Über sexistische Normalzustände
People would like you more if you grew a beard
Artikel von “outside the box - Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik” in der chronik.LE-Broschüre “Leipziger Zustände”
Dieser Artikel soll darlegen, was Sexismus ist und was die Schwierigkeiten der Dokumentation sexistischer Vorfälle sind. Sexismus basiert auf der bipolaren Geschlechterkategorisierung in Mann und Frau. Unsere Kritik jedoch hat zur Grundlage, dass Geschlechter gesellschaftlich konstruiert sind.
Sexismus ist die Unterdrückung und Diskriminierung von Menschen aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung. Das klingt eindeutig – dennoch ist Sexismus nicht so leicht zu dokumentieren, wie diese Definition es nahelegt. Sexismus geht tiefer: Er ist als Bestandteil der Gesellschaft und mit ihrem Funktionieren verwoben und damit gesellschaftliche Normalität.
Wir leben in einer Gesellschaft, die Menschen ohne Ausweg in zwei verschiedene Geschlechter einteilt. Menschen werden entsprechend dieser biologistischen Kategorisierung stereotypisiert, und ihnen werden Rollen und Eigenschaften zugewiesen. In diesen Kategorien sind gesellschaftliche Erwartungen an das Verhalten und das Aussehen der Individuen verankert. Diese Erwartungen werden vorwiegend mit der Natur begründet – in Bezug auf das biologische Geschlecht soll es natürlich sein, sich so und so zu verhalten, diese und jene Eigenschaft zu haben, das andere Geschlecht zu lieben und sich fortzupflanzen. Populärwissenschaftliche Fernsehsendungen und Publikationen werden noch immer nicht müde, regelmäßig die Frage nach dem Unterschied zwischen Männern und Frauen zu stellen und dabei mit Gehirnvolumen zu argumentieren oder die Zweiteilung in Intelligenzquotient und EQ (Emotionale Intelligenz) vorzunehmen.
Mit der angeblichen Natürlichkeit der Kategorien entstehen sowohl eine vermeintliche Unentrinnbarkeit aus der Geschlechtsidentität als auch Zwänge und Gewaltstrukturen. Das ist Sexismus, der sich in mehreren Erscheinungen zeigt. Dazu zählen Sexismus gegen Frauen, Sexismus gegen Menschen, die sich nicht ohne weiteres als Frau oder Mann einordnen lassen oder wollen, sowie Homophobie1.
Diskriminierung von Frauen
Durch die patriarchalen2 Strukturen der Gesellschaft haben Männer eine Vormachtstellung inne. Die sexistische Diskriminierung von Frauen erlangt durch diese Macht eine viel größere Heftigkeit und Härte als die Vorurteile gegen Männer. Die Auswirkungen dieser Strukturen ziehen sich durch alle Lebensbereiche von Frauen und Mädchen. Eine Frau wird auf ihren weiblichen Körper reduziert, sexualisiert und zum Objekt herabgewürdigt.
Die Rolle der Frau wird als naturverbunden, passiv und emotional definiert. Und doch werden gleichzeitig alle Anforderungen der kapitalistischen Gesellschaft an sie gestellt, sie muss ihre Arbeitskraft veräußern und für die Reproduktion sorgen. Diese Rollenzuweisung ist gesellschaftlich anerkannt und wird mehrheitlich akzeptiert und reproduziert, aus ihr geht Diskriminierung hervor.
Offensichtlich ist der Anspruch der Gleichberechtigung von Männern und Frauen noch nicht erfüllt. Es ist auch heute noch so, dass bei gleicher Ausbildung, gleichem Alter, gleichem Beruf, an derselben Arbeitsstelle Frauen immer noch 22%3 weniger verdienen als Männer. Das ist nur ein Beispiel aus der Arbeitswelt.
Sexismus ist gesellschaftliche Normalität
Die Problematik, sexistische Vorfälle öffentlich zu machen, besteht darin, dass diese auch als solche erkannt werden müssen. Aus der gesellschaftlichen Normalität heraus erklärt sich ein mangelndes Problembewusstsein für sexistisches Verhalten. Ein „Frauenwitz“ unter Männern wird oft als harmloser Spaß abgetan, schafft sogar ein Einheitsgefühl in dieser Gruppe. Offen das Aussehen unbekannter weiblicher Personen zu kommentieren, ist selbstverständlich. Dabei wird ihnen die Körperlichkeit sogar noch als Vorteil angerechnet und die Frechheit als Kompliment verpackt. Die Diskriminierung betrifft paradoxerweise sowohl Frauen, die dem gesellschaftlichen Stereotyp entsprechen, als auch Frauen, die dieser Vorstellung in ihrem Aussehen, Auftreten, Verhalten und ihrer sexuellen Orientierung nicht entsprechen. Um diesen gesellschaftlichen Missstand anzugreifen, bedarf es des Bewusstseins darüber, welcher komplexen und allgegenwärtigen sexistischen Diskriminierung Frauen ausgesetzt sind.
Unter einem sexistischen Vorfall sind sexistische Äußerungen und Handlungen (erniedrigende Sprüche), sexistische Übergriffe (sexuelles Bedrängen, „Grabschen“) und sexuelle Gewalt zu verstehen. Bei jedem Fall von Sexismus findet eine Grenzüberschreitung statt, ein Eingreifen in die Intimsphäre, das immer verletzend ist. Eine weitere Erschwernis der Dokumentation ist die oftmals auftretende eigene Angst der betroffenen Person, nicht ernst genommen zu werden. Diese Angst muss überwunden werden, um die Diskriminierung öffentlich zu machen. Die betroffene Person muss gegen Angst, Scham, Drohungen und Missachtungen etc. angehen.
Sexismus ist Privatsache?!
Obwohl auch Frauen sich auf dem Arbeitsmarkt der Konkurrenz stellen müssen, hat die traditionelle Besetzung der privaten Sphäre mit dem Weiblichen und der öffentlichen Sphäre mit dem Männlichen Auswirkungen bis in die in Gegenwart. Übergriffe, die in privater Sphäre geschehen, bleiben unsichtbar, sofern sie nicht vom Opfer selbst angeklagt werden. Es gibt also nicht nur das Problem, dass Zeug_innen den Sexismus, also die gesellschaftliche Gewalt, die hinter einem Übergriff steht, verkennen, meist gibt es gar keine Zeug_innen. Der Übergriff wird als Privatsache abgetan. Geht es um etwas Intimes und vermeintlich sehr Persönliches – nämlich Sexualität – wagt es kaum jemand, den Freund oder Bekannten als übergriffig, also Grenzen überschreitend, zu verurteilen.
Die betroffenen Personen müssen also mit ihren intimen Verletzungen in die Öffentlichkeit gehen und somit auch einen Teil der eigenen Intimität preisgeben. In dieser Gesellschaft können Frauen nicht davon ausgehen, dass die Mehrheit ihr mit Verständnis über die erlittene Demütigung begegnen wird. Nicht nur das Erkennen der Schwere der Demütigung oder der Verletzung ist ein Problem, sondern auch das Anerkennen. So wird zum Beispiel einer Frau, die Opfer eines sexistischen Übergriffs geworden ist, oft vermittelt, sie selbst trage Mitschuld daran, denn sie habe ja beispielsweise einen provokativ kurzen Minirock getragen. Auf diese Weise kommt es nicht selten zur Fortsetzung der sexistischen Demütigung oder – im schlimmsten Fall – zu einer Re-Traumatisierung.
Verschränkungen der Diskriminierung und Heterosexismus
Frauen, die nicht wie der westeuropäischen (weißen) Mehrheitsgesellschaft zugehörig aussehen, sind im Alltag oft mit doppelter Diskriminierung konfrontiert. Rassistische Angriffe gegen Frauen sind meistens gleichzeitig sexistisch konnotiert. Neben der sexistischen Bedrohung werden die betroffenen Frauen rassistisch zusätzlich herabgewürdigt. Sexismus transportiert gesellschaftliche Gewalt und wird in der Regel nicht als abweichendes Verhalten betrachtet. So steht die Gesellschaft hinter dem verletzenden Handeln des Sexisten – dieser wird zwar nicht rein rechtlich, zumindest aber strukturell geschützt. Erfahrungen mit Sexismus haben alle Frauen gemacht und schränken daher ihre Freiheiten aus Angst oder Unwohlsein ein. Situationen werden vorsorglich vermieden – die eine fühlt sich unter taxierenden Blicken im Schwimmbad unwohl, die andere geht nachts nicht allein nach Hause und so weiter. Mit den Geschlechterzuschreibungen geht die Festlegung von Heterosexualität als der „normalen“, das heißt anerkannten und akzeptierten Sexualität einher. Homophobie steht also in Zusammenhang mit Sexismus und meint die Abneigung gegen gleichgeschlechtliche Liebe und Diskriminierung von nicht heterosexuellen oder als nicht heterosexuell erscheinenden Menschen.
Auch bei heterosexistischem Verhalten ist gesellschaftliche Gewalt hinter dem Natürlichkeitsdogma des Geschlechterdualismus zu erkennen. Zum Beispiel wird schwul als Schimpfwort gebraucht oder heterosexuelle Menschen nehmen sich das Recht heraus, nicht heterosexuelle Menschen nach ihrer sexuellen Orientierung zu fragen. Umgekehrt wird Heterosexualität nicht abgefragt, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt, wodurch sie als Normalität reproduziert wird. Heterosexuelle Menschen werden in den wenigsten Fällen dazu aufgefordert, offen ihre sexuellen Vorlieben zu besprechen. Die eigene Sexualität von heterosexuellen Menschen ist gar nicht Thema, schließlich gehört sie zur bürgerlichen Identität bereits dazu. Zur alltäglichen Diskriminierung Homosexueller kommt noch strukturelle, bzw. rechtliche Diskriminierung hinzu. So werden homosexuelle Menschen benachteiligt (zum Beispiel juristische Ungleichbehandlung homosexueller Paare), im schlimmsten Fall sogar gewalttätig angegangen.
Die Dokumentation
Die Dokumentation sexistischer Vorfälle ist von großer Wichtigkeit. Sie kann zu größerer Sensibilität und Aufmerksamkeit gegenüber Sexismus und den Strukturen der Gesellschaft beitragen. Doch gerade diese Sensibilität kann nur erreicht werden, wenn der sexistische Normalzustand und seine Allgegenwärtigkeit in der Gesellschaft erkannt und hinterfragt wird, wobei auch jedem und jeder die eigene Verwicklung in dessen Reproduktion bewusst sein muss.
Für Kritiker_innen am Sexismus gilt dasselbe, wie für alle Kritik: sie wird als Angriff auf die Normalität angesehen und herabgewürdigt, und diejenigen, denen die Aufrechterhaltung des Normalen am Herzen liegt, entwickeln ungeahnte Kräfte, um gegen die Kritik anzugehen. Dieser Mechanismus kann im Fall eines sexistischen Übergriffs nicht nur Intervenierende und Zeug_innen treffen, sondern auch die betroffene Person selbst, wenn sie weder ihre Gefühle verschweigen, noch die Tat verharmlosen will. So ist das Anzeigen eines Vorfalls immer auch ein Spießrutenlauf.
-
Der Begriff Homophobie wird später noch erläutert. ↩
-
Patriarchal meint vom Mann beherrscht bzw. vom Mann bestimmt. ↩
-
Vgl. EU - Bericht Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den europäischen Wirtschafts - und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Bekämpfung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles von 2007 ↩