Feministische Utopien
Als ich neulich schmökernd und sinnierend in der Sonne saß, wurde ich von einem jungen Mann angesprochen und gefragt, was ich denn spannendes lese. Auf meine Antwort, es handle sich um Science-Fiction, konkreter um eine feministische Utopie, erntete ich einen bösen und verärgerten Blick. Ja, der Typ wurde richtiggehend zornig und schimpfte, was das denn sein solle, feministische Utopie, so ein Unsinn, widerwärtig, usw. Die Heftigkeit der Reaktion verblüffte mich dann doch. Was war sein Problem? Das Feministische? Die Utopie? Die in seinen Augen womöglich beängstigende Kombination aus beidem? Vielleicht hätte ich nachfragen sollen, oder ihn beruhigen; ihm erzählen, dass feministische Utopien einfach nur eine interessante Untergattung phantastischer Literatur seien, spannender Lesestoff, aber heutzutage ungefährlich. Angesichts der Tatsache jedoch, dass es ausgerechnet ein Buch von Joanna Russ war, das ich gerade in den Händen hielt, wäre das gelogen gewesen. The Female Man (1975, dt. Eine Weile entfernt bzw. Der Planet der Frauen ) ist alles andere als harmlos. Es ist radikal, kritisch und politisch, zynisch und bei aller Wut, die zwischen den Zeilen mitschwingt, unglaublich komisch. Und obgleich das Werk aus den Siebzigern stammt, ist der Inhalt nicht veraltet. Im Gegensatz zu vielen anderen utopischen Romanen entwirft Russ nicht nur eine neue und andersartige Gesellschaft, sondern gleich mehrere, die sie mithilfe ihrer vier, genetisch miteinander verwandten Protagonistinnen aufeinander prallen lässt. Im Vordergrund steht dabei Janet aus Whileaway, die mittels Experiment in einer Welt landet, die den heutigen USA auffällig ähnlich ist. Ihr plötzliches Erscheinen sorgt für Aufregung, die Berichte über ihre Heimat rufen aber eher Unverständnis hervor. Denn Whileaway, das von Joanna Russ bereits in der Kurzgeschichte When it Changed (1972, dt. Als es anders wurde ) gesondert vorgestellt wurde, ist eine reine Frauengesellschaft, in der die Männer Generationen zuvor von einer Seuche dahingerafft wurden. Die Frauen leben in einer technologisch wie auch politisch fortschrittlichen Welt zusammen, führen Partnerschaften und haben Sex, gebären Kinder. Ihnen fehlt nichts, und sie trauern den ausgestorbenen Männern auch nicht mehr hinterher. Dass Janet weder eine wilde Amazone noch ein verbittertes Weiblein ist, verwirrt zusätzlich - sie ist mittelmäßig intelligent, natürlich, offenherzig, ein wenig albern und teils naiv. Die drei anderen Frauen sind Joanna aus dem Quasi-Heute, Jeannine, die traurigste und unterdrückteste aus dem Quartett, die in einer ökonomisch depressiven und patriarchalen Gesellschaft lebt. Und schließlich gibt es die zornige, für Gewalt plädierende Jael aus einer zukünftigen Welt, in der sich Frauen und Männer bekämpfen. Russ verzichtet auf einen linearen Erzählstil und springt zwischen ihren Protagonistinnen und den Handlungssträngen hin und her. Das macht die Lektüre zu einer gewissen Herausforderung, verleiht dem Roman aber auch hohe literarische Qualität.
Neben Joanna Russ gibt es natürlich eine ganze Reihe beachtens- und lesenswerter Autorinnen feministischer Utopien, derenTradition bis ins Mittelalter zurück reicht. Das häufig als ältestes Beispiel der Gattung genannte Werk ist das Livre de la Cité des Dames (1406, dt. Buch der Stadt der Frauen ) von Christine de Pizan. Es ist der Entwurf einer Stadt der Frauen als Zufluchtsort, als Gemeinschaft, in der sich Frauen entfalten und unabhängig von der Männerwelt unterstützen können - eine Idee, die auch heute noch als utopisch klassifiziert würde. Interessanterweise wird Pizan mit ihrem Buch in der allgemeinen Utopieforschung selten beachtet. Diese setzt meist erst über ein Jahrhundert später mit Thomas Morus “Utopia” ein. Was für Pizan gilt, trifft ähnlich auch für spätere Autorinnen zu. So wird Mary Wollstonecraft Shelleys Frankenstein (1818) selten als feministische utopische Literatur gewertet. Dabei schuf Shelley weitaus mehr als eine düstere, schaurige Monstergeschichte. Frankenstein ist eine vehemente Kritik am vornehmlich männlichen Wahn, Welt und Natur durch Technisierung zu unterwerfen. Mittlerweile weitestgehend unbekannt ist Charlotte Perkins Gilman, die vor allem Kurzgeschichten wie The Yellow Wallpaper (1892, dt. Die gelbe Tapete ) sowie die Utopie Herland (1915) verfasste.
Richten wir den Blick zurück auf die lebhafteste Phase feministischer utopischer Literatur rundum die siebziger Jahre. Die genretypischen Klischees der Science Fiction hatten sich in den Jahrzehnten zuvor verfestigt. Dazu gehörte auch jenes der Frau, die in den seltensten Fällen anders in Erscheinung trat, denn als Side-Kick des Helden, hier als zu rettende oder beschützenswerte Jungfrau, da als sehnsüchtige Ehefrau in der fernen Heimat. Bereits davor gab es einzelne Versuche, diese Klischees aufzubrechen, ihnen starke, kämpferische und unabhängige Frauengestalten entgegenzusetzen, wie z.B. in unterschiedlichen Amazonengeschichten. Aber erst Autorinnen wie Ursula K. Le Guin gelang es, im Rahmen der Science Fiction ernstzunehmende Geschlechterfragen aufzuwerfen. Sie tut dies in The Left Hand of Darkness (1969, dt. Der Winterplanet ) aber auch in ihrer bedeutenderen Utopie The Dispossessed (1976, dt. Planet der Habenichtse ). Ebenfalls in den Siebzigern schrieb Gert Brantenberg ihre Satire auf das Patriarchat, Egalias dotre (1977, dt. Die Töchter Egalias ), in der sie nicht nur die Gesellschaftsverhältnisse auf den Kopf stellt, sondern dieser Welt auch ihre Sprache anpasst. Menschen sind Wibschen, man wird zu dam, das schwache Geschlecht der Männer muss PHs tragen und Vergewaltigungen fürchten.
Unerwähnt bleiben müssen hier all die andern Autorinnen feministischer Utopien, wie Marge Piercy, Margaret Atwood etc. Abschließend sei nur noch auf den James Tiptree Jr. Award verwiesen, der jährlich für feministische Science Fiction verliehen wird. James Tiptree Jr. galt in den Siebzigern als gefeierter Nachwuchsautor des Science Fiction-Genre, bis er sich 1977 als Alice Sheldon zu erkennen gab. Die Männerwelt war entsetzt. Wie das nur geschehen konnte?