werden im philosophischen Gespräch einer Prüfung durch die Dialektik unterzogen. […] Die dialektische Frage Welche der herrschenden Wahrheiten halte ich selbst für wahr? zieht zugleich die psychagogische Frage nach sich: Durch welche Wahrheiten bin ich die geworden, die ich bin? Und will ich die bleiben, die ich wurde? […] Wer im kritischen Dialog die gegebenen Wahrheiten der gegenwärtigen Gesellschaft prüft und sich bewusst wird, durch diese konstituiert zu sein ohne sie bejahen zu können, wird zu anderen kritischen Wahrheiten finden […]“. Die Frage: „Wie bin ich geworden die ich bin?“ muss nach dem oben gesagten also heißen: Wie macht mich die gegenwärtige Organisation von Arbeit, das heißt die kapitalistische Organisation von Arbeit, zu der, die ich bin? Und wie hängt diese gesellschaftliche Form mit all den anderen Bestimmungen zusammen (meinen Bedürfnissen, meiner Vorstellung von einem Mehr an Freiheit etc.)? Damit wären die im Artikel P³ aufgeworfenen Fragen nicht mehr nur die, ob ich mit diesen „Wahrheiten“ übereinstimme, sondern die Bedingung dieser Fragen wäre auf dem Tisch und der Kritik ausgesetzt, nämlich: Wie ist Arbeit und damit diese Gesellschaft organisiert, in der ich lohnarbeiten muss, in der es eine bestimmte Form von Familie und bestimmte Vorstellungen von Geschlecht gibt, die mich geprägt haben?
Freiheit als Abwesenheit von Gesellschaft
Durch den Kurzschluss von Selbstkritik auf Gesellschaftskritik verfehlt das Konzept der parrhesia dieses Verhältnis in seiner Wirklichkeit. Das Verhältnis von Einzelner und Gesellschaft bleibt im Konzept des Wahrsprechens ein rein quantitatives Verhältnis. Die einzige Bestimmung von Gesellschaft ist die quantitative Mehrheit über eine Minderheit. Das „Mehr an Freiheit“ der Einzelnen ist das Zurückdrängen der Gesellschaft und ihren Anforderungen etc. So schreibt Hannah, wie ich oben schon zitiert habe: „Der Widerstand gegen die Verhältnisse beginnt beim Unbehagen, bei der Erniedrigung, bei der Einschränkung der Einzelnen, die die eigenen und damit stets auch die gesellschaftlichen Grenzen in Hinblick auf ein Mehr an individueller Freiheit zu erweitern versuchen“. Freiheit ist so nur Freiheit vom Zwang der Gesellschaft. Der Blick auf die Geschichte von Arbeit und Arbeitsteilung zeigt hingegen die volle Bestimmung von Freiheit. So ist diese Geschichte der gesellschaftlichen Arbeitsteilung auch die Geschichte der Entwicklung der Freiheit des Menschen von Naturnotwendigkeiten und einem Mehr an Möglichkeiten zur Bedürfnisbefriedigung (zum Beispiel durch Werkzeuge), ja auch einem Mehr an (individuellen) verfeinerten Bedürfnissen, die sich historisch gesellschaftlich entwickelt haben. Die im Wahrsprechen als Inbegriff der Heteronomie dargestellte Gesellschaft ist eben nicht nur als Zwang und Grenze der Einzelnen zu verstehen, sondern gleichzeitig ist unsere Bedürfnisbefriedigung nur in und durch die Gesellschaft möglich. Dadurch, dass das Wahrsprechen seinen methodischen Ausgangspunkt bei der Einzelnen nimmt und nicht beim Verhältnis von Einzelner und Gesellschaft in seiner Vermittlung, kommt es nicht über die liberale Vorstellung der Freiheit als Abwesenheit von Gesellschaft hinaus. Wenn Gesellschaft gleichgesetzt wird mit Herrschaft, so scheint natürlich auch die Verewigung der Herrschaft, wie ich sie oben beschrieben habe, nahe liegend.
Neuinterpretation der Wirklichkeit
In dem angeführten Zitat wird eine weitere Annahme expliziert, die mit einer wirklichen Kritik der Gesellschaft unvereinbar ist. Was der Prüfung und damit der Kritik unterzogen wird, ist nämlich nicht der Gegenstand oder die Gesellschaft selbst, sondern die Wahrheiten über den Gegenstand. So wird an dieser Stelle des Artikels P³ unausgesprochen ausgesprochen worum es nicht geht: Nicht die Lohnarbeit und soziale (Zwangs-)Formen wie Familie und Geschlechterzugehörigkeit in ihrer teils brutalen Objektivität werden zum Zweck der Abschaffung dieser Verhältnisse von der Kritik ergriffen, sondern einzig das Denken derselben soll kritisiert werden.12 Da die Verhältnisse in denen wir leben nun aber objektiv sind, werden sie unkritisiert mitgeschleppt. Wenn Gesellschaftskritik darin besteht, dass die „Wahrheiten“ geprüft und gegebenenfalls verworfen werden, dann geht es ihr um nichts weiter als eine Neuinterpretation des Bestehenden, was - wie im Fall des Wahrsprechens durch die Verewigung der kapitalistischen Herrschaft - auf ein (unbewusstes) Hinnehmen des Bestehenden hinausläuft. Da es nicht um die objektiven Verhältnisse geht, sondern um das subjektive Denken derselben, kann das voluntaristische Verwerfen der „Wahrheiten“ als Willensakt der Einzelnen dem Wahrsprechen als adäquate Lösung gelten.
Methodischer Ausgangspunkt einer Kritik der Gesellschaft
Die Selbstbefragung bildet im Konzept des Wahrsprechens den Ausgangspunkt der Kritik, die „Selbstkritik [ist] unmittelbar die Kritik an der Gesellschaft“.13 Doch auch wenn ich versuche, mir über ein Mehr an individueller Freiheit durch Selbstkritik klar zu werden, so ändert das nichts daran, dass meine Freiheit dort ihre objektive Grenze findet, wo die gesellschaftlichen Bedingungen so eingerichtet sind, dass ich mein Bedürfnis nur über Geld vermittelt befriedigen kann oder eben eingeschränkt und unbefriedigt bleibt. Ob diese Strukturen gedacht werden oder nicht, ob ihre Wahrheit bejaht wird oder nicht, spielt zunächst keine Rolle für ihre Wirkung. Selbst wenn ich die „Wahrheiten“, die mich gemacht haben, ablehne und „andere kritische Wahrheiten finde“, werde ich am nächsten Morgen aufstehen müssen, um meine Arbeitskraft als Verkäuferin, Lehrerin, Managerin oder Putzfrau zu verkaufen. Die Lebenswirklichkeit und materielle Reproduktion der Einzelnen lässt sich nicht nur nicht auflösen durch Selbstkritik, vielmehr beinhaltet die Einzelne nicht alle Bestimmungen dieser Gesellschaft. Bestimmungen wie zum Beispiel die kapitalistische Form der Produktion und der Arbeitsteilung, zu deren Anhängsel die Lohnarbeiterin degradiert wird.
Dadurch, dass das Wahrsprechen seinen methodischen Ausgangspunkt bei der Einzelnen nimmt und nicht beim Verhältnis von Einzelner und Gesellschaft in seiner Vermittlung, kommt es nicht über die liberale Vorstellung der Freiheit als Abwesenheit von Gesellschaft hinaus.
Gesellschaftskritik, die ihren Ausgang bei der Selbstkritik nimmt, kann diese Bestimmungen nicht kritisieren. Die Einzelne ist zwar geprägt und bestimmt von der Gesellschaft, aber sie ist nicht die Gesellschaft. Die Kritik der Gesellschaft muss diese beiden Pole, die Einzelne mit ihrer Erfahrung und die Gesellschaft in ihrem Zusammenhang, in ihrer Vermittlung zum „Ausgangspunkt“ nehmen. Die „Ausgangsfrage“ nach der individuellen Freiheit, die die objektiven gesellschaftlichen Bedingungen derselben beinhaltet, würde sich dann eher so stellen: Wie kann ich in der freien und freiwilligen Assoziation mit anderen freien Individuen ein freies Individuum werden? Damit wäre der Blick auf die gesellschaftliche Praxis gerichtet, in der die einzelnen Individuen immer schon eingebunden sind. Die Kritik der Gesellschaft, der es um wirkliche Überwindung der Herrschaft geht, kann nicht dabei stehen bleiben, sich als Einzelne oder in einer kleinen Gruppe (oder Szene) gegen die Mehrheit zu stellen. Ausgangspunkt der Kritik der Gesellschaft muss die Gesellschaft selbst sein, das heißt die Assoziation von Individuen, die es ohnehin schon gibt, nämlich als nicht selbst gewählte „Assoziation“ doppelt freier Lohnarbeiterinnen im Staat.
Wenn Gesellschaftskritik dieses Verhältnis von Einzelner und Gesellschaft einer Kritik unterzieht und ihren Ausgangspunkt bei der Frage nimmt, welche gesellschaftlich objektiven Strukturen (sowohl auf der Ebene des Denkens als auch des gesellschaftlichen Seins) die Befriedigung meiner individuellen Bedürfnisse verhindern und damit meine individuelle Freiheit einschränken, dann umgeht sie die Gefahr, ihren Maßstab unausgewiesen und unkritisiert voraus zu setzen. Vielmehr ist es dann möglich, dass Gesellschaftskritik die inhaltlichen und normativen Wertevorstellungen der Gesellschaft kritisiert, als falsch oder richtig erkennt und die Verwirklichung unabgegoltener Versprechen nicht nur einfordert, sondern auch erkennen kann, weshalb sie bis jetzt unabgegolten geblieben sind. Das hieße, der im Konzept des Wahrsprechens vorausgesetzte Maßstab der eigenen individuellen Freiheit müsste als bürgerliches Versprechen dieser Gesellschaft erkannt und die gesellschaftlich immanenten Grenzen jener Freiheit14 kritisiert werden. Wenn das nicht geschieht, wenn die Kritik nicht um die Bedingungen und objektiven immanenten Grenzen ihrer Forderung weiß, hilft sie mit bei der Durchsetzung der Herrschaft, die sie zu kritisieren vorgibt. Oder anders gesagt: Das Mehr an individueller Freiheit, das die Dekonstruktion von überkommenen und einschränkenden „Wahrheiten“ meint, verträgt sich hervorragend mit der Forderung des Kapitals, dass die Arbeitskraft der Lohnarbeiterinnen universal unter Absehung überkommener Grenzen wie Geschlecht, Alter, Religion verwertbar werden sollen. Diesen Rahmen der kapitalistischen Herrschaft kann das Konzept des Wahrsprechens nicht sprengen. So wird ohne darum zu wissen die Forderung des herrschenden Zwangs nicht nur übernommen, sondern als Kritik präsentiert. Die Ambivalenz ebenso wie die Grenzen15 dieser Forderung aufzuzeigen, nämlich dass tatsächlich ein Mehr an Freiheit für die Einzelne lebbar wird „im Hier und Jetzt, auf Veranstaltungen, auf Parties und in Betten“16 müsste die Aufgabe einer Kritik der Gesellschaft sein, die Herrschaftskritik ernst nimmt. Will sie wirklich eine Kritik der Gesellschaft sein, darf sie sich nicht zufrieden geben mit Aushandeln und bloßem Verschieben von individuellen Freiheiten im Rahmen der verewigten Herrschaft des Kapitals, des ewigen Zwangs zur Verwertung der eigenen Arbeitskraft.
Das Wahrsprechen als dogmatische Metaphysik
Könnte aber im Konzept des Wahrsprechens mit dem Widerständigen, das im Unbehagen der Einzelnen gegenüber der Gesellschaft besteht, nicht auch ein urmenschliches Gefühl, ein natürlicher Impuls der Einzelnen gemeint sein, ähnlich dem Selbsterhaltungstrieb? Und könnte nicht gerade auf der Ebene von Geschlecht dieses unmittelbar menschliche Gefühl durch ein körperliches Unbehagen, ein körperliches Gefühl von Einengung sich ausdrücken? Tatsächlich ruft das Konzept der parrhesia durch die Enthistorisierung von Wahrheit und Herrschaft den Eindruck hervor, dass es sich um dogmatische Metaphysik handelt,17 um eine Anthropologie, die über das - der Geschichte enthobene - Wesen des Menschen spricht. So kann der normative Wert der individuellen Freiheit als ein ursprünglich jedem einzelnen Menschen innewohnender vorgestellt werden, über den nicht weiter gesprochen werden muss. Diese normative Bestimmung wird nicht als Resultat von Geschichte und Gesellschaft diskutiert, sondern als all den „Wahrheiten, die uns konstituieren“ vorgelagert gesetzt und so der Kritik entzogen. Dogmatisch ist diese Metaphysik unter anderem deshalb, weil sie ihre eigenen geschichtsphilosophischen Implikationen nicht zu erkennen und zu kritisieren vermag. Die oben gezeigte Verewigung der Herrschaft ist die Verewigung einer bestimmten gesellschaftlichen Struktur. Verewigung bedeutet aber nichts anderes, als dass diese Struktur als in der Zeit immer gleich bleibende behandelt wird. Es gibt keine Entwicklung, keinen Fortschritt (z.B. der Rechte von Frauen und queers), sondern nur die Wiederkehr der immer gleichen Struktur, Zirkularität in der Zeit. Geschichte wird jeder qualitativen Bestimmung beraubt, wird pure Quantität leerer, toter Zeit. Das bedeutet, dass das Eigentümliche und Irreversible gesellschaftlicher Konstellationen in der Geschichte nicht begriffen werden kann. Das Einzelne in seiner Einzigartigkeit geht damit verloren, wirkliche Vielfalt (als Unterschied von Qualitäten) wird unmöglich.
Alltagspraxis vs. Gesellschaftstheorie
Zum Schluss möchte ich noch kurz auf den vermeintlichen Gegensatz von individueller, alltäglicher Praxis und Gesellschaftstheorien eingehen, um den es in den Diskussionen um Feminismus und queerfeminismus oft geht. Auch das Wahrsprechen scheint auf den ersten Blick eher eine Theorie der individuellen Praxis im Alltag, eine Anleitung und Hilfestellung für die Einzelne zu sein und weniger eine Theorie und Kritik der Gesellschaft. Doch jede noch so theorielos scheinende praktische Intervention beruht auf - wenn auch unbewussten - theoretischen Implikationen und Voraussetzungen, die das Handeln anleiten und von einer Theorie expliziert werden können. Vorstellungen und Handlungen der
Der Gegensatz von eigener alltäglicher Praxis und theoretischem „Großkonzept“ suggeriert, es gäbe eine individuelle Praxis oder einen Freiraum außerhalb der Gesellschaft, so als wäre unser Alltag nicht durchdrungen von gesellschaftlichen Zwängen.
Wahrsprecherin sind ebenso Teil der gesellschaftlichen Totalität wie ihr Alltag und die Umstände, an denen sie Anstoß nimmt. Der Gegensatz von eigener alltäglicher Praxis und theoretischem „Großkonzept“ suggeriert, es gäbe eine individuelle Praxis oder einen Bereich, einen Freiraum außerhalb der Gesellschaft, so als wäre unser Alltag nicht durchdrungen von gesellschaftlichen Zwängen und Anforderungen und unsere Praxis nicht notwendig Teil dieses Ganzen. Das heißt nicht, dass es nicht Menschen und Orte gibt, die uns weniger einschränken als andere. Aber durch das Ausspielen der individuellen alltäglichen Praxis gegen die kritische Theorie der Gesellschaft (als ganzer) kann die Kritik immer nur einen Teil treffen und so die oben beschriebene Verewigung der Herrschaft nicht überwinden. Das Spezifische und Eigentümliche individueller (Alltags-)Erfahrung kann erst dann aus dem Schein der Unmittelbarkeit heraus gelöst, erkannt und begriffen werden, wenn durch eine Theorie des Ganzen klar wird, was das Allgemeine daran ist. Die Aufgabe von Gesellschaftskritik wäre, den Zusammenhang von gesellschaftlichem Ganzen und alltäglicher Praxis zu erkennen und zu kritisieren.
Vielen Dank an alle, die mit mir über die Artikel und das Thema geredet und diskutiert haben.
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Ich beschränke mich hier auf die allgemeinere Frage, was Gesellschaftskritik ist und damit, wie die theoretische Basis einer feministischen Gesellschaftskritik beschaffen sein muss. Ich werde also nicht auf die Frage nach dem Feminismus und dem Verhältnis von Gesellschaftskritik und Feminismus eingehen. ↩
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Holme, Hannah: P³ – Philosophie, Politik und Parrhesia. In: outside the box. Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik. Heft 2. Leipzig 2010. Bogen 5. ↩
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Ebd. ↩
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Dies wird zum Beispiel an der empiristischen Erkenntnistheorie John Lockes deutlich, ebenso an der Staatstheorie Thomas Hobbes’, die das Widerstandsrecht des Einzelnen gegen den Staat kennt, oder auch auf politischer Ebene an der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika. ↩
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Holme, Hannah. ↩
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Die Konkurrenz im Kapitalismus ist nicht nur die zwischen den Arbeiterinnen sondern die „Konkurrenz setzt also Kapital gegen Kapital, Arbeit gegen Arbeit, Grundbesitz gegen Grundbesitz, und ebenso jedes dieser Elemente gegen die beiden andern“. Friedrich Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie. In: MEW 1. Berlin 1981. S. 521. ↩
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Holme, Hannah. ↩
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Ebd. ↩
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Ebd. ↩
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„Der Mensch ist im wörtlichen Sinn ein zoon politikon, nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann. Die Produktion des vereinzelten Einzelnen außerhalb der Gesellschaft – eine Rarität, die einem durch Zufall in die Wildnis verschlagenen Zivilisierten wohl vorkommen kann, der in sich dynamisch schon die Gesellschaftskräfte besitzt – ist ein ebensolches Unding als Sprachentwicklung ohne zusammen lebende und zusammen sprechende Individuen.“ Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953. S. 6. ↩
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So unterlag die Bäuerin, die 1143 in Köln der Ketzerei angeklagt auf dem Scheiterhaufen ermordet wurde als Leibeigene der Herrschaft ihres Feudalherrn, während 2011 die Bürokauffrau nicht der Gerichtsbarkeit ihrer Chefin sondern der abstrakten Herrschaft, dem Zwang zur Lohnarbeit untersteht. Karl Marx schreibt dazu: „Der Ausgangspunkt der Entwicklung [des Kapitalismus, Anm. K.], die sowohl den Lohnarbeiter wie den Kapitalisten erzeugt, war die Knechtschaft des Arbeiters. Der Fortgang bestand in einem Formwechsel dieser Knechtung, in der Verwandlung der feudalen in kapitalistische Exploitation.“ Karl Marx: Das Kapital. MEW 23. S. 743. ↩
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Hier passt der schon oft zitierte aber immer noch richtige Satz von Karl Marx: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern“. MEW 3, S. 7. ↩
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Holme, Hannah. ↩
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Die bürgerliche Freiheit beruht zum Beispiel auf der ungleichen Verteilung von Eigentum (an Produktionsmitteln), weshalb sich immer wieder für die meisten Menschen die Situation ergibt, dass trotz demokratisch freiheitlicher Rechte die Freiheit von Herrschaft begrenzt bleibt. ↩
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Mit Ambivalenz meine ich, dass es heute in der kapitalistischen Gesellschaft - dank der harten Kämpfe von Feministinnen, queers, Lesben, Trans*, Schwulen – Spielräume und Möglichkeiten gibt, mit Geschlecht zu experimentieren, die es vor ca. 40 Jahren so noch nicht gab. Im Rahmen des Kapitalismus ist ein gewisses Mehr an individueller Freiheit möglich und das muss natürlich voll ausgenutzt werden. Allerdings bleibt der Kapitalismus eine Herrschaftsform, an der die Forderungen eben ihre Grenze finden. Das darf bei aller Unterstützung des Kampfs um bürgerliche Rechtsgleichheit nicht vergessen werden. ↩
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Holme, Hannah. ↩
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Da ich auf den Begriff des Dogmatismus nicht weiter eingehe, hier noch ein wichtiger Aspekt desselben. In der Tradition der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie kann gesagt werden, dass Dogmatismus bedeutet, Vermittlung von scheinbar unvereinbaren Gegensätzen NICHT zu begreifen. Das heißt in Trennungen zu denken. Daraus folgt dann zum Beispiel die unkritische Setzung von enthistorisierten Wesensbestimmungen des Menschen, die letztlich die einzelnen Menschen determinieren müssen. ↩