Redaktion outside the box

Interview von inside the fox mit "Solidarisch gegen Corona"

August 2020

Inside the Fox: Euren Blog “Solidarisch gegen Corona” gibt es seit Mitte März 2020. Wie kamt ihr zu diesem Zeitpunkt auf die Idee, soziale Kämpfe, Arbeits- und Klassenkämpfe während der Corona-Pandemie zu dokumentieren?

Solidarisch gegen Corona: In der ersten Märzhälfte ging es uns wie vielen anderen auch: es gab in diesen Tagen irgendwann einen Moment, an dem man realisiert hat, dass die Corona-Pandemie das eigene Leben unmittelbar betrifft und radikal ändern wird. Sei es ganz direkt dadurch, dass man selbst oder liebe Menschen krank werden würden oder durch die enormen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, die sich in rasantem Tempo einstellten. In den Medien jagten sich Berichte über den Zusammenbruch der Versorgung in italienischen Krankenhäusern, über Grenzschließungen und den Sturz der Börsenkurse. Schnell zeichnete sich ab, dass die Pandemie eine langwierige Krise auslösen wird, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen der ungeheuren Mehrzahl weiter zu verschlechtern droht. Diese Eindrücke und Ereignisse haben uns dazu bewogen, den Blog ins Leben zu rufen. Das hatte auch eine existenzielle Dimension. Jedes bedrohliche Ereignis dieser Größenordnung birgt die Gefahr, in Angst und Lähmung zu erstarren. Doch die Pandemie brachte zusätzlich durch die Kontaktbeschränkungen einen Schub zur Atomisierung mit sich, so dass man tendenziell auf sich selbst zurückgeworfen war: das öffentliche Leben wurde weitgehend eingefroren, Orte fielen weg, Treffen mit Menschen außerhalb des eigenen Haushalts wurden kriminalisiert. „Zieh dich auf deine vier Wände und den (familiären) Nahbereich zurück, halt dich an die Vorschriften und schalt die Tageschau ein, wir regeln das“, so lässt sich die Botschaft des Staates zusammenfassen.

Als Ziel unserer Arbeit im inhaltlichen Sinne kristallisierte sich die Schaffung einer Gegenöffentlichkeit heraus.

Wir wollten uns aber nicht in die Isolation und die verordnete Passivität schicken und haben uns daher online zusammengefunden. Das war ein Moment der Selbstermächtigung. Wir wollten unserem Bedürfnis nach Austausch einen Rahmen geben und eine Form finden, um kollektiv unter den veränderten Bedingungen ins politische Geschehen intervenieren zu können. Als Ziel unserer Arbeit im inhaltlichen Sinne kristallisierte sich die Schaffung einer Gegenöffentlichkeit heraus. Während die offiziellen Stellen das Virus als Herausforderung für die nationale Gemeinschaft präsentieren, geht es uns darum, auf das riesige Konfliktpotential dieser Situation aufmerksam zu machen. Denn wenn eine Pandemie auf die kapitalistische Klassengesellschaft trifft sitzen eben nicht plötzlich alle im selben Boot. Im Gegenteil: es kommt zur Verschärfung bereits zuvor bestehender Ungleichheit. Wer zuvor schon in prekären, schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs gearbeitet hat, erhält jetzt schnell die Kündigung oder muss sich einem zusätzlichen Gesundheitsrisiko aussetzen. Wer zuvor bereits in einem Lager auf engem Raum untergebracht war, ist jetzt aufgrund dieser schlechten Unterbringung besonderer Ansteckungsgefahr ausgesetzt. Wer zuvor bereits für einen Großteil der Sorgearbeit zuständig war, muss jetzt im Zuge der Schließung von Kitas und Kantinen die schlagartige Reprivatisierung der entsprechenden Arbeiten irgendwie zu Hause auffangen. Es geht uns darum, diese Konfliktlinien aufzuspüren, ihre Verbindungen zu verstehen und die sich entwickelnden Auseinandersetzungen und Kämpfe entlang dieser Linien zu dokumentieren. Dabei versuchen wir, entgegen dem Trend zum nationalen Egoismus in der Pandemie, deren globale Dimension zu berücksichtigen. Über die Dokumentation hinaus streben wir an, die Ereignisse zu begreifen. Wir halten es für sehr wichtig eigene Deutungen der Pandemie auf wissenschaftlicher Grundlage zu erarbeiten, um nicht dem Mythos der Naturkatastrophe oder des ganz und gar unverständlichen Schicksalsschlags aufzusitzen, der quasi von außen in die Gesellschaft eingebrochen ist. Als Blogprojekt sind wir hauptsächlich mit Texten beschäftigt. Es ist uns natürlich bewusst, dass wir durch einen reinen Kampf um die Köpfe die materielle Macht der herrschenden Klasse nicht brechen können. Gleichwohl ist dieser Kampf um die Interpretation der Wirklichkeit unverzichtbar. Bei einem zentralen historischen Ereignis wie der Pandemie und der anschließenden Weltwirtschaftskrise können wir nicht die Erzählungen bürgerlicher Medien und PolitikerInnen übernehmen, die alles tun, um die kapitalistische Produktionsweise als Katalysator der Katastrophe aus der Schusslinie zu bringen. Wir haben den Eindruck, dass sich in den letzten Monaten das Bedürfnis einer politischen Diskussion über gesellschaftliche Ursachen, Reaktionsweisen und Folgen der Pandemie entwickelte – eine Debatte, die über den engen Gesichtspunkt des virologischen Expertentums hinausgehen muss. Die Londoner Angry Workers of the World sprachen in einem Beitrag auf unserem Blog von dem großen Entmystifizierungspotential dieser Krise. Während sich die sozioökonomische Situation der Proletarisierten global verheerend entwickelt, bietet die Entwicklung dieses Bewusstseins einen Lichtblick.

Inside the Fox: Konntet ihr Entwicklungen der Kämpfe in der Zeit eurer Dokumentation feststellen?

Solidarisch gegen Corona: Ja, es lassen sich Entwicklungen feststellen. Im Verlauf der Pandemie haben wir ganz verschiedene Subjekte und Kämpfe gesehen, in denen es um spezifische Anliegen ging. Das hat einerseits damit zu tun, dass die Lohnabhängigenklasse in sich sehr heterogen ist, so dass beispielsweise eine Angestellte, die Homeoffice und Homeschooling irgendwie unter einen Hut bringen muss, eine ganz andere Arbeits- und Lebensrealität hat, als ein migrantischer Spargelstecher in einer Containerunterkunft. Andererseits hängt das aber auch damit zusammen, dass sich in verschiedenen Phasen der Pandemie und der Pandemiebekämpfung verschiedene Schwierigkeiten ergeben, die zu Protest anregen.

Die ersten Kämpfe brachen Anfang März in den Knästen aus, in Italien gab es in 27 Gefängnissen Revolten, weltweit folgten unzählige weitere.

Es gilt also die Veränderungen auf der Zeitschiene in ihrem Zusammenspiel mit der Vielfalt sozialer Lagen innerhalb der Klasse zu betrachten. Bei aller Diversität lassen sich aber auch übergreifende Interessen ausmachen: verschiedene Segmente der Klasse sind in ihren Kämpfen umgetrieben von der Sorge um die Gesundheit einerseits, der Sorge um das Einkommen andererseits – ohne dass diese geteilten Interessen bisher zu einer übergreifenden Klassenbewegung geführt hätten, die die lokalen und fragmentierten Auseinandersetzungen verbände. Die ersten Kämpfe brachen Anfang März in den Knästen aus, in Italien gab es in 27 Gefängnissen Revolten, weltweit folgten unzählige weitere. Dabei geht es um Zugang zu sicherer Unterbringung, Aufklärung und medizinischer Versorgung. Gefängnisse und andere geschlossene Einrichtungen wie Altenheime, Militär- und Kreuzfahrtschiffe und Geflüchtetenunterkünfte haben sich überall als Hotspots des Infektionsgeschehens herausgestellt. Es gab kurz darauf auch eine Welle von Kämpfen von ArbeiterInnen v.a. in stark betroffenen Ländern wie Italien, die einen sofortigen Produktionsstopp in nicht-notwendigen Branchen (Automobil, Callcenter, Flugzeugbau etc.) forderten. Oder sie forderten eine Umgestaltung der Arbeit nach Maßgaben des Gesundheitsschutzes, etwa ausrechende Schutzkleidung, Trennung von Schichten zur Kontaktverminderung etc. Sehr sporadisch gab es auch Initiativen von ArbeiterInnen, die Produktion in „ihren“ Betrieben auf andere, akut nützliche Güter wie Beatmungsgeräte umzustellen.

Da sich viele auch die Miete nicht mehr leisten konnten, entwickelten sich etwa in Spanien und den USA Ansätze zu Mietstreiks, die die ohnehin stattfindenden massiven Ausfälle der Mietzahlungen in eine offensive, kollektive Form überführen wollen.

In diesen Kämpfen stand der Gesundheitsschutz im Vordergrund. Schon kurze Zeit später zeigte sich aber, dass viele Lohnabhängige in der Pandemie in einer Zwickmühle sitzen: Haben sie Arbeit, dann riskieren sie in vielen Arbeitsverhältnissen eine Infektion; haben sie keine Arbeit, dann fehlt ganz schnell das Geld für das Nötigste. Es ist eine Wahl zwischen Pest und Cholera, bzw. Corona und dem Hungertod. Viele informell Beschäftigte hatten von einem auf den anderen Tag kein Einkommen mehr. In Süditalien, aber auch in Südafrika, Mittelamerika usw. kam es daher zu Plünderungen und der direkten Aneignung lebensnotwendiger Güter in Supermärkten. Da sich viele auch die Miete nicht mehr leisten konnten, entwickelten sich etwa in Spanien und den USA Ansätze zu Mietstreiks, die die ohnehin stattfindenden massiven Ausfälle der Mietzahlungen in eine offensive, kollektive Form überführen wollen. Vielerorts setzte der Staat zwar im Namen der Gesundheit einen repressiven Lockdown durch und nahm vielen ihre Einkommensmöglichkeiten, garantierte aber gleichzeitig keine Versorgung mit dem Lebensnotwendigen – ein solcher Gesundheitsschutz ohne Essen und Dach überm Kopf ist natürlich eine Farce. Eine direkte Antwort auf die staatliche Repression waren die Riots. In Indien und zahlreichen weiteren Ländern kam es zu Scharmützeln mit der Polizei, die etwa arbeitslos gewordene WanderarbeiterInnen gewaltsam davon abhalten wollte, sich in ihre Herkunftsdörfer zu begeben. Auch in den französischen Banlieus, wo viele arme Menschen auf engem Raum leben und Polizeischikanen Alltag sind, achtete der Staat verstärkt auf die Einhaltung der Kontaktbestimmungen. In diesem Klima kam es hier im April zu einer Welle von Riots im Zusammenhang mit rassistischer Polizeigewalt. Das war ein Vorgeschmack auf die antirassistische Protestwelle im Mai / Juni nach der Ermordung von George Floyd und die Jugendkrawalle in Stuttgart. Selbstorganisierte Nachbarschaftshilfen haben vielerorts versucht, Versorgungslücken aller Art auszufüllen. Diese Praxis gegenseitiger Hilfe hat Wurzeln in der anarchistischen Tradition.

Vielerorts setzte der Staat zwar im Namen der Gesundheit einen repressiven Lockdown durch und nahm vielen ihre Einkommensmöglichkeiten, garantierte aber gleichzeitig keine Versorgung mit dem Lebensnotwendigen.

Es geht darum, ausgehend von der lokalen Ebene ein soziales Gemeinwesen demokratisch „von unten“ aufzubauen und dadurch den Staat überflüssig zu machen. Teilweise waren diese Netzwerke aber auch ganz apolitische Veranstaltungen, die bei Vorstellungen individueller Nächstenliebe und Zivilcourage stehen blieben.
Erwähnung finden sollten auch die Proteste gegen den Lockdown, die in Deutschland als „Hygienedemos“ bekannt sind. In rechtspopulistisch regierten Ländern wie den USA und Brasilien werden sie von der Regierung angedreht, in Deutschland läuft das eher in der politischen Schmuddelecke. Insgesamt sind das sehr diffuse Proteste mit einer libertären Grundausrichtung, wozu sich häufig esoterische und antisemitische Versatzstücke gesellen. Wenn man diese Proteste nicht ausschließlich auf der Ebene von Ideologie und Sozialpsychologie betrachtet, sondern nach materiellen Motiven fragt, landet man wieder bei dem oben angesprochenen Dilemma von Krankheitsrisiko und Einkommensausfall: ein schneller „Exit“ aus dem „Lockdown“ stellt sich gerade für die stark vertretenen Selbständigen als geringeres Übel dar, wenn die eigene wirtschaftliche Existenz bedroht ist. Warum soll ich meinen Wohlstand für die Gesundheit der alten und kranken opfern? Vom Egoismus der kapitalistischen Konkurrenz ist es zum Sozialdarwinismus nicht weit. Dennoch wird die populistische Behauptung, der Lockdown sei nicht im Interesse der „kleinen Leute“ durch die Tatsache konterkariert, dass es auch im Verlauf der Pandemie noch Aktionen von ArbeiterInnen für besseren Gesundheitsschutz und gegen eine übereilte Rückkehr zum Normalbetrieb gab. So traten etwa BusfahrerInnen in Brüssel Mitte Mai in einen wilden Streik gegen eine Wiederaufnahme der gewohnten, engmaschigeren Fahrpläne, die eine Einhaltung der Schutzvorkehrungen verunmöglichten. In letzter Zeit tritt vielerorts die ökonomische Krise in den Kämpfen in den Vordergrund. Besonders in der Peripherie kommt es vermehrt zu Protesten gegen Massenentlassungen, etwa in Ländern wie Bangladesch, wo die billigen Konsumgüter für den Weltmarkt produziert werden. Das sind übrigens nur die sichtbaren, kollektiven Kampfformen. Es gibt daneben auch verdeckte Formen, in denen ArbeiterInnen sich schützen oder eine Verbesserung ihrer Bedingungen erzwungen haben. Zum Beispiel das massenhafte Krankfeiern, das durch den Krankenschein per Telefon in der BRD ziemlich leicht war. Christian Frings hat darauf hingewiesen, dass auch die hohen Krankenstände Supermärkte und Krankenhäuser dazu bewogen, Prämien an die die ArbeiterInnen zu zahlen. Auch Amazon musste zeitweilig international den Lohn anheben, um die Leute bei der Stange zu halten. Das sollte nicht als freiwillige milde Gabe missverstanden werden.

Andrea Truman äußerte kürzlich in der Jungle World die weitergehende Hoffnung, die Erfahrung von Müttern in der Coronakrise könne der Antrieb einer neuen, breiteren Frauenbewegung werden.

Eine ganz andere Frage ist, wie die Konflikte um die weitgehend reprivatisierte Sorgearbeit in den Familien und Sorgegemeinschaften geführt werden. Zwar war das Thema geschlechtliche Arbeitsteilung medial schnell recht präsent, Ansätze zu kollektiven Kämpfe im Sinne eines koordinierten feministischen Streiks, die es in den letzten Jahren ja durchaus gab, haben wir jedoch bislang kaum wahrgenommen. Sicher gab und gibt es hier viele mikrologische Auseinandersetzungen in den jeweiligen Beziehungen. Als solche blieben sie aber weitgehend unter dem Radar der politischen Öffentlichkeit. Umso wichtiger sind die Versuche, das Private zu politisieren, was etwa die Wiener Gruppe Aufstand der Alleinerziehenden gemacht hat. Andrea Truman äußerte kürzlich in der Jungle World die weitergehende Hoffnung, die Erfahrung von Müttern in der Coronakrise könne der Antrieb einer neuen, breiteren Frauenbewegung werden. Das wäre wünschenswert.

Inside the Fox: Welcher konkrete Kampf, welche konkrete Aktion ist euch besonders aufgefallen?

Solidarisch gegen Corona: Es gab zwei Aktionen, die wir besonders bemerkenswert fanden: im April kam es zur Besetzung einer ehemaligen McDonalds Filiale in Marseille durch Angestellte, zur Umwandlung des Lokals in einen Knotenpunkt für die Nachbarschaftshilfe in den umliegenden proletarischen Vierteln. Im Mai kam es in Minneapolis zu einer ähnlichen Aktion: die Besetzung eines Hotels und seine Umwandlung in eine Obdachlosenunterkunft. Schön an diesen Aktionen ist zunächst natürlich, dass hier Leute in einer Notsituation nicht einfach versuchen ihre eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen nach dem Motto „Rette sich wer kann“, sondern sich zusammentun und gegenseitig unterstützen. Diese Situationen enthalten aber noch viel mehr! Es ist faszinierend, dass die Lohnabhängigen über die dienende, ausführende Rolle hinauswachsen, die ihnen in einem kapitalistischen Betrieb zukommt. Der antike Philosoph Aristoteles sprach ja von Sklaven als sprechenden Werkzeugen. Man kann das zynisch finden und moralisch verurteilen, aber das interessante daran ist, dass es die Perspektive der herrschenden Klasse auf die Ausgebeuteten offenlegt: sie sind dafür da, um willfährig einem fremden Zweck zu dienen, nämlich dem des Eigentümers. Und dann kommt der Moment, an dem diese Ausführenden gemeinsam und praktisch mit der Vorstellung brechen, sie seien bloße Werkzeuge, die dafür da sind Burger zu braten und Kunden anzulächeln, um damit die Taschen der Eigentümer zu füllen. In dem Moment, in dem sie den Laden für die Nachbarschaftshilfe umfunktionieren setzten sie sich selber den Zweck ihres Tuns. Und der letzte Zweck ihres Tuns besteht jetzt nicht mehr darin, mit der Zubereitung von Lebensmitteln mehr Geld für irgendwelche Eigentümer rauszuholen bzw. darin, mit dem Lohn irgendwie selbst über die Runden zu kommen, sondern es geht jetzt darum, mit diesen Lebensmitteln den Hunger von Bedürftigen zu stillen bzw. darum, etwas zu tun, dessen Sinn und Notwendigkeit man selbst einsieht. Sie kommen auch aus der Individualisierung heraus, in die sie das Lohnverhältnis bringt, wo es die Vorgesetzten sind, die den Einzelnen sagen, was sie tun sollen und wo der Unternehmer immer versuchen wird, die Kooperation im Betrieb so zu gestalten, dass die Angestellten ihre kollektive Macht nicht wahrnehmen. Das Management versteht sich in der Regel als Hirn, das plant, entscheidet und den Überblick hat, während die ArbeiterInnen die Hände sind, die nur ihren kleinen Bereich haben, in dem sie funktionieren sollen. Doch in dieser Situation muss eine qualitativ neuartige Kooperation entstehen, es muss ein neuer organisatorischer Zusammenhang selbst geschaffen werden. Das erfordert eine andere Art der Kommunikation, neue Formen der Entscheidungsfindung usw., wodurch sich die Beziehungen untereinander, die Fähigkeiten und Selbstverständnisse verändern können.

In Situationen wie denen in Marseille missachten die Proletarisierten dieses gesellschaftliche Tabu und übertreten auch die Gesetze, die das Eigentum schützen.

Auch das Verhältnis zu den Dingen ändert sich. Es werden neue Nutzungsmöglichkeiten entdeckt. Das Privateigentum bedeutet ja, dass die Proletarisierten von ihm ausgeschlossen sind. Sie haben nicht zu entscheiden, was mit den Dingen geschieht. Ob die Maschinen in einer Fabrik zur Produktion von Gewehren oder von Fahrrädern dient, darüber haben diejenigen nicht zu entscheiden, die diese Gegenstände tagtäglich herstellen. In Situationen wie denen in Marseille missachten die Proletarisierten dieses gesellschaftliche Tabu und übertreten auch die Gesetze, die das Eigentum schützen. Diese Überschreitung löst auch die Dinge aus ihren erstarrten Funktionszusammenhängen heraus, neue Gebrauchswerte werden entdeckt. Besonders interessant waren also Aktionen die zum Vorschein brachten, dass in den Menschen und ihren Beziehungen zueinander, aber auch in den Dingen und Orten Potentiale schlummern, die im Normalvollzug der kapitalistischen Gesellschaft verkümmern. Darum geht von diesen Geschichten eine große Faszination aus, was sich auch in der Resonanz gezeigt hat, die die entsprechenden Beiträge auf unserem Blog erhielten.

Inside the Fox: Welche Art von Feedback habt ihr bisher auf eure Arbeit erhalten? Gab es auch Kritik?

Solidarisch gegen Corona: Wir haben eine Weile lang recht viel Aufmerksamkeit erhalten und das Feedback war überwiegend sehr positiv. Kritik gab es aber auch, sie entzündete sich vor allem an zwei Plakaten, die wir im März gestaltet haben. Darauf haben wir einerseits einige Einschätzungen der Situation knapp zusammengefasst, andererseits ein paar allgemeine Verhaltensempfehlungen, sowie politische Forderungen formuliert. Diese Plakate wurden online viel geteilt, die Druckvorlagen in verschiedenen Sprachen wurden von unserem Blog heruntergeladen und in zahlreichen Städten teilweise sehr rege dezentral verklebt. Wir haben damit einen Nerv getroffen.

Sollte man Forderungen aufstellen und an wen kann man diese Forderungen adressieren? Welchen Stellenwert hat die Forderung nach dem Schutz individueller Grundrechte im Verhältnis zu ökonomischen und sozialen Aspekten?

Gleichzeitig stieß dieser Agitationsversuch in unserem eigenen Milieu auch auf Kritik. Es wurden viele Fragen aufgeworfen, wie: Wer spricht da und für wen? Sollte man Forderungen aufstellen und an wen kann man diese Forderungen adressieren? Nähren (diese) Forderungen Illusionen bezüglich des Staates? Mit welchen Druck- und Machtmitteln soll diesen Forderungen Nachdruck verliehen werden? Wie ist das Blogprojekt an lokale Solidaritätsstrukturen angebunden? Ist Solidarität ein Wert, der die Arbeit trägt, oder leistet das Projekt praktische Hilfe? Welchen Stellenwert hat die Forderung nach dem Schutz individueller Grundrechte im Verhältnis zu ökonomischen und sozialen Aspekten? In welchem Verhältnis stehen unmittelbar dringliche Notforderungen zu einer langfristigen politischen Strategie, zu Reformen und dem Ziel einer sozialen Revolution? Wir haben uns mit diesen Fragen auseinandergesetzt, doch wir wollten uns nicht in Grundsatzdiskussionen verlieren, sondern gleichzeitig am Geschehen dranbleiben, auch ohne letztgültige Klärung der allgemeinen Fragen. Es blieb aber eine Verunsicherung und die Angst davor, „etwas falsch zu machen“ trug sicher dazu bei, dass wir uns ab April auf die Redaktionsarbeit konzentriert haben. Die stärker politisch-agitatorische Arbeit trat demgegenüber zurück. Einige Monate später stellt nun Gerhard Hanloser in seinem Bericht von der Berliner Hygienedemo am 1. August fest, dass in der marxistischen Linken zwar sehr viele richtige Analysen zur Corona-Krise zirkulieren, diese jedoch nicht lebensweltlich für andere erfahrbar wurden. Er spricht in diesem Zusammenhang vom Rückzug der radikalen Linken in die Internetwelt der Corona-Blogs. Daran ist lediglich die Suggestion falsch, es handle sich lediglich um eine nicht notwendige taktische Fehlentscheidung, so als hätten KommunistInnen im März durch die Einrichtung von Blogs die Möglichkeit verpasst, alles zum Guten zu wenden. Aber gab die Verfasstheit dieses politischen Milieus vor der Krise wirklich etwas grundlegend Anderes her? Zu fragen wäre anlässlich der Erfahrung politischer Bedeutungslosigkeit der in der Pandemie gerade, warum die Einrichtung eines Blogs noch zum Besten gehört, was wir in einer welthistorischen Krise hinbekommen, was das über den allgemeinen Zustand unserer Sache aussagt und wie wir mittel- und langfristig Wege finden können, um mit größerer Wirkmacht ins Geschehen eingreifen zu können. Sowohl das aktivistische Schnellschießen, als auch sein Gegenstück, der Rückzug in die kontemplative Haltung des Kritikers, sind Ausdruck der gleichen desolaten Ausgangssituation, in der sich die Unsrigen heute befinden.

Inside the Fox: Danke für das Interview.

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