Bettina Wilpert

Eine Kündigung und 1000 Möglichkeiten

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Du arbeitest als Köchin in einem Café in Leipzigs hippem Ökofamilienkiez Schleußig. Du magst deinen Job, backst Schokokuchen, Rhabarberkuchen, Quiche. Du kochst die Mittagssuppe, machst Frühstück, manchmal alles gleichzeitig, dann steigt der Puls (fünfmal Rührei, zweimal Müsli, einmal klassisch). Du hast deine Ruhe, arbeitest allein in der Küche, jeweils vier Stunden am Tag, vormittags. Nachmittags gehst du in die Bibliothek und machst was für die Uni. Der Job ist eine schöne Abwechslung zu deinem drögen Studentinnenleben, das bestimmt ist von Seminarbesuchen, Texte Lesen, Hausarbeiten Schreiben. Der Job im Café ist einer von vielen Nebenjobs, die du schon hattest. Du bekommst zwar BAföG, aber nur einen geringen Satz, der nicht zum Leben reicht, und so musst du schon dein ganzes Studium lang nebenher arbeiten.

Ole sagt: „Ach, Arbeitsrecht.“

Eines Tages lädt dein Chef Ole zur Dienstbesprechung mit anschließendem Essen ein – Teambuilding; Montagnachmittag, wenn das Café geschlossen hat. Du und die beiden anderen Köche, Michael und Hannes, sollt für das ganze Team kochen, selbstverständlich freiwillig, es haben ja alle etwas davon.
Am Tag vor dem Treffen ruft dich dein Kollege Michael an: Das findet er nicht gut mit dem kostenlosen Kochen und will es nicht machen, oder will es nur machen, wenn er dafür bezahlt wird. Er schlägt vor, dass ihr drei Köche zusammenhaltet und gemeinsam euren Lohn fordert. Was hältst du davon?

Wenn du kostenlos für deinen Chef arbeiten willst, lies weiter bei 2.
Wenn du mit Michael und Hannes zusammen Lohn einfordern willst, lies weiter bei 3.

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Du forderst keinen Lohn. Du kochst Spargelcremesuppe zur Vorspeise für das Team, backst Erdbeerkuchen als Nachspeise. Beim gemeinsamen Essen sitzt du an einem anderen Ende des Tisches als Michael und Hannes. Als die beiden ihren Lohn einfordern, tust du so, als würdest du nichts hören und redest mit einem Kollegen über experimentelle Musik.

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Der Montag kommt, Hannes, Michael und du habt euch abgesprochen. Ihr kocht für das ganze Team: Hummus, Erdbeersoufflee, Spargeltarte, Guacamole und Zucchinilassi. Ihr braucht drei Stunden dafür, zu dritt ist es eng in der Küche. Die Dienstbesprechung dauert nicht lange, es geht um die Einführung längerer Schichten; das Essen ist nett, das ganze Team ist gekommen, alle duzen sich, ihr unterhaltet euch über die Gentrifizierung im Leipziger Osten. Du guckst immer wieder auf die Uhr, weil du nach Hause gehen willst, und überlegst, ab wann es nicht mehr unhöflich wäre. Nach zwei Stunden reicht es dir. Du nickst Michael und Hannes zu, ihr steht auf, geht zur Kasse und wollt euch euren Lohn nehmen – wie immer. Der Chef Ole bekommt mit, was passiert, ist erst verdutzt – eure Strategie scheint aufgegangen zu sein: Überrumpelung – dann sagt er, dass das irgendwie schräg sei. Dass das Café doch Familie sei und ihr ja schließlich freiwillig gekommen wäret, zur Besprechung, und zum Essen. Dass das keine Arbeitszeit sei, sondern eine schöne Zeit, gemeinsam. Hättet ihr gewusst, dass das freiwillig sei, wäret ihr nicht gekommen, sagt ihr. Dass ein Job immer ein Geben und Nehmen sei, sagt Ole. Ihr schüttelt den Kopf, ihr werdet lauter, ihr wollt euren Lohn. Dass ein Lohnarbeitsverhältnis keine Familie sei und dass „Duzen“ noch lange keine Hierarchien abbaue. Ole sei euer Chef, sagt ihr. Ihr stündet in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm. Jetzt ist es Ole, der den Kopf schüttelt: Er sei auch nur ein Mensch, und er sei immer noch Ole. Ihr lacht. Er gefällt sich nicht in der Rolle des Chefs. Ihr weist ihn auf das Arbeitsrecht hin, darauf, dass Dienstbesprechungen in der Regel bezahlt seien. Ole sagt: „Ach, Arbeitsrecht.“ Eure Argumente wiederholen sich, bis ihr es aufgebt, ihr seid nicht hartnäckig genug. Ihr nehmt nicht euren Lohn; ihr geht nach Hause.

Die Wut kommt.

Für die nächste Woche wirst du nicht in den Dienstplan eingetragen. Dann kommt eine SMS: „Hallo Nina. Da wir so grundsätzlich verschiedene Auffassungen von Arbeit haben, was ja auch okay ist, möchte ich in Zukunft nicht mehr mit dir arbeiten. Es wäre gut, wenn wir noch mal einen kurzen Termin machen wg deiner Unterlagen, ich kann dir aber auch alles schicken. Gruß Ole.“
„Unterschiedliche Auffassungen von Arbeit“, das musst du dir erst mal auf der Zunge zergehen lassen. Dir ist beinahe zum Lachen zumute, du kannst Ole nicht wirklich ernst nehmen. Du findest ihn lächerlich. Er tut dir leid, weil er Arbeit und Freizeit nicht trennen kann, weil er sein Leben für das Café opfert und darin seine „Familie“ sieht. Du sprichst mit Michael und Hannes: Nur Michael wurde ebenfalls gekündigt. Natürlich kann Ole nicht alle drei Köche auf einmal entlassen. Ihr anderen beiden wart lauter als der Dritte.
Aber dein erster Impuls, über die Kündigung nur zu lachen, hält nicht lange an: Es ist Ende des Monats, du brauchst Geld, dein BAföG reicht gerade, um die Miete zu bezahlen. Die Wut kommt.
Im Freundeskreis verbreitet sich schnell, dass du gekündigt wurdest, die erste SMS trudelt ein, eine Solidaritätsbekundungen von einem Bekannten: „Liebe genossin, was für ne fiese nummer, melde dich also gerne, wenn du die situation noch mit anderen leuten besprechen und möglicherweise etwas unternehmen willst.“ Außerdem schickt er dir Infos zur Beratungsstelle der Gewerkschaft und solidarische Grüße.

Wenn du deinen Genossen bescheuert findest und eine patzige SMS zurückschreiben willst, lies weiter bei 4.
Wenn du zur Beratungsstelle der Gewerkschaft gehen willst, lies weiter auf Seite 7.
Wenn du deinem Genossen antworten möchtest, dass du gemeinsam etwas unternehmen willst, lies weiter bei 8.

Was genau soll Solidarität in diesem Moment heißen?

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Solidarische Grüße? Genosse? Wofür hält er sich? Wie lächerlich ist das denn? Du schreibst eine wütende SMS zurück: „Steck‘ dir deine Solidarität sonst wohin, für dich ändert sich ja nichts, ich wurde gekündigt und nicht du! P.S: Kannst mir gern die Miete bezahlen ;)“
Was genau soll Solidarität in diesem Moment heißen? Ist Solidarität nur ein Gefühl? Ist Solidarität das Gefühl, zusammen auf einer Demo für die gute Sache zu laufen? Ist Solidarität nur die Bekundung, dass Leute zu dir stehen, und wenn ja, was heißt das für dich in diesem Augenblick? Was bringt es dir, außer der Gewissheit, gute Freund*innen zu haben? Muss Solidarität praktisch werden? Was würde das in deinem Fall bedeuten?

Wenn du willst, dass die Solidarität praktisch wird, lies weiter bei 10.
Wenn du wissen willst, was deine Freunde unter Solidarität verstehen, lies weiter bei 5.

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Deine Freunde sind solidarisch. Sie backen Waffeln. Sie sprechen dich im Club auf deine Kündigung an, oder in der Bibliothek, oder auf der Straße. Sie klopfen dir auf die Schulter. Sie erzählen dir von ihren Erfahrungen. Sie wollen ein Flugblatt schreiben. Sie boykottieren das Café. Sie treffen sich sogar, diskutieren, schreiben Beschlüsse auf, und treffen sich nächste Woche wieder.

Wenn du wissen willst, wie es mit deinem Leben weitergeht, lies weiter bei 6.

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Du guckst Fernsehen. Du gehst Bier trinken. Du gehst zur Uni. Du schläfst bis mittags. Du gehst ins Schwimmbad und dann in die Sauna. Du surfst im Internet und liest dir Stellenanzeigen durch. Mit jüdischer Geschichte und früher Neuzeit kennst du dich leider nicht aus. Jahrelange Berufserfahrung hast du leider auch nicht. Du hast Durchfall. Du telefonierst mit deinen Eltern. Du vergisst den Semesterbeitrag fürs nächste Semester zu überweisen. Du brichst dein Studium ab. Du beantragst Hartz IV.

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Die Beratungsstelle der Gewerkschaft ist in Wirklichkeit ein Anwalt, der einmal in der Woche seine Dienste für Student*innen anbietet und sie zu allen möglichen Themenfeldern berät. In seinem Büro in der Innenstadt ist es stickig, der Anwalt scheint genervt. Du schilderst ihm deine Lage, du sagst, dass du keine schriftliche Kündigung bekommen hättest und fragst, ob dir irgendwelche Möglichkeiten blieben. Er sagt, dass du Recht hättest, dass eine Kündigung per SMS nicht rechtskräftig sei, dass sie schriftlich vorliegen müsse. Deine Kündigungsfrist betrage einen Monat, ob du in diesem Monat nicht noch arbeiten könntest? Der Anwalt holt ein großesschweres Buch hervor und schaut ein Gesetz nach. Wenn der Chef dich nicht in den Dienstplan eintrage, sei da nichts zu machen, im Vertrag sei keine genaue Stundenzahl pro Woche vereinbart. Das Gespräch ist sehr kurz; als du die Kanzlei verlässt, hast du trotzdem das Gefühl, deine Zeit verschwendet zu haben. Du willst etwas anderes tun, deine Wut braucht ein Ventil.

Lies weiter bei 8.

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Du willst etwas tun. Du willst, dass dein Chef sich genauso dumm fühlt wie du dich. Du verabredest dich mit deinem Genossen, ihr geht verschiedene Möglichkeiten durch.

Wenn du dich mit deiner Freundin Diana treffen willst, die in einer linksradikalen Gruppe organisiert ist, lies weiter bei 9.
Wenn du mit Hannes reden willst, dem einzigen Koch, der nicht gekündigt wurde, lies weiter bei 10.

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Diana ist in einer linksradikalen Gruppe. Wie die Gruppe heißt und was sie genau machen, weißt du nicht – keine Namen, keine Adressen. Diana bietet dir an, dass sie da etwas organisieren könne, quasi Denkzettel erteilen, Vendetta. Du willigst ein, beteiligst dich aber selbst nicht an der Aktion. Am nächsten Tag fährst du mit dem Fahrrad am Café vorbei. An der Fassade steht in großen Buchstaben: „Wenig Lohn und scheiß Arbeit, dafür ham wa keine Zeit!“, daneben der Klecks eines Farbbeutels. In der Zeitung liest du: „Schwarzer Mob zieht randalierend durch Schleußig. Die Leipziger Antifa hat es jetzt auch auf junge Eltern abgesehen.“

Lies weiter bei 13.

Wenn du deine Kündigung öffentlich machen willst, lies weiter bei 12.

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Hannes wurde nicht gekündigt, obwohl auch er seinen Lohn eingefordert hat. Natürlich braucht Ole zumindest einen Koch. Du diskutierst mit Hannes (den du ursprünglich aus dem Marx-Lesekreis kennst), du sagst, dass Praxis ohne Theorie zwar nicht funktionieren könne, dass er nun aber langsam mal genug gelesen habe und jetzt endlich die Praxis folgen müsse! Dass sein Gerede von Proletariat, Kommunismus und Revolution nun auf die Probe gestellt würde. Du zitierst Friedrich Engels: „Eines schönen Morgens legen alle Arbeiter aller Gewerke eines Landes oder gar der ganzen Welt die Arbeit nieder und zwingen dadurch in längstens vier Wochen die besitzenden Klassen, entweder zu Kreuz zu kriechen oder auf die Arbeiter loszuschlagen, so daß diese dann das Recht haben, sich zu verteidigen und bei dieser Gelegenheit die ganze Gesellschaft über den Haufen zu werfen.“ Du appellierst an Hannes, sagst, dass der Generalstreik der einzige Weg zur Revolution sei. Hannes wirft ein, Generalstreik sei in Deutschland verboten. Du lässt dich davon nicht irritieren, du sagst, dass man irgendwo ja anfangen müsse. Du forderst praktische Solidarität.

Wenn du wissen willst, was Hannes tut, lies weiter bei 11.

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Hannes streikt. Er geht zur Arbeit, aber kocht nicht und backt nicht, lehnt am Ofen und starrt auf sein Smartphone. Die Gäste beschweren sich. Die Gäste bleiben aus.
Hannes wird gekündigt. Das Jobcenter wird auf ihn aufmerksam. Bisher haben sie ihn in Ruhe gelassen, weil er den Nebenjob im Café hatte. Hannes bekommt eine Sanktion.

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Du machst deine Kündigung öffentlich. Du postest deine Erfahrungen bei facebook und bekommst viele Likes. Du schreibst einen Artikel in der outside the box. Du erfährst viel Solidarität.

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Nachdem du bzw. deine Freund*innen etwas Konkretes unternommen haben, fühlst du dich besser. Du fühlst dich nicht mehr so ausgeliefert und lächerlich. Doch deine Gefühle ändern sich schnell wieder, der Alltag setzt ein, du guckst auf dein leeres Bankkonto. Dir war bewusst, dass du ein Risiko eingehen würdest, wenn du deinen Lohn einforderst. Das Risiko der Kündigung hast du in Kauf genommen. Anders als Hannes, der durch den Job vom Amt in Ruhe gelassen wurde, war die Arbeit im Café für dich nur ein Studentenjob. Du wirst einen neuen finden. Aber du findest keinen neuen Job. Dir geht das Geld aus, der niedrige BAföG-Satz reicht nicht zum Leben, deine wenigen Ersparnisse sind bald aufgebraucht. Du brauchst Geld.

Wenn du deine Eltern nach Geld fragen willst, lies weiter bei 14.
Wenn du deine Freunde nach Geld fragen willst, lies weiter bei 15.

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Deine Eltern sind geschieden, deine Mutter ist Sekretärin, hat euch Kinder allein großgezogen, du würdest sie niemals um Geld fragen, weil du weißt, dass du, als du noch gearbeitet hast, mehr Geld zur Verfügung hattest als sie. Dein Vater ist Lehrer, er hat genug Geld. Du hast kein gutes Verhältnis zu ihm, ihr seht euch zwei Mal in Jahr, dann redet ihr über die Schule und dein Studium. Dass du Kulturwissenschaften studierst, versteht er nicht, warum nicht Lehramt oder Jura? Er weiß nichts über dein Privatleben, wenn du von deiner Freundin erzählst, denkt er, du redetest von irgendeiner Freundin. Ihr habt das letzte Mal vor drei Monaten telefoniert, als er Geburtstag hatte. Du nimmst all deinen Mut zusammen und fragst ihn nach Geld. Es ist, wie zu erwarten war, sehr unangenehm. Er redet von den Krediten für das Haus, die er noch abbezahlen muss, und den Rechnungen für den Tierarzt (er hat einen Hund). Aber er geht auf deine Bitte ein. Er überweist dir 200 Euro im Monat.
Leider sind 200 Euro immer noch zu wenig, und du musst auch deine Freund*innen nach Geld fragen.

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Eine deiner Freundinnen kommt aus einer Arbeiter*innenfamilie und ist Halbwaise. Zwei andere Freund*innen schreiben ihre Doktorarbeit und bekommen ein Stipendium. Eine Freundin wird von ihren Eltern finanziert, sie sind Lehrer und Ärztin, die Freundin studiert selbst Medizin, sie bekommt 600 Euro im Monat. Zwei deiner Freund*innen beziehen Hartz IV. Eine Freundin ist Schriftstellerin und arbeitet im Call-Center.
Du kannst nicht schlafen, starrst nachts an die Decke, denkst an dein leeres Konto und überlegst, wie du am besten vorgehen könntest. Die beste Möglichkeit scheint dir zu sein, nicht von einer Person ganz viel, sondern von allen ein bisschen zu leihen, je nachdem wie viel sie selbst geben können und wollen. Als du deine Freundin Britta anrufst, fängst du am Telefon an zu weinen, nicht weil du traurig bist, sondern weil du dir so blöd vorkommst, so abhängig, hilflos. Daraufhin schreibst du deinen anderen Freunden Emails und rufst nicht an. Aber auch durch die Emails glaubst du ihr Mitleid zu spüren. Eine Freundin, Andrea, antwortet per Mail nur kurz: „Lass uns Bier trinken gehen!“ In der Kneipe erzählt sie dann, dass sie selbst mal in einer ähnlichen Lage war, dass sie weiß, wie sich das anfühlt, dass sie aber Glück hat und ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern und den Geschwistern, die alle gut verdienen, und dass es für sie immer leicht ist, Geld zu leihen. Dass aber für sie die Freund*innen die eigentliche Familie sind, und dass man sich immer unterstützen müsse, vor allem in solchen Situationen, bedingungslos. Du bist erleichtert und froh zu wissen, dass du Freund*innen hast, auf die du dich verlassen kannst.

Lies weiter bei 16.

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Du beendest deinen Master in Kulturwissenschaften erfolgreich mit 1,6 und beantragst Hartz IV beim Jobcenter.

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Du arbeitest noch ein Jahr in dem Café. Es geschehen keine weiteren Vorfälle. Du beendest deinen Master in Kulturwissenschaften erfolgreich mit 1,9 und beantragst Hartz IV beim Jobcenter.

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