Charlotte Mohs und Korinna Linkerhand

MATERIAL GIRL

Stell dir vor, es ist Patriarchat, und keine spricht es aus

Warum feministische Sprachkritik nicht genügt und sie an den Begriffen Natur und Patriarchat entschieden festhalten, erzählten die outside the box Autorinnen Korinna Linkerhand und Charlotte Mohs im Gespräch mit MALMOE (www.malmoe.org).

Hier die Langversion des in der MALMOE erschienenen Interviews:

MALMOE: Kurz zu Beginn eine Begriffsklärung für unsere LeserInnen. Ihr hält einen materialistischen Feminismus hoch. Was versteht ihr darunter? Und was unter Materialismus? Inwiefern ist das auch eine Standortbestimmung in der aktuellen Debatte?

Charlotte: Der Bezug auf den Materialismus ist insbesondere der Versuch, die Gesellschaft als Ganze in den Blick zu bekommen, damit eine feministische Theorie und Praxis nicht im luftleeren Raum schwebt. Die Grundgedanken des historischen Materialismus im Anschluss an Marx sind, dass der Mensch das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, in denen er lebt und dass er diese Verhältnisse selbst macht, jedoch unter vorgefundenen und zumeist undurchschauten Umständen. Im Zentrum der materialistischen Theorie steht also die menschliche Praxis, die die Formen ihres sozialen Zusammenlebens bestimmt. Nicht zuletzt hat die Kritische Theorie in Rückgriff auf die Freud’sche Psychoanalyse auch die psychosexuelle Konstitution der Subjekte als wichtigen Teil materialistischer Theorie betont. Für die Kritik von Geschlechter- wie Kapitalverhältnis gilt, dass diese als natürlich erscheinen und den Menschen gar nicht bewusst ist, wie sie den sozialen Zusammenhang herstellen und durch ihn geprägt sind. Der Materialismus dechiffriert diese Praxis als eine von Menschen gemachte, um dadurch ihre Veränderbarkeit ins Bewusstsein zu holen. Aus dieser Perspektive kann eine radikale Kritik der Geschlechterordnung sich nicht nur auf der Ebene der symbolischen Repräsentation bewegen, sondern muss durch historische und systematische Analyse die Entstehung und Verfestigung der geschlechtlichen Arbeitsteilung und der dichotomen Geschlechtscharaktere nachvollziehen, sowie ihre Funktionalität im Gefüge der gesellschaftlichen Herrschaft begreifen, um ihre Hartnäckigkeit zu verstehen und ihr entgegenwirken zu können.

Wenn sich etwas nicht ändert, dann, dass Feminismus unrelevant und unaktuell wirkt, aus der Zeit gefallen, als würde er ein nicht-mehr-existierendes Problem ansprechen. Hängt das auch damit zusammen: Das Patriarchat – ein alter Hut, für FeministInnen wie auch für die sexistische Mehrheitsgesellschaft. Und wie kams dazu, dass sich hier Queer-Feminist_innen so eins sind mit unseren unfeministischen Großmüttern? Bzw: Sind sie sich wirklich eins?

Korinna: Oberflächlich gesehen sind sie sich natürlich überhaupt nicht einig. Über die prototypische Oma, die möchte, dass ihre Enkelin gut kochen lernt, einen guten Mann findet und hübsche lange Haare hat, kann die Queerfeministin natürlich nur mitleidig den Kopf schütteln. Darin ähnelt sie ihrer Mutter – wenn wir mal beim Generationenmodell bleiben wollen –, der Lila-Latzhosen-Emanze der 70er. Zu deren Zeiten war es bedeutend einfacher, das Patriarchat zu verfluchen: Frauen waren an Küche, Kinder, Kirche gefesselt. Die Zweite Frauenbewegung war getragen von der historisch einmaligen Erkenntnis sehr vieler Frauen in Westeuropa und Nordamerika, dass sie sich aufgrund ihres Geschlechts in einer beschissenen Lage befinden. Darum gingen sie auf die Straße. Diese Situation gibt es nicht mehr. Nicht zuletzt dank der Erfolge des Feminismus kam es zu einer Flexibilisierung der Geschlechterrollen – die im Übrigen eng mit den Forderungen des Arbeitsmarktes zusammenhing –, die immer mehr Frauen erlaubte zu studieren, in neue berufliche Felder vorzustoßen und z. B. als Lesbe oder Alleinerziehende weniger soziale Ächtung zu erfahren. Die Entwicklung, die Art und Weise ihrer Vergesellschaftung zunehmend selbst bestimmen zu können, kostete die Feministinnen jedoch das Bewusstsein, Unterdrückte zu sein. Es waren ja nicht mehr die Männer, die die Frauen an den Herd trieben – es wurde zu ihrer eigenen Entscheidung, dort zu stehen. Die Sehnsucht nach der Überwindung des weiblichen Opferstatus beförderte vielfach die neoliberale Ansicht, dass jede ihre Glückes Schmiedin sei, ergänzt um eine Prise Postmoderne, dass es sich dabei um ganz individuelle Glücksvorstellungen handele. Und so landete die emanzipierte Frau bei dem Credo, die Mehrfachbelastung auf ihren Schultern als ureigenste Entscheidung zu bejahen und dabei zu vergessen, dass es immer noch strukturelle Benachteiligungen und eine äußerst wirkmächtige weibliche Sozialisation sind, die ihre Entscheidungen prägen. Vielleicht kann es mit der historischen Entwicklung vergleichen, dass den ProletarierInnen irgendwann das Klassenbewusstsein abhanden gekommen ist? Folgerichtig weicht im Queerfeminismus ein Begriff von Frau, der Geschlecht als repressive Zwangsveranstaltung anklagt, emphatischen Identitätskonzepten. Das ging bei der differenzfeministischen Hexenbewegung der 80er los und führt direkt in das aktuelle Diversity-Gejubel, das sich über Ungleichheiten nicht mehr beklagt, sondern sie richtig gut findet. Geschlechtliche Zuordnungen werden zu individuellen und fürchterlich selbstbestimmten Merkmale umgewertet – und nicht mehr als per se gewaltförmige Kategorien betrachtet, zu denen die Einzelne mitsamt ihren Bedürfnissen immer schon in einem widersprüchlichen Verhältnis steht. Deshalb ist es sehr schwer, sich mit Queerfeministinnen z. B. über das gesellschaftliche Geworden-Sein von Begehrensformen oder über Essstörungen als gesellschaftlich hervorgebrachte Körperpathologien zu verständigen: Jegliche Erforschung von Ursachen und Bedingtheiten wird als unerträgliche Diskriminierung aufgenommen. In der Vorstellung, in ihrer Geschlechtlichkeit fremdbestimmt zu sein, Opfer zu sein – darin ist ihre Abwehrhaltung vielleicht ähnlich groß wie die unserer Großmütter. Das ist im Grunde ein abgefahrener historischer Verlauf:

Warum hält ihr also am Patriarchatsbegriff fest?

Korinna: Genau diese Entwicklung überzeugt mich davon, dass es unabdingbar ist, an den Anliegen des klassischen Feminismus festzuhalten. Natürlich müssen unsere Forderungen auf die veränderte gesellschaftliche Situation eingehen. Und der Feminismus muss sich kritisch befragen, inwieweit eine Interessenpolitik, die einmal von weißen Mittelständlerinnen formuliert wurde, noch gelten kann – ich meine, mittlerweile gibt es ja nicht einmal mehr diesen Mittelstand, oder? Aber bei aller Aktualisierung und Selbstkritik dürfen wir nicht vergessen, dass wir in einem längst globalisierten Patriarchat leben, das ohne die ganz alltägliche Unterdrückung und Selbstaufopferung von Frauen nicht funktioniert – auch wenn wir das alle im Bemühen, unser Leben gut in den Griff zu bekommen, nicht gerne hören. Letztlich geht es gerade heute darum, die kritische Perspektive aufs große Ganze nicht zu vernachlässigen. Feminismus ist ja nicht nur Identitätspolitik. Das Tolle am Feminismus ist, finde ich, gerade die ihm innewohnende Spannung zwischen Identitätspolitik und revolutionärer Perspektive: Bei der Abschaffung des Patriarchats geht es konkret um die Verbesserung der Lebens- und Wahlmöglichkeiten von Frauen – aber das ist gar nicht denkbar ohne den Kampf gegen Kapitalismus, Rassismus, Antisemitismus und Homophobie. Es geht um ein Leben, das unseren Bedürfnissen besser entspricht. Ich meine, der Feminismus hat verloren, wenn wir aufhören, an einer ganz umfassenden Patriarchatkritik festzuhalten.

Patriarchat ist ein so weit gefasster Begriff, allein wenn man Österreich/Deutschland der 1950er Jahre mit heute vergleicht – da hat sich ja schon unheimlich viel getan seither, was zb Schwangerschaftsabbruch, Scheidungsrecht, Arbeitsrecht betrifft. Anders gesagt: Was 1950 „Patriarchat“ war, ist heute etwas ganz Anderes. Inwiefern macht es Sinn, einen so breiten Begriff für so Spezifisches zu verwenden?

Korinna: Ich würde bei der Analyse des Patriarchats gern unterscheiden wollen, was auf der Erscheinungsebene stattfindet und was auf der strukturellen Ebene und wie diese Ebenen miteinander vermittelt sind. Meine These dazu ist – dabei argumentiere ich mit der Wert-Abspaltungs-Theorie von Roswitha Scholz –, dass sich in vielen Bereichen und temporär ziemlich viel verbessern kann, so auch an der rechtlichen Situation von Frauen, ohne dass das Patriarchat dadurch grundlegend außer Kraft gesetzt würde. Rein rechtlich ist die Gleichstellung der Geschlechter ja sowohl in Österreich als auch in Deutschland längst der Fall – wenn wir nur mit grundlegenden Verfassungsartikeln argumentieren würden, hätte es in der BRD sowie in der DDR schon seit 1949 kein Patriarchat mehr gegeben. Dabei ist es in den Lebensgeschichten unserer Mütter und Großmütter grellste Realität. Und ich möchte behaupten, dass auch die juristischen Reformen, die uns vor allem die Zweite Frauenbewegung beschert hat, uns nicht vom Patriarchat zu emanzipieren vermögen – begreift man das warenproduzierende Patriarchat als gesellschaftliches Formprinzip, das längst nicht in der Gesetzgebung aufgeht. Laut Scholz’ Theorie hat sich dies warenproduzierende Patriarchat als kapitalistische Totalität seit Beginn der Moderne im 18. Jh. durchgesetzt und bildet seitdem das herrschende Geschlechterverhältnis schlechthin. Es hängt eng mit der Wertvergesellschaftung und dem Zwang zur abstrakten Arbeit zusammen, die von Anfang an männlich konnotiert ist, während die Rolle der Frauen historisch auf den entstehenden privaten Bereich und damit auf Familie, Erziehung, Sexualität und Liebe enggeführt wird. Dieser – erst einmal sehr abstrakte – Patriarchatsbegriff muss auf der ökonomischen, juristischen, soziologischen und kulturellen Ebene bestimmt werden, und ich meine, auch auf der biologischen. In der konkreten Realität unterscheidet es sich natürlich, wie das Leben einer 30-Jährigen in Wien oder in Riad in Saudi-Arabien verläuft, wo es weder Demokratie noch Religionsfreiheit noch ein tragfähiges Sozialsystem gibt, das von der unmittelbaren Unterstützung durch die Familie unabhängig machen würde – wo also ganz andere frauenverachtende Zwänge herrschen als hierzulande. Und doch handelt es sich strukturell gesehen um verschiedene Ausprägungen derselben kapitalistischen Gesellschaft, die an sich zutiefst patriarchal ist. Um den globalen Charakter der kapitalistischen Frauenunterdrückung zu analysieren, ist ein materialistischer und universalistischer Patriarchatsbegriff also ganz unverzichtbar. Um zu zeigen, dass das Patriarchat nicht so schnell etwas „ganz Anderes“ wird, können wir auch bei deinen Beispielen bleiben: So ist der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland nach harten feministischen Kämpfen 1976 zwar liberalisiert worden, aber der entsprechende Paragraph existiert nach wie vor – der Staat gibt die Verfügungsgewalt über die reproduktive Fähigkeit von Frauenkörpern nicht aus der Hand. Und das geschlechtsspezifische Lohngefälle liegt in Deutschland bei 21%, in Österreich noch etwas höher – trotz Gleichbehandlungsgesetz.

Andere sagen: Kapitalismus ist geschlechtsneutral. Wer Arbeitskraftbehälter ist, ist dem Kapital wurscht. So kommt es zu einer Angleichung der Geschlechter, und die Errungenschaften der 1./2. Frauenbewegung werden als logische Folge des kapitalistischen Fortschritts verstanden. Kann man das wirklich widerlegen?

Charlotte: Naja erst mal kann man ja, wie Korinna schon erwähnt hat, immer noch empirisch sehr leicht zeigen, dass es mit dem geschlechtsneutralen Kapitalismus nicht so weit her ist. Frauen verdienen weniger als Männer, arbeiten auf einem geschlechtlich segmentierten Arbeitsmarkt, kümmern sich immer noch zu großen Teilen um die Kinder und leiden unter den verschiedenen Ausdrucksweisen des Sexismus, sei es durch die repressiven weiblichen Role Models oder den indirekten und direkten Angriffen ihrer männlichen Mitmenschen. Und alle müssen sich nach wie vor in zwei völlig beschränkte Geschlechtsidentitäten quetschen. All dies bleibt ja weiterhin erklärungsbedürftig. Mit dem Verweis auf den Kapitalismus, der irgendwann die Geschlechter schon nivellieren wird, ist nicht so viel gewonnen, immerhin ist das Geschlechterverhältnis, wie wir es kennen, erst mit der kapitalistischen Produktionsweise entstanden. Insofern scheint mir, der Kapitalismus selbst macht erst mal gar nichts einfach von sich aus, nur weil er fortschrittlich ist und die Produktivkräfte entfaltet. Kapitalismus heißt ja erstmal nur, dass die innere Dynamik der Gesellschaft auf der Kapitalverwertung beruht. Es stimmt schon, auf einer analytischen Ebene ist es dem Kapital wurscht, wen es ausbeutet, Hauptsache billig und diszipliniert. Aber das Kapital ist ja selbst ein gesellschaftliches Verhältnis und als dieses eingelassen in eine soziale Praxis, die nicht in ökonomischen Kategorien aufgeht. Insofern führt es in die Irre, Gesetzmäßigkeiten, die das Geschlechterverhältnis betreffen, aus dem Kapitalverhältnis abzuleiten. Ich würde es eher so formulieren, dass sich die kapitalistische Produktionsweise bisher ganz ausgezeichnet mit dem Patriarchat vertragen hat. Und sie wird dies auch weiterhin tun, solange die Menschen dem irrationalen Ganzen ohnmächtig gegenüberstehen, statt sich zu emanzipierten Individuen zu entwickeln.

Wenn man also die Errungenschaften der Zweiten Frauenbewegung mit der fortschrittlichen Tendenz des Kapitalismus abhakt, dann kommt mir das zu strukturalistisch vor, weil es absieht von den handelnden Subjekten und den Konflikten, die die Gesellschaft immer wieder produziert. Die Frauenbewegung war ja Folge von konkreten Leiderfahrungen und Wünschen der Frauen und als soziale Bewegung hatte sie ja durchaus gesellschaftliche Wirkungen und Folgen, die es sonst nicht gegeben hätte. Sicherlich versteht es die kapitalistische Gesellschaft ganz gut, solche Kämpfe zu integrieren, wie sie ja generell die gesellschaftlichen Widersprüche in eine Verlaufsform zu bringen vermag. Aber die revolutionären Momente der Frauenbewegung und auch der Queerbewegung, die über das Ganze hinauswiesen, die sind ja immer noch unabgegolten und warten noch darauf, verwirklicht zu werden. Außerdem ist nicht gesagt, dass diese Errungenschaften für immer Bestand haben: In gesellschaftlichen Krisenzeiten gab und gibt es immer auch große Sehnsucht nach den traditionellen rigiden Geschlechterrollen, wie man gut an rechtspopulistischen Bewegungen beobachten kann, die ihr Mackertum vor sich hertragen und gegen Abtreibung agitieren.

Inwiefern ist die Verschiebung niedrig gestellter Care Work hin zu Migrantinnen hier eine qualitative Veränderung? Wie muss diese mitberechnet werden? Kann sich die Rolle des Sexismus nicht auf andere Herrschaftsformen wie Rassismus umlegen? Was sagt das dann über Sexismus als Strukturprinzip des Kapitals aus?

Charlotte: Ich denke die Veränderung innerhalb der Care-Arbeit könnte man einmal mit den Trennungen innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen erklären und zum anderen mit der Stellung der Care-Arbeit innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Die Sorgearbeit ist ja erstmal ein Bereich, der bisher vor allem außerhalb des Verwertungsprozesses lag. D. h. die Form, in der Sorgearbeit erfolgte, um die Reproduktion der Arbeitskräfte zu sichern, war ihre Auslagerung in den privaten Bereich, in der die Frauen diese unbezahlt geleistet haben. Dieses Modell fing aber irgendwann an zu bröckeln, weil – sehr verkürzt gesagt – die Frauen nach mehr Autonomie strebten und es für das Kapital zu teuer wurde. Deswegen wurden z. B. einige dieser Care-Arbeiten als Dienstleistungen in die Form der Lohnarbeit überführt, und hier greift dann die innere Fragmentierung der Lohnabhängigenklasse. Die Lohnabhängigen gliedern sich ja nicht nur nach Qualifikation und Fähigkeiten sondern eben auch u. a. entlang des Geschlechts und der Herkunft. Ähnlich wie Frauen auf dem Arbeitsmarkt strukturell benachteiligt sind, so haben auch z. B. osteuropäische Arbeitskräfte schon von vornherein eine schlechtere Position aufgrund ihrer Stellung in der internationalen Arbeitsteilung. So sind es dann mehrheitlich weibliche und migrantische Arbeitskräfte, die sich hierzulande in schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs wiederfinden. In der Care-Arbeit treffen sich dann diese patriarchale und ethnisierende Strukturierung in einer Person. Wenn Frauen verstärkt Karriere machen und sich höher qualifizieren, muss es natürlich trotzdem Menschen geben, die die Sorgearbeit übernehmen. Und so übernimmt dann die Migrantin die Pflege-Arbeit zu einem beschissenen Lohn, die vorher unbezahlt von der Hausfrau geleistet wurde. Allgemein denke ich nicht, dass diese Klassengliederung etwas qualitativ Neues darstellt, die gibt es ja schon sehr lange. Aber bezogen auf den Care-Sektor gibt es in jedem Fall Verschiebungen, weil es hier überhaupt zu großen Veränderungen kam in den letzten Jahren und immer noch kommt.

Materialistische und poststrukturalistische Feminismen prallen in meiner Wahrnehmung erst in letzter Zeit aufeinander, das ist ein eher neues Phänomen in der deutschsprachigen Linken. Die Materialistinnen haben, denke ich, ein bisschen geschlafen, und kommen erst jetzt mit ihrer Kritik am Butler Hype hinterher. Teilt ihr das? Warum denkt ihr, sind die Materialistinnen jetzt aufgewacht? Oder ist das ein Zeichen der Schwäche der poststrukturalistischen Ansätze? Oder hat das nicht auch mit den weltweiten Ereignissen zu tun, zb Wirtschaftskrise, arabischer Frühling und islamistischer Terror, dass es IdealistInnen schwerer macht, nur von Sprache und Denken als Herrschaft/Macht zu sprechen?

Charlotte: Ja sicherlich ist der Poststrukturalismus so populär geworden, weil er einen Nerv getroffen hat und auf zeitgenössische Erfahrungen und Bedürfnisse gute Antworten gegeben. Insbesondere indem er sehr gekonnt und überzeugend den Wunsch jegliche geschlechtliche Zwangsidentität hinter sich zu lassen, auf die Spitze getrieben hat. Das war sicher für viele ein Befreiungsschlag. Trotzdem bleibt es die Schwäche des poststrukturalistischen Denkens, dass es zwar ein radikales Begehren formuliert, aber nicht wirklich benennen kann, warum es so schwierig ist, dieses im Hier und Jetzt zu verwirklichen und aus den starren Identitäten auszubrechen. Und vielleicht hast du Recht und die langatmigen ökonomischen und politischen Krisen rücken in den letzten Jahren die harte materielle Realität der Klassengesellschaft wieder stärker ins Bewusstsein der Feministinnen. Ich beobachte auch wieder verstärkt Diskussionen, die den poststrukturalistischen Rahmen sprengen, wie etwa ökonomiekritische Ansätze zeigen, und eben auch die inzwischen relativ breit geführte Care-Debatte. Die Care-Debatte schließt ja in gewisser Art an die Zweite Frauenbewegung an, insbesondere an die Hausarbeitsdebatte der 70er Jahre, indem sie nach der gesellschaftlichen Organisation der Sorgearbeit fragt. Und manche Vertreterinnen sind da durchaus radikal, wenn sie die Unvereinbarkeit von Kapitalismus und menschlichen Bedürfnissen betonen und eine Umwälzung der Gesellschaft zugunsten eben dieser Bedürfnisse fordern. Das sind vielleicht Ansätze für eine radikale Kritik, die auch die gesellschaftliche Praxis in den Blick nimmt. Allgemein habe ich aber eher das Gefühl, dass die Feministinnen, die es mit der Gesellschaftskritik ernst meinen, leider immer noch eher marginal sind.

In eurem Text „Natürlich gesellschaftlich?!“ hält ihr eine unausweichliche Natur, die dem Geschlechterbegriff inhärent wäre, hoch. Könnt ihr ausführen inwiefern dieser Naturbegriff ein anderer als der des Biologismus? Oder anders gefragt: Was ist am Begriff Geschlecht nicht dekonstruierbar?

Charlotte: Nach wie vor eine sehr schwierige Frage! Aber erstmal zum Unterschied von Natur und Biologismus. Letzterer definiert soziale Phänomene als natürliche und lässt sie damit erstarren. Er kann sie nicht mehr als historisch gewordene begreifen. Dagegen versuchen wir mit der Kritischen Theorie und Marx die Natur immer in ihrer gesellschaftlichen Vermittlung zu denken. D. h. dass der Mensch einerseits auf die Natur verwiesen ist. Andererseits haben wir es nie mit der Natur an sich zu tun, da sie immer schon überformt und gestaltet ist durch die soziale Praxis der Menschen. Auch die innere Natur, die sich in menschlichen Begehren und Bedürfnissen Geltung verschafft, drückt sich nie in reinster Form aus. Es gibt keinen Wunsch, der nicht schon den Stempel der Gesellschaft trägt. Aber ich würde dennoch immer betonen, dass das Begehren bedingt bleibt durch die Natur, nämlich durch körperliche Impulse, die nicht in der sozialen Interaktion aufgehen. Darin liegt ja genau die konflikthafte Beziehung zwischen Es, Ich und Über-Ich – psychoanalytisch gesprochen –, also zwischen Lust- und Realitätsprinzip. Bezogen auf das Geschlecht scheint mir dieses Verhältnis aber noch komplizierter zu sein. Ich denke, das Begehren selbst hat keine geschlechtliche Natur. Insofern finde ich hier weniger die Frage nach der Natur an sich relevant als vielmehr, wie sich im Prozess der Subjektwerdung immer wieder zwei Geschlechtscharaktere mit einem (meist) heterosexuellen Begehren herstellen. In welcher Weise sich also das Geschlechterverhältnis als Folge von verdrängtem Begehren beständig reproduziert und dabei notgedrungen andere Wünsche und Fantasien verdrängt werden müssen. Am Geschlecht nicht dekonstruierbar ist, denke ich, geht man von dieser Bedingtheit der Natur aus, dass die Gebärfunktion nicht allen Menschen zukommt. Aber beim heutigen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung und der Frage, wie man die Sorgearbeit, Kindererziehung und ähnliches organisieren kann, denke ich, spielt diese Frage eigentlich keine so große Rolle, weil diese Sachen eben nicht von der Natur abhängen, sondern von der gesellschaftlichen Praxis.

Korinna: Ich möchte an dieser Stelle noch das Konzept der Dekonstruktion angreifen. Dekonstruktion von Geschlecht, wie sie Butler und ihre queerfeministischen Adeptinnen hochhalten, bedeutet ja, die soziale Konstruiertheit von Geschlechtern zu entlarven und folglich ihre Abschaffung nicht nur zu fordern, sondern gleich zu praktizieren – vornehmlich auf der sprachlichen Ebene. Dann sagt man halt „weiblich sozialisierte Personen“ statt „Frauen“ und alle freuen sich, wie schön sie wieder das Geschlechterverhältnis dekonstruiert haben, nach dem Motto: Stell dir vor, es ist Patriarchat, und keiner spricht es aus! Die Kritik der benachteiligten weiblichen Subjektposition schlägt in bloße Verweigerung um, sich damit zu identifizieren. Dekonstruktion wird dann als Kritikform schlechthin praktiziert und trägt im schlimmsten Fall zur Verschleierung des patriarchalen Geschlechterverhältnisses bei. Was dann hinten runter fällt, ist ein Begriff von der historischen Gewordenheit des Geschlechterverhältnisses und vom damit verbundenen ideologischen Zwang, ohne den die vergeschlechtlichten Subjekte nicht zu denken sind. Nichts am Geschlecht ist also dekonstruierbar! Ich hab dich jetzt absichtlich ein bisschen missverstanden – ich glaube, du wolltest wissen, was am Geschlecht aufs Biologische reduzierbar ist, und darin bin ich mit Charlottes Antwort d’accord –, aber ich halte diesen Einwand für wichtig. Was uns von den Dekonstruktivistinnen trennt, ist nicht, dass wir den biologischen Anteil am Geschlechterverhältnis so sehr betonen wollen – sondern die Annahme, dass sich vom Zwang zur patriarchalen Zweigeschlechterordnung niemand lossagen kann. Dekonstruktivismus und Materialismus sind keine vereinbaren Konzepte.

Ihr führt mit Adornos und Horkheimers Begriff der Subjektkonstitution aus, dass das Ur-Dilemma das der Gegenüberstellung von Zivilisation und Natur ist – wenn ihr einen solchen Begriff des unentrinnbaren Naturzwangs einführt, stellt ihr dann nicht wieder diese Dichotomie her und setzt sie als unentrinnbar? Was wäre denn dann, die Vorstellung, der Natur eingedenk zu sein, in Adornos Begriffen?

Charlotte: Bezogen auf die letzten Punkte könnte man sagen, wäre der Natur eingedenk zu sein, dass zum einen die Subjekte sich nicht mehr in zwei Geschlechtsidentitäten zwängen müssen und dass das Begehren sich in vielfältigeren Formen ausdrücken könnte, wie es in der Queerbewegung ja auch schon hin und wieder aufgeblitzt ist. Und zum anderen hieße es vielleicht, dass die natürliche Bedingtheit der Körper, die die Fortpflanzungsfunktion einschließt, sich nicht in eine soziale Praxis verlängert, in der die eine Hälfte für Kinder und Küche zuständig ist und die andere Hälfte im Betrieb malochen muss, sondern sowohl reproduktive Tätigkeiten als auch sonstige notwendige Arbeiten nach Bedürfnissen und Fähigkeiten der Einzelnen organisiert sind. So würde ich dieses Eingedenken der Natur verstehen, dass man sich also nicht von der Natur emanzipiert, sondern sich in der sozialen Praxis die menschliche Naturbedingtheit mitreflektiert.

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