Erzählung als Horizont
Über Marge Piercy
Emanzipation kann verstanden werden als Befreiung von Strukturen, die die Freiheit Einzelner aufgrund der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen einschränken. Neben der Gestaltung gesellschaftlicher Zusammenhänge, die Menschen mehr Freiheiten ermöglichen sollen, sind es aber auch die Beziehungen zu anderen, die emanzipatorisch gestaltet werden müssen. Emanzipation geht immer nur ‚zusammen’, in einem Netz von Menschen, die sich gegenseitig Freiräume und die Möglichkeit gewähren, aus einschränkenden und diskriminierenden Rollenmustern auszubrechen.
Allzu oft stehen hohe und hehre Ansprüche an Beziehungen und Lebensführung einem Alltag gegenüber, der sich überkommenen Mustern und hegemonialen Rollenverteilungen bedient, weil es eben nicht so einfach ist, neue und unabhängige Umgangsweisen zu etablieren. Und bei zaghaften Versuchen müssen einige oft feststellen, wie sehr sie auf die Bereitschaft von Anderen angewiesen sind, ‚andere’ Formen des Zusammenlebens mitzutragen und anzuerkennen.
Literatur und Erzählungen können Orte sein, wo alternative Lebensweisen und -entwürfe zunächst formuliert und ausprobiert werden, sie können sowohl Horizont als auch Anker für die Verhandlung emanzipatorisch Beziehungsweisen sein.
Die feministische Autorin Marge Piercy hat sich seit den 1960er Jahren zur Aufgabe gemacht politische Prosa zu schreiben, in der sie den Alltag, die Beziehungen und Lebenswege von Frauen in unterschiedlichen Zeiten nachzeichnet und die vor allem auch Rassismus und Klassenverhältnisse einbezieht. Die Darstellung von Frauen jenseits von Klischees und Heteronormativität eröffnet neue Perspektiven und macht bereits gelebte Emanzipation sichtbar. Vor allem die beiden Romane Frau am Abgrund der Zeit und Donna und Jill zielen explizit auf Emanzipation und Utopie, wobei sich das, was unter Emanzipation verstanden wird, jeweils nach der Lebenssituation, den Bedingungen und Wünschen der sehr unterschiedlichen Protagonistinnen verändert.
Donna und Jill, zwei Frauen aus Arbeiterfamilien in den USA erkämpfen sich in den 1950er Jahren die Freiheit aufs College zu gehen. Die Möglichkeit zu lernen und politisch aktiv zu sein bedeutet allerdings nicht, dass ihr Lebensentwurf uneingeschränkt wählbar ist: Abhängigkeit setzt sich in den Beziehungen mit Männern fort, die unumgänglich scheinen, wenn auch zwischen den beiden Frauen eine heftige sexuelle Romanze mit gemeinsamen Lebensplänen entsteht. Feste Partnerschaften mit Männern bieten einen trügerischen Schutz vor Bedrängnissen oder Vergewaltigungen, entfalten jedoch ihre eigenen Zwänge und Gewalttätigkeiten. Die Heirat mit einem Mann führt für eine der beiden unweigerlich zum Abbruch des Studiums und der Berufspläne. Schwangerschaften liegen wie ein Damoklesschwert über der Sexualität, denn sie können lediglich illegal zu Hause oder von einem Pfuscher und unter großem gesundheitlichen Risiko abgebrochen werden. Trotz der aufscheinenden Emanzipation durch Bildung und Ausbildung, die für die beiden Frauen zum Greifen nah erscheint, ist der Weg dorthin versperrt durch gesellschaftliche und familiäre Zwänge, durch Rollenklischees und Vorurteile, die bis zur Bedrohung mit dem Tod reichen. Donnas und Jills enge Freundschaft und Romanze steht unter einem immensen Druck und die Ideen von einem freien, unabhängigen Leben scheinen regelrecht durch diesen zu zerbrechen. Eindrücklich schildert Piercy die Situation von Frauen zu dieser Zeit und weist damit auf die für uns selbstverständlich erscheinenden Errungenschaften der Frauenbewegungen, wie Recht auf Bildung, sichere Abtreibungen oder nicht verheiratet sein zu müssen.
In Frau am Abgrund der Zeit entwirft Piercy dagegen eine feministische Utopie, die sie ins Jahr 2137 verlegt. Sie verlässt damit die Widrigkeiten der ‚echten’ Welt und kann somit eine Gesellschaft entwerfen, die auf Zusammengehörigkeit, Konfliktlösung und Solidarität beruht. Im Zentrum dieser Gesellschaft stehen die Beziehungen der Menschen untereinander. Es gibt verschiedene Kategorien von Freundschaften, wie Handfreund, wenn zwei gerne zusammen arbeiten oder Kissenfreund, wenn zwei gerne zusammen schlafen. Die Mits sind Personen, die zu einer engen, selbst gewählten Familie gehören. Kinder werden gemeinschaftlich erzogen und haben drei Mütter, die sich gemeinsam für die Fürsorge für ein Kind bewerben (die nicht unbedingt weiblich sein müssen, denn durch die Gabe von Hormonen können auch männliche Personen stillen). Kinder werden von Maschinen geboren, da die Gesellschaften, die alles in einem gemeinsamen Aushandlungsprozess entscheiden, Abhängigkeiten auf keinem anderen Weg abschaffen konnten. Es ist unumgänglich, dass sich alle an der Organisation und den alle betreffenden Entscheidungsprozessen beteiligen, dennoch wird für jedes Individuum Raum geschaffen für Rückzug und Beschäftigung mit sich selbst. ‚Innewissen’ wird diese Fähigkeit genannt, die vielleicht am ehesten mit Selbstreflexion und Psychoanalyse übersetzt werden könnte. Dieses Innewissen wird gesellschaftlich hoch angesehen und für dessen Praktizieren können und sollen sich alle Zeit nehmen. Im Buch werden noch viel tiefere Einblicke in die Organisation dieser feministischen Utopie gegeben. Im Zusammenhang mit der Frage nach Emanzipation erscheint die Organisation der Beziehungen wichtig zu sein, der Beziehungen zwischen Menschen, Freund_innen, Kindern und Eltern, aber auch der Beziehung zu sich selbst.
Während das erste Buch eingehend den zaghaften Emanzipationsversuch zweier Frauen im Kontext ihrer Beziehung und die gesellschaftlichen Hindernisse beschreibt, ist Piercys Utopie eine ziemlich konkrete Ausformulierung der Organisation solidarischer Beziehungen, in denen sowohl Kollektivität als auch Individualität wichtig sind. Im Zentrum ihrer Vorstellungen von Emanzipation stehen meist Freundschaften und der Umgang miteinander in gemeinschaftlichen Zusammenhängen. In der Literatur kann Piercy ausmalen, wie emanzipatorische Beziehungen ausgestaltet werden können, welche Probleme sich auftun, welche Lösungsmöglichkeiten und Strategien sich entwickeln lassen. Die Erzählungen können für die eigene Praxis ein Horizont sein, um konkrete Utopien weiterzudenken und Beziehungsweisen zu reflektieren. Vor allem weist Piercy in ihren (auch zahlreichen weiteren) Büchern darauf hin, dass Emanzipation auch Verantwortung bedeutet, Verantwortung für die eigenen Entscheidungen und für andere Menschen. Die Umsetzung emanzipatorischer Ansprüche sind teilweise mit schwierigen und schmerzhaften Erfahrungen verbunden, um diesen zu begegnen können die Erzählung ein Anker sein.
Piercy, Marge: „Frau am Abgrund der Zeit“. Hamburg. 1996.
Piercy, Marge: „Donna und Jill“. Hamburg. 1994.